Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Zukunftsaussichten (4/4)
Lesen und Schreiben in der Zukunft

Literatur als Erkenntnismaschine: Schriftstellerinnen und Schriftsteller suchen Antworten in einer Welt zwischen Digitalisierung und der Weltflucht ins Analoge. In ihren Essays überlegen sie, wen wir in den literarischen Kanon aufnehmen werden und wie wir in Zukunft lesen und schreiben werden.

Von Katharina Schultens, Nicole Seifert und Stefan Petermann | 28.08.2022
Bücherstapel
Welche Bücher begleiten uns in die Zukunft? (PantherMedia / Sergiy Tryapitsyn)
Im Rahmen des Festivals „Und seitab liegt die Stadt“ haben die Schriftstellerinnen Shida Bazyar und Emma Braslavsky zur Diskussion über das Thema „Zukunft“ geladen. Die Essays wurden im Mai 2022 im Literarischen Colloquium Berlin von den Autorinnen und Autoren vorgestellt. Deutschlandfunk Essay und Diskurs präsentiert ein Labor, in dem sich schon jetzt Alternativen für spätere Lebensweisen austesten lassen und die unterschiedlichsten Perspektiven über den Fortgang der Menschheit zur Sprache kommen.
Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller machten sich Gedanken über den Stand der Globalisierung und die deutsche Identität in der Migrationsgesellschaft. Sie prüfen, wieviel Individualismus und Gemeinsinn der Gesellschaft zuträglich sind. Sie entwerfen Konzepte zur Ernährung der Menschheit und zu einem nachhaltigen Wirtschaften in lebenswerten Städten. Sie suchen Antworten in einer Welt zwischen Digitalisierung und der Weltflucht ins Analoge. Sie überlegen, wen wir in den literarischen Kanon aufnehmen werden und wie wir in Zukunft lesen und schreiben werden. 
„Und seitab liegt die Stadt“ ist eine Initiative der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und des Literarischen Colloquiums Berlin. Sie wird gefördert im Rahmen des BKM-Förderprogramms Kultur in ländlichen Räumen. Die Mittel stammen aus dem Bundesprogramm Ländliche Entwicklung (BULE) des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. 

Pascal Fischer: Mit Pascal Fischer am Mikrofon und der Frage, was wir in Zukunft lesen werden: Dieselben Texte wie in der Vergangenheit? Die nach Kriterien ausgesucht worden sind, die heute gar nicht mehr die unseren sind?
Essay und Diskurs sendet im August die Reihe „Zukunftsaussichten” – mit Texten, die im Rahmen des Festivals „Und seitab liegt die Stadt“ am 12. und 13. Mai 2022 im Literarischen Colloquium Berlin gelesen wurden.
Und damit zum ersten Essay heute – dem von Nicole Seifert. Sie ist 1972 geboren, gelernte Verlagsbuchhändlerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie war Lektorin und ist heute Übersetzerin und Autorin. Und in jeder Sparte des Literaturbetriebs ist ihr aufgefallen, wie sehr dann doch Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht bestimmen, wer gelesen wird. Deshalb heißt ihr Essay nun auch in kritischer Absicht: „In Zukunft besser lesen: Bücher von gestern”.

Nicole Seifert: „In Zukunft besser lesen: Bücher von gestern“

Ganz wesentlich für die Zukunft des Lesens sind Bücher von gestern. Und damit meine ich nicht unseren Kanon oder die Titel, die seit Jahrzehnten im Deutschunterricht gelesen werden und kritisches Aussortieren sicher gut vertragen könnten. Ich meine im Gegenteil die Bücher von gestern, die in keiner Schule gelesen werden, die nicht in den Literaturgeschichten vorkommen, die teilweise nicht mal lieferbar sind. Bücher, die nicht kanonisiert wurden und die ich gerade deshalb für besonders relevant halte.
Warum gerade deshalb? Besteht dieser Kanon denn nicht aus den allerwichtigsten Büchern? Und sind die Bücher, die von der Literaturgeschichte vergessen wurden, nicht aus gutem Grund vergessen? Nein und nein. Tatsächlich spielten bei der Kanonisierung Kriterien wie Geschlecht, Hautfarbe und Klasse eine tragende Rolle, und das ist bis heute so, wie alle Jahre wieder zu sehen ist, wenn ein weißer männlicher Literaturkritiker einen Kanon aufstellt, der zu etwa 90 Prozent weiß, männlich und heterosexuell ist. Massiv unterrepräsentiert sind Frauen, LGBTQ-Autor*innen und Autor*innen of color. Und sie fehlen nicht, weil die vielbeschworene „Qualität“ ihrer Texte nicht ausreichen würde – ein reines Scheinargument, was schon daran zu sehen ist, dass selten mehr folgt. Diese Texte fehlen, weil sie ausgegrenzt wurden.
Es sind Inhalte und Perspektiven, die hier fehlen – in den Literaturgeschichten und Geschichtsbüchern, im Schulunterricht und im kollektiven Bewusstsein, in unserer Kultur und Gesellschaft. Inhalte und Perspektiven, die die Geschichte, wie sie gelehrt wird, in Zweifel ziehen, die die Vergangenheit nicht nur ergänzen, sondern korrigieren, und die erklären, wie wir dahin gekommen sind, wo wir heute stehen.
Es geht deshalb darum, die Bücher wiederzuentdecken, zu lesen und zu diskutieren, die, wie so gern gesagt wird, „in Vergessenheit geraten sind“. Die entscheidende Frage stellt in diesem Zusammenhang der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Todd McGowan: Warum wurden diese Werke denn „vergessen“? Seine Antwort: Weil die Traumata, die Frauen und Schwarze Menschen, People of Color und LGBTQ erlebten und in ihrer Literatur beschrieben, sich nicht in die vorherrschende Weltsicht und damit auch in die Weltsicht des bestehenden Kanons einordnen ließen. Sie wurden verdrängt, weil andernfalls eine Auseinandersetzung mit den Themen hätte stattfinden müssen, um die es in dieser Literatur geht.
Der Ausschluss dieser „anderen“ Stimmen war demnach immer schon politisch begründet, die vorgeblich ästhetische Begründung stets eine politische. Denn wie geraten Bücher in „Vergessenheit“? Die Werke werden nicht mehr aufgelegt, sie werden von Herausgeber*innen von Literaturgeschichten nicht für wert erachtet, erwähnt zu werden, sie werden demzufolge auch nicht an den Universitäten gelehrt oder in die Lehrpläne der Schulen aufgenommen und auch nicht in die Kanonaufstellungen, die immer noch so beliebt sind. All das sind bewusste Entscheidungen.
McGowans Theorie wird besonders deutlich am Beispiel der Literatur Schwarzer Autor*innen. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es versklavten Menschen in den USA bei Strafe verboten, Lesen und Schreiben zu lernen. Die Literatur Schwarzer Autor*innen ist durchzogen vom Trauma eines gewaltsam auferlegten Schweigens – von der Figur der Louvinie in Alice Walkers Meridian, der die Sklavenhalter die Zunge herausschneiden, bis zu den sprachlosen Protagonistinnen in den Romanen von Gayl Jones, der Autobiografie von Maya Angelou und Alice Walkers Die Farbe Lila, das gleich zu Beginn ein Sprechverbot zitiert. Die slave narratives hatten von Anfang an Zeugnischarakter und sollten den Kampf gegen die Sklaverei unterstützen, eine Traditionslinie, die sich bis ins 20. Jahrhundert zu Autor*innen wie Ann Petry zieht, die in naturalistischen protest novels für die soziale Gleichberechtigung Schwarzer Menschen eintreten. Hätte man die Literatur Schwarzer Autor*innen von den slave narratives an als literarisch anerkannt und ernsthaft rezipiert – wie hätte man einer Auseinandersetzung mit Sklaverei und Rassismus aus dem Weg gehen sollen?
Bei der Wiederentdeckung verdrängter Literatur von Frauen, von queeren Menschen und Autor*innen of color geht es deshalb um mehr als darum, Vergessenes wieder zugänglich zu machen oder Herausgefallenes in existierende kanonische Kategorien einzugliedern. Es ging in den 1970er Jahren in den USA und es geht heute bei uns darum, das historische Verständnis zu erweitern, bisher Ignoriertes einzubeziehen, den Horizont zu öffnen. In den Vereinigten Staaten zog diese Kanonrevision theoretische Debatten darüber nach sich, was Literatur ist und nach welchen Kriterien man sie bewertet. War man zuvor davon ausgegangen, die Wertung von Literatur könne geschlechtsneutral sein und der Kanon vorurteilslos und objektiv, klärten die sich etablierenden Gender Studies und die Postcolonial Studies über die Zusammenhänge von Kanon und Macht auf.
Das konservative Feuilleton möchte davon nichts wissen und spricht bis heute gern von „politischer Literatur“ oder „Identitätsliteratur“, wenn etwas als anders gelabelt werden und von der eigentlichen, wahren Literatur abgegrenzt werden soll. Was da in den Verlagsprogrammen der großen Publikumsverlage angekommen ist und auf den Longlists der wichtigen Preise, kann von der konservativen Kritik nicht länger ignoriert werden, wird dann aber als „Trend“ oder „Modeerscheinung“ abgetan, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen, um es abzutun, ohne sich damit zu befassen.
Diese Strategien stehen in einer Tradition. Sie dienen dem Ausschluss, und zwar nicht dem Ausschluss von schlechter Literatur, sondern dem Ausschluss unbequemer, missliebiger Stimmen und Perspektiven. Die Zukunft des Lesens liegt in diesen Perspektiven von heute. Aber unbedingt auch in der Wiederentdeckung der marginalisierten und zum Schweigen gebrachten Stimmen von gestern. Das Wiederlesen von bell hooks, von Hedwig Dohm, von Audre Lorde und von denen, deren Namen ich nicht nennen kann, weil sie zum Schweigen gebracht wurden, macht es nicht nur möglich anzuknüpfen, es zeigt auch die Rückschritte, die es seitdem schon wieder gab. Nur so lassen sich Traditionen weiblichen Schreibens, Schwarzer und queerer Literatur erkennen, inhaltlich wie literarisch, nur so lassen sich die Wurzeln dessen verstehen, was es heute zu besprechen und zu verändern gibt. Zukunft kann nur gelingen, wenn die Vergangenheit verstanden wird, wenn die Erfahrungen derjenigen verstanden werden, die uns vorangegangen sind. Es ist alles schon aufgeschrieben.
Fischer:„In Zukunft besser lesen: Bücher von gestern”, ein Essay von Nicole Seifert, gelesen von Svenja Wasser.
Ein Essay über diejenigen, die aus dem Kanon ausgeschlossen worden sind. Solche Ausschlussmechanismen sind aber auch in der Gegenwart zu finden, in der alltäglich gelebten kulturellen Praxis. Zum Beispiel im Bereich der Lyriklesungen. Teure Tickets oder freier Eintritt – vieles entscheidet, wer am Ende Lyrik liest und hört.
Katharina Schultens wird im folgenden Text ergründen, was eine gute Lyriklesung ausmacht. Katharina Schultens, geboren 1980, hat eine naturwissenschaftliche Graduiertenschule an der HU zu Berlin geführt und wird ab September das Berliner Haus für Poesie leiten.
„Trost und Aufruhr. Plus was zu essen” heißt ihr Text – womöglich das beste Rezept für eine gute Lyriklesung?

Katharina Schultens: „Trost und Aufruhr. Plus was zu essen“

Lyrik muss immer dann herhalten, wenn es ernst wird. In Todesanzeigen der Regionalzeitungen, auf Taufkarten, Hochzeitseinladungen oder den Slides einer instagrammierten Lebens- und Sinnkrise. Gerne auch als Ausweis zivilgesellschaftlicher Verantwortung – fällt der Redaktion nicht adhoc noch ein Zhadan-Gedicht für die erste Feuilletonseite ein? Kann die Praktikantin mal eben recherchieren, vielleicht was von Valzhyna Mort? Wie hieß da der letzte Band, Musik für Tote und Auferstandene? Hm. Zugegeben, vielleicht in Anbetracht der akuellen Situation etwas morbide. Nee, die Gedichte sind ja auch alle so lang. Und, verdammt, so uneindeutig.
Ok. Bisschen eindeutiger. Robben wir uns ans Platte ran.
Lyrik zählt, das hat sie mit Brücken, viel eher aber noch mit Müttern gemein, zur Infrastruktur im Notfall. Dauerverfügbar, zuverlässig, kann bei Bedarf temporär geschmückt und aufgehübscht werden, Spuren der Vernachlässigung bleiben jedoch erhalten.
Untendrunter: Spröde. Irgendwie ungute Erinnerungen, dass man sie zur Schulzeit kannte, sie da aber ganz anders aussah. Wenn es drauf ankommt, greifen wir auf sie zurück. Kosten bitte minimieren. Vielleicht macht die es auch kostenlos. Soll froh sein über Aufmerksamkeit.
Trostfunktion, Sorgearbeit: Nüchtern betrachtet dürfte es eigentlich weder freiwillige Mütter noch freiwillige Lyriker:innen geben.
Ist das jetzt zynisch? Jammere ich?
Nüchtern betrachtet besetzt Lyrik, besetzen Lyrikveranstaltungen eine Nische in einer Nische in einer Nische. Die hinterm Automaten vorm Klo in der kleinsten Kneipe einer Ausfallstraße eines Randbezirks.
In so einer Nische erzählt mir 2007 an einem Mittwochmorgen um 3 Uhr eine Musikerin die Geschichte ihrer Mutter, einer verhinderten Dichterin. In dieser Ecke singe ich der Musikerin Schumanns Ständchen vor, mit einem Text von Grillparzer: Sucht ein Weiser nah und ferne / Menschen einst mit der Laterne / Wie viel selt’ner dann als Gold / Menschen uns geneigt und hold.
„Alle Menschen sind Vampire,“ sagt die Musikerin nur, dann setzt sie sich auf die Schultern ihres Cousins, der mit ihr aus der Nische raus vor die Bar rennt, von wo aus sie alle tanzenden Vampire im Raum mit Vodka aus einer fast ganz vollen Flasche segnet.
Was war das?
Ich habe Grillparzer nicht gelesen, ich kannte nur das Ständchen von Schumann. Grillparzer funktioniert auch nur über die Schumann-Melodie. Ich dachte, ich erreiche diese Frau, und ich glaube, sie hat mich verstanden (daher die Vampire). Dann wurde es zu intensiv und ist sie weggerannt. Die Nische war ihr plötzlich zu eng, und ich vermutlich versehentlich übergriffig.
Was ist das?
Wieso werfen wir Gedichte von Mandelstam ins Grab eines lieben Menschen und meinen, es sei Trost, wenn ein Zettel mit einer Zeile über eine Kette toter Bienen mit verrottet?
Warum heule ich bei jedem irischen Segensspruch im Gottesdienst, den ich alle zwei Jahre besuche? Warum verdrehe ich angesichts instagrammierter Sinnsprüche von Rupi Kaur nur die Augen?
Wieso reimen sich Inge Müllers und Serhij Zhadans schlimmste Kriegsgedichte? Wieso sind die so schlicht in der Form und warum ist ihre schlichte Form so unglaublich brutal?
Woher kommen diese Linien? Wieso laufen sie immer in einer ganz bestimmten Ecke zusammen zur Nische?
Wieso steht nach jeder Lyriklesung mindestens ein verlorener Mensch vor mir und
a) überreicht mir eigene Gedichte
b) erzählt mir eine sehr lange, sehr unglückliche Lebensgeschichte oder
c) ist wütend, dass ich dieses eine, wirklich wunderschöne Gedicht in meinem vorletzten Band mit einem englischen Begriff verunziert habe?
Vielleicht, weil diese Nische eine Zuflucht sein kann.
Es ist einfach, freundlich zu nicken, wenn der sehr eloquente Mittfünfziger mir seine Visitenkarte mit den drei Dr. h.c. in die Hand drückt und onkelt, ich möge doch weniger englische Begriffe in meinen wunderschönen Gedichten verwenden, das habe ihn so geärgert.
Es ist weniger einfach, Abstand zu nehmen von der verwirrten älteren Frau, die nach einer Lesung wie nebenbei von einem Missbrauch erzählt und meint, den in einem meiner Texte wiedergelesen zu haben.
Es ist billig, sich mit spitzen Literat:innenfingern und mehr als leicht verächtlich über die pathetische Todesanzeige des Männergesangvereins Germania 1883 für Karlheinz zu beugen:
Na, zu lange auf pastellfarbenen Trauerspruchseiten mit halbtransparenten Herbstblättern als Hintergrundbild rumgetrieben?
Billig, ja. Und menschenverachtend.
Ich habe mich lange vehement gegen diese Gespräche gewehrt, bin auf Distanz gegangen im Text oder zumindest im Gespräch. Denn ja: Diese Gespräche sind übergriffig. Ich habe lange die Trostfunktion von Lyrik verabscheut, diesen Produktgedanken, der immer dahinter steht: Scrollen Sie durch unsere kuratierten Trauertexte! Gerne erstellen wir Ihnen eine persönliche Trauerkarte! Right. (Naive Fußnote: Fick den Kapitalismus.)
Aber vielleicht ist genau das die Kante, auf der Literatur balanciert, wenn sie Menschen erreicht. Trost und Aufruhr. Tendenziell übergriffige Gespräche. Intensität.
Es gibt diese Abende, diese Veranstaltungen, wenn sich plötzlich alles fügt. Dann steht mitten im zugigen Foyer der Deutschen Oper ein kleiner, bärtiger Dichter im roten Wollpulli neben einer voluminösen Sopranistin im blumenbedruckten Abendkleid und liest Variationen auf einen textlich wirklich extrem nah am Kitsch lang schrammenden Liederzyklus von Olivier Messiaen. Die Sopranistin ist wahnsinnig unsympathisch und hat fünf Lieder lang Probleme in der tiefen Lage gehabt, die erste Lesung des Dichters war spröde, das Publikum zwischendurch unruhig.
Doch dann – passiert plötzlich etwas. Zeilen wiederholen sich, Tempo zieht an, die Sprachen wechseln mitten im Satz, und ganz langsam wird ein Klopfen, ein dumpfer, intensiver Rhythmus, der untendrunter lag, hörbar. Der Rhythmus dringt in den Raum, in die Körper, schafft Konzentration. Du schaust wie in einen Tunnel und spürst jedes einzelne Wort im Text, die immer noch extrem unsympathische Sängerin setzt an, ganz oben, glasklar, schneidend. Eine Klinge aus Eis (ja: Kitsch). Du spürst den Rhythmus im Französischen, das dir fern liegt, verstehst. Sterne. Asche. Du verstehst nicht, nein, du ahnst, wohin Messiaen mit seinem nicht allzu guten Text eigentlich wollte, der Dichter im roten Wollpullover hat dir diesen Text mit seinen Varianten gelöst. Plötzlich ist klar, wie brutal diese Lieder sind. Irgendetwas fügt sich, ist da, flirrt – und schwindet wieder.
Intensität ist immer flüchtig. Sie rührt auf, sie kann eine riskante Zuflucht sein. Wer sich öffnet, kann etwas verlieren.
Aber ist es nicht das, was Literatur kann? Was sie können sollte? Auf dieser Kante balancieren – zwischen über Kitsch ins Banale versumpfendem Pathos auf der einen Seite, und auf der anderen immer filigranere Expertisen, die in eine Wüstenei spröder Unangreifbarkeit münden…. genau dazwischen, in der Balance, da passiert etwas. Nicht immer, nicht für jede, nicht für jeden, aber manchmal. Für manche.
Reicht das?
Oder, vielleicht entscheidender für ein Gespräch: Können wir helfen, dass aus manchen möglichst viele werden?
Intensität braucht Begegnungen, braucht Räume, Möglichkeiten.
Viel zu kurze Thesen dazu, was notwendig sein kann:
Simple Dinge, die eine Atmosphäre schaffen: Gutes Licht. Vielleicht Musik. Bequeme Stühle, Tische, eine Möglichkeit zum Gespräch nach der Veranstaltung. Etwas zu essen, ein Getränk.
Offenheit: Wie denke ich mir mein Publikum? Was erwarte ich? Wäre es nicht schön, wenn mein Publikum sich nicht immer so ähnlich sähe? Kann ich was dafür tun, dass das passsiert? Kann ich dafür mal meine Darlingsschablone a.k.a. Erwartungshaltung weglegen? Wie offen bin ich denn, als Künstler:in, als Veranstalter:in?
Freikarten, die wir da verteilen, wo niemand damit rechnet, wo sie vielleicht nicht sofort erwünscht sind. Wo wir erklären müssen, warum es vielleicht schön wäre, zu kommen, sich einzulassen. Werbung außerhalb üblicher Kanäle.
Barrierefreiheit als selbstverständlicher Gedanke bei der Konzeption von Formaten.
Generell weniger Hürden: auch keine heimlichen einer vermeintlich notwendigen Vorbildung oder einer – nie vorausgesetzten, aber immer erwarteten! – Coolness, etwa über subtile Dresscodes oder Das-muss-man-doch-wissen-Diskursinhalte. (An diesem Punkt versagt mein Text, fürchte ich.)
Also nein, ich sage nicht: Partizipative Formate. Ich sage: Teilhabe.
Ich sage nicht: Eine Nische. Ich sage: Riskante Zuflucht.
Fischer: „Trost und Aufruhr. Plus was zu essen” von Katharina Schultens, vorgelesen von Claudia Matschulla.
Wozu aber überhaupt etwas für die Zukunft bewahren, könnten wir uns fragen, wo wir doch die Klimakatastrophe heute vor Augen haben? Am Ende wäre da womöglich schlicht niemand mehr, der noch irgendetwas liest.
Vielleicht hilft hier der Text von Stefan Petermann weiter.
Stefan Petermann ist 1978 in Sachsen geboren. Er hat Mediengestaltung in Weimar studiert und schreibt heute Erzählungen, Romane, Hörspiele und Drehbücher.
Alle seine Texte sind vielleicht nur ein Vorspiel zum folgenden Essay gewesen: „Das letzte Buch” heißt er, und darin schreibt der Icherzähler eben genau das – das allerletzte Buch der Menschheit – auf dem Mars, vor einer kosmischen Katastrophe.

Stefan Petermann: „Das letzte Buch“

Das Magnetfeld der Erde brach zusammen. Keine Photosynthese fand mehr statt. Die Temperatur stieg auf 150 Grad. Die Sonne stieß ihre Hülle in einen planetarischen Nebel ab. Protonen und Antiprotonen vernichteten sich gegenseitig. Das Universum erreichte seine maximale Größe. Dann schrumpfte es und verschmolz zu einem einzigen Teil von unvorstellbarer Masse.
An irgendeinem dieser Punkte starb die Menschheit aus, wahrscheinlich früher. Bevor das geschah, gab es letzte Menschen und einer dieser letzten Menschen schrieb ein letztes Buch.
Ich schrieb dieses letzte Buch. Ich lehnte gegen den Sockel eines mit Schmähschriften überzogenen Denkmals, saß auf dem knirschenden Dach einer Glastempelruine, hockte am Rand einer schwebenden Stadt, unter mir die verdampfenden Ozeane, hatte meinen Schreibtisch auf der Großen Syrte des terrageformten Mars aufgestellt, befand mich in einer erdachten oder noch nicht erdachten dystopischen, utopischen Kulisse.
Ich gehörte zu den letzten Menschen. Von hier an in 1.000 Jahren, Millionen, Milliarden Jahren, nach Milliarden geschriebenen Büchern, schrieb ich ein weiteres Buch. Ich schrieb dieses letzte Buch in dem Wissen, dass danach nichts mehr geschrieben werden konnte. Ich schrieb dieses Buch, weil es sein musste, redete ich mir ein. Ich schrieb aus Hilflosigkeit, weil Schreiben war, was ich tat, selbst in dieser untergehenden Welt.
Dieses letzte Buch schrieb ich in einer Zeit der Krisen, wie konnte es anders sein. Eine Aneinanderreihung von Katastrophen lag hinter mir. Die Extreme wechselten sich ab, überlagerten sich; stellare Ansteckungen, Invasionskriege, eine selbstgemachte, vielleicht unverschuldete Bedrohung durch die Natur, den Kosmos. Manche der Extreme betrafen mein Leben direkt, von den meisten las, hörte, holografierte ich. Unablässig nahm ich daran teil, obwohl sie fern waren, war es, als wären sie bei mir, immerzu bei mir. Ich erstellte Hierarchien der Ungerechtigkeiten – welches Leid betraf mich und meine letzten Lieben persönlich, welches Leid mittelbar, welches Leid konnte ich von mir schieben. Ich sprach mit den anderen letzten Menschen darüber, stritt mit ihnen, das Sprechen entzweite mich mit manchen, anderen brachte es mich näher.
Was ich tat, war kein Schreiben. Keine Überführung dessen, was mich umgab, in eine Geschichte, in einen textlichen Zusammenhang. Aber ich wollte überführen. Das Aufgesogene, Empfundene und Gelebte, die Wut, die Traurigkeit, die Erkenntnis und die Erinnerungen mussten raus aus mir. Die Welt zerfiel vor meinen Augen, ich wollte etwas dagegensetzen, es war der Augenblick, den ich beim Schreiben verteidigte. Das Universum dehnt sich dennoch weiter aus, bis der Big Crunch alle Atomkerne sprengt. Die Geschichte setzt sich fort, unbeeindruckt von meinem letzten Schreiben.
Ich hatte keine Expertise in Sachen Spikeprotein oder Streubomben, kannte nicht die geologische Zusammensetzung von Meteoriten. Ich konnte mir dieses Wissen aneignen. Doch gab mir diese Aneignung die Berechtigung, darüber zu schreiben? Sollte ich nicht wahrnehmen und meine Wahrnehmung in Worte übersetzen? Mein Fühlen zu Sätzen machen? Sollte ich, so wie Ann Cotten es vor Milliarden Jahren formuliert hatte, ein Siebdruckgewebe sein, durch das sich die Wirklichkeit auf Papier drückte? Wieso sollte ausgerechnet mein Blick Grund für ein Buch sein? Musste ich nicht erleben, um dadurch eine authentische Position beziehen zu können? War es meine Herkunft, die Geschichte meiner Vorfahren, die mich befugte zum Schreiben? Selbst, als es nur noch zwei letzte Menschen gab; welchen Anspruch konnte ich erheben über die andere zu erzählen, ihre Geschichte als Folie für meine zu nehmen?
Ich schrieb über keine Katastrophe. Nein, ich widersetzte mich der Abwärtsbewegung. Das letzte Buch sollte das Schöne beschreiben. Das war, was bleiben sollte. Die Hoffnung. Ich wählte die Fiktion, in der ich der Gegenwart kaum Einlass gewährte. Es war Flucht, war Schutz. Die Welt zerfiel vor meinen Augen, im Schreiben bewahrte ich mich davor, mitgerissen zu werden.
Ich schrieb das letzte Buch, auch wenn ich nicht wusste, wer es noch lesen sollte. Ich wusste nicht mehr, was ich gelesen hatte. So gut wie alle Bücher waren vergessen, als ich das letzte Buch schrieb. Vergessen, weil es zu viele gewesen waren. Vergessen, weil sie zerfallen waren. Ich lagerte Papier in Salzbergwerke ein, versiegelte Speicherkarten, brannte Buchstaben in Keramikkacheln. Ich malte an Höhlenwände. Schlug Buchstaben in Gestein. Wie lange blieb die Furche im Basalt, bis die Tektonik sie nahm? Was ich schrieb, konnte ich 500 Jahre bewahren, vielleicht 1.000. Aber wie 50.000 Jahre? Wie sollten 100.000 Zeichen eine Million Jahre überdauern? Eine Milliarde Jahre? Ich schickte goldene Voyager-Datenplatten mit gravierten Binärcodes über die Grenzen der Galaxis hinaus. Selbst, wenn ich der Zeit einige Zeichen abtrotzen konnte: Wie erzählte ich eine Geschichte – über das Schöne, über die Hoffnung, die Katastrophe, mich – in wenigen Sätzen?
Das letzte Buch hätte ohnehin vor den letzten Menschen erscheinen können. Indessen hatte es 1.000 Formen jenseits des Buchs gegeben; begehbare Fantasien, kuratierte Gedankenwolken, die ich in Gesichter pustete, eine Sphäre, durchdrungen von allen Geschichten aller Zeiten zugleich, kein Prolog, kein Schlusssatz, die Worte ein ständiges Strömen, während ein Buch etwas beendete, um damit einen Anfang zu ermöglichen.
Ich schrieb dieses letzte Buch nicht auf Deutsch. Keine Sprache spielte eine Rolle, weil jedes Wort in jedes Wort übersetzt werden konnte. Die Maschine, oder das, was nach der Maschine kam, übertrug den Sinn. Ich ließ das Papier sinken, die Tastatur los, die Geister, die sich automatisch in ein Format drückten. Vielleicht brauchte es keine Menschen mehr, die schreiben. Die Nachfolger der poetischen Handmühlen aus dem 18. Jahrhundert, die Erben der Maschinen, die lateinische Hexameter hergestellt hatten, die Enkel der künstlichen Intelligenzen waren die besseren Schreiber. Sie kannten die Milliarden von Milliarden Menschen notierten Geschichten, beherrschten die Millionen unterschiedlicher Verfahren, Worte aneinanderzureihen, konnten nahtlos und effizient wechseln zwischen den Stilen, hatten Zugriff auf alle festgehaltenen Gedanken und Gefühle, rhetorischen Figuren, alle Umwälzungen von Wissen. Ich dachte das Buch an, die Maschinen formulierten es aus, es war die überraschendere Literatur. Mich brauchte es nicht mehr. Es brauchte keinen letzten Menschen, um das letzte Buch zu schreiben. Nach mir, dem letzten Menschen, würden die Maschinen weiterschreiben, die Algorithmen – und was danach kam – würden Buch um Buch schreiben und damit die Speicher füllen, aus denen sie das nächste Kombinierte schöpfen würden. Die letzte Maschine würde das letzte Buch schreiben und kein Mensch würde es gelesen haben.
Noch gab es keine letzte Maschine. Noch gab es letzte Menschen. Noch gab es ein Buch, das nicht von uns geschrieben war. Die Wärme des aufgebrochenen Asphalts, von der Sonne geheizt, ein kurzes Aufblühen im Feuerstoß, ein Verlangen nach Sauerstoff. Eine Flamme zuletzt. Ich schaute auf die friedliche Endzeitlandschaft, ich erkannte etwas in der Ferne, ahnte lauter Zauberwesen über mir. Hatte einen Gedanken, wusste nicht, wieso noch, für wen, für wie lange, aber ich begann, ich schrieb, ein letztes Buch schrieb ich.
Fischer:„Das letzte Buch” von Stefan Petermann, eingelesen von Sören Wunderlich.
Das war der vierte und letzte Teil unserer kleinen Reihe „Zukunftsaussichten”. Alle Texte stammen aus einer Tagung im Literarischen Colloquium Berlin am 12. und 13. Mai 2022, kuratiert von den Schriftstellerinnen Shida Bazyar und Emma Braslavsky. Die Tagung fand statt im Rahmen der Initiative „Und seitab liegt die Stadt“ aus dem Bundeskulturministerium. Mit freundlicher Unterstützung aus dem Förderprogramm „Kultur in ländlichen Räumen”.