Sonntag, 05. Mai 2024

Damenflügel
Werden Frauen das Schachspiel erobern?

Schach ist das Spiel der Männer. Oder doch bald nicht mehr? Zumindest das Schachspiel selbst erlebt einen unglaublichen Boom: Serien wie "Das Damengambit" faszinieren das Publikum ebenso wie die Neuverfilmung der "Schachnovelle".

Von Louisa Thomas | 24.12.2023
Hou Yifan sitzt vor einem schwarzen Hintergrund und trägt Trenchcoat. Sie blickt herausfordernd auf einen Schach-Springer, der sich unscharf im Vordergrundgrund befindet und perspektivisch das Bild bestimmt
Die chinesische Schachspielerin Hou Yifan. (picture alliance / Photoshot)
Im Schach herrscht zwischen Männern und Frauen ein extremes Ungleichgewicht. Als Erklärungen gelten unterschiedliche Begabungen und Neigungen oder eben doch Chauvinismus.
Von den 1732 Großmeistern im Schach sind nur 38 Frauen. Ein Ungleichgewicht, das für manchen darin begründet liegt, dass schon in frühester Jugend viel mehr Jungen als Mädchen Schach spielen und daher auch weniger Frauen später Wettkämpfe bestreiten. Aber woran wiederum liegt das? Louisa Thomas porträtiert in ihrem Essay die chinesische Ausnahmespielerin Hou Yifan und zeigt, wie chauvinistisch und sexistisch die Jungen und Männer den Mädchen und Frauen in der Schachwelt begegneten – und das teilweise noch immer tun.
Diese Sendung wurde erstmals am 15. April 2022 ausgestrahlt.

Die Autorin

Louisa Thomas, geboren 1981, studierte in Englische Literatur in Harvard, schreibt für amerikanische Magazine wie den New Yorker, die New York Times, die Vogue und The Paris Review, meistens über Sport. Ihr Essay erschien im August 2021 unter dem Titel „Hou Yifan and the Wait for Chess’s First Woman World Champion“.

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Werden Frauen das Schachspiel erobern?

Schach ist nicht wie Basketball oder Fußball.
Im Schach treten Männer und Frauen gleichberechtigt gegeneinander an. Und niemand kann von den Zügen auf dem eine Partie begleitenden Formular auf das Geschlecht der Spielenden schließen. Dennoch sind von den 1732 Großmeistern weltweit nur 38 Frauen.
Diese Diskrepanz geht größtenteils darauf zurück, dass viel mehr Männer als Frauen an Wettkämpfen teilnehmen: Etwa 16 Prozent sind Frauen, und die meisten unter ihnen wiederum sind Kinder. Rein statistisch gesehen würde man darum ganz oben auf den Ranglisten nur wenige oder gar keine Frauen erwarten. Das aber kann nur unzureichend erklären, warum es zu dieser Geschlechterungleichheit auf dem Topniveau im Schach kommt.
So etwas wie die berühmteste Schachspielerin der Welt gibt es gar nicht. Beth Harmon, die Hauptfigur im Roman Das Damengambit, ist eine fiktive Figur, die 1983 vom Schriftsteller Walter Tevis erfunden und vor Kurzem in einer Netflix-Miniserie zu neuem Leben erweckt wurde. Harmon erobert in den Fünfziger- und Sechzigerjahren die Schachwelt und ist dabei nur ganz wenig mit Sexismus konfrontiert.

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Die Hollywood-Version ihrer Geschichte ist zwar in vielerlei Hinsicht fantasiereich, erinnert aber an den Glamour von Lisa Lane. Die wurde in den frühen Sechzigerjahren zu einer medialen Berühmtheit, gab das Schachspiel aber 1966 auf, weil es sie traurig machte, wie die Medien ihr Aussehen und ihr Liebesleben in der Öffentlichkeit breittraten. Auch als Profi konnte sie nie ein einigermaßen ordentliches Einkommen erzielen. Lane wurde in den USA zweimal Landesmeisterin der Frauen, konnte die besten Frauen der Welt aber niemals schlagen, die besten Männer schon gar nicht. Vielleicht wurde Walter Tevis für seinen Roman auch noch von Bobby Fischer inspiriert, dem exzentrischen amerikanischen Schach-Weltmeister, der ein notorischer Chauvinist war.
Kurz nachdem Tevis’ Roman 1983 herausgekommen war, tauchten drei Frauen auf, deren Lebensgeschichten derjenigen von Beth Harmon ähnelten. Es waren drei Schwestern, die aus Ungarn stammten: Susan (eigentlich Zsuzsa), die Älteste, Sofia (eigentlich Zsófia) und Judit, das Nesthäkchen der Familie. Ihr Vater László Polgár glaubte, dass Menschen nicht als Genies geboren, sondern dazu gemacht werden und das wollte er unter Beweis stellen. Für seine Töchter erstellte er einen strikten Lehrplan, der bis zu sechs Stunden Schachunterricht pro Tag vorsah; außerdem gab es eine zwanzigminütige Pause, in der sich alle Witze erzählten.
1950 hatte der internationale Schachverband FIDE die Regularien für die Titel auf Topniveau erneuert und einen ausschließlich für Frauen geltenden Titel geschaffen: den „Women International Master“, den „Internationalen Meister der Frauen“. Diesen Titel gibt es schon 200 Punkte unterhalb der Elo-Zahl, die beim normalen Titel „Internationaler Meister“ gilt. Die Elo-Zahl ist eine Wertungszahl, die die Spielstärke von Schach- und Gospielern beschreibt. 26 Jahre später führte die FIDE den Titel „Woman Grandmaster“, „Frauengroßmeisterin“ ein und verleiht nun auch diesen Titel ab einer Elo-Zahl, die nicht nur unterhalb des Großmeisters, sondern auch unterhalb des Internationalen Meisters liegt.
László Polgár allerdings wollte seine Töchter vor den schädlichen Auswirkungen von allzu niedrigen Erwartungen bewahren: Die Schwestern arbeiteten auf Titel hin, die Männern vorbehalten waren. Frauenturniere mieden sie zumeist.
Einige Männer, gegen die sie spielten, wollten ihnen noch nicht einmal die Hand geben. Einer bewarf Susan mit Spielfiguren, nachdem er gegen sie verloren hatte. 1986, als Susan 17 war, wäre sie wegen ihrer Leistungen bei der ungarischen Landesmeisterschaft eigentlich für ein regionales Turnier der Schachweltmeisterschaft qualifiziert gewesen. Aber der ungarische Schachverband verweigerte Susan die Teilnahme, weil es ihn ärgerte, dass sie unbedingt auch gegen Männer spielen wollte. Schließlich griff die FIDE ein und erlaubte es Frauen, offiziell an Weltmeisterschaften teilzunehmen. Susan wurde die dritte Frau, die den Titel eines Großmeisters erlangte. Sofia, die im Alter von 14 Jahren auf spektakuläre Weise ein Turnier gegen einige angesehene Großmeister gewann, erreichte das Niveau eines Internationalen Meisters. Aber Judit stellte beide in den Schatten.
Judit, ein zierliches Mädchen mit langen roten Haaren und einnehmenden grauen Augen, bekam mit 13 Jahren die Chance, Bobby Fischers Rekord als jüngster Großmeister aller Zeiten zu unterbieten. Das US-Magazin Sports Illustrated brachte eine Geschichte über sie. Der von 1985 bis 1993 als offizieller Weltmeister des Weltschachbundes FIDE amtierende Garri Kasparow sagte der Zeitschrift gegenüber:
„Es ist unvermeidlich, dass die Natur gegen sie arbeitet – und zwar schon bald. Sie hat eine fantastische Begabung für das Schachspiel, aber letztlich ist sie eine Frau.“
Judit Polgár brach Bobby Fischers Rekord. Und zwei Jahre später schlug sie Boris Spasski, einen ehemaligen Weltmeister. Als sie 1994 das erste Mal gegen Kasparow spielte, verstieß dieser gegen eine Schachregel: Er machte einen Zug, ließ die Figur los, änderte seine Meinung und machte dann einen anderen Zug. Polgár blickte fragend zum Schiedsrichter: Er schien den Regelverstoß gesehen zu haben, aber er unternahm nichts. Kasparow gewann die Partie und sieben Jahre lang jede weitere Partie, die sie spielten, abgesehen von einigen Unentschieden. Dann, im Jahr 2002, trat Judit bei einem Turnier in Moskau im Schnellschach gegen ihn an. Jeder Spieler hatte etwa eine halbe Stunde Zeit, um seine Züge auszuführen. Zu diesem Zeitpunkt war Polgár die Nr. 19 der Weltrangliste. Kasparow war immer noch die Nr. 1. Sie übernahm die Kontrolle über die Partie: Mit ihren zwei Türmen auf der siebten Reihe jagte sie seinen exponierten König. Kasparow gab auf.

Ich bin einfach älter und weiser geworden, habe meinen Irrtum eingesehen

Garri Kasparow
Polgár sagte später, sie hätte sich einen brillanteren Sieg gewünscht, ein echtes Kräftemessen. Dennoch war es ein historisches Ereignis: Die beste Frau hatte den besten Mann besiegt. Kasparow bedauert heute, dass er Schachspielerinnen gegenüber so chauvinistisch war, insbesondere gegenüber Polgár, erklärte er in einer E-Mail:
„Ich hatte jetzt keine plötzliche Erleuchtung. Ich bin einfach älter und weiser geworden, habe meinen Irrtum eingesehen und kann mich nur dafür entschuldigen, dass es so lange gedauert hat!“
Judit Polgár, die sich 2014 vom Schachspiel zurückzog, nachdem sie es auf Platz 8 der Weltrangliste geschafft hatte, sagt: Wenn Frauen an der Weltspitze fehlen, habe das nichts mit möglicherweise angeborenen Fähigkeiten zu tun. Es habe vielmehr damit zu tun, dass Mädchen dem Schachspiel in ihrem Leben nur selten absolute Priorität einräumten.
Auch für die Standards der Wunderkinder im Schach sticht die Geschichte von Hou Yifan heraus. Nicht so sehr aufgrund ihres dynamischen, nicht aber glanzvollen Spiels in aggressivem, aber anpassungsfähigem Stil. Eher aufgrund dessen, dass sie ein Mädchen war. Mit 14 wurde sie Schach-Großmeisterin und die Leute erinnern noch immer die Haarspangen, mit denen sie ihren Bob zurücksteckte. Hou, geboren 1994 in Xinghua, entdeckte als Kind ein Schachspiel im Schaufenster, dessen Figuren ihr auf Anhieb gefielen. Fünfjährig begann sie mit anderen Kindern in einer örtlichen Schule, Schach zu spielen und entwickelte großes Talent. Mit 26 wurde sie die jüngste Professorin, die es an der Universität ihrer Heimatstadt Shenzhen in China je gab.
„Ich erfuhr nie Einschränkungen oder Zurückweisungen. Meine Eltern erzogen mich nie als Mädchen, das nur dies oder das darf.“
Hou Yifan ist die einzige Frau unter den 100 besten Schachspielern der Welt, Nr. 82. Jahrelang war sie die Einzige, die hier überhaupt eine Chance hatte. Alexandra Gorjatschkina, eine im Schach erfolgreiche Russin Anfang 20, rangiert unterhalb der Top 200. In mancherlei Hinsicht war China der ideale Ort für Mädchen, die Schach spielen wollten. Lange Zeit trainierten die besten chinesischen Männer und Frauen in Peking gemeinsam – das hat sich jedoch geändert, seit zwei Männer aus China in die Top 20 aufgestiegen sind.
Hou Yifan 2007 beim Schachturnier in Wijk aan Zee mit in die Hand gestütztem Kopf vor einem Schachbrett sitzend
Die chinesische Ausnahmespielerin Hou Yifan wurde bereits im Alter von 14 Jahren Schachgroßmeisterin (imago/Kohlmeyer)
2012 war Hou Yifan die erste Spielerin seit 22 Jahren, die Judit Polgár in einer klassischen Partie schlug. Dies gelang ihr bei einem Turnier in Gibraltar, bei dem einige der weltbesten Großmeister spielten. Hou Yifan belegte den ersten Platz gemeinsam mit dem britischen Großmeister Nigel Short, der einst die Nr. 3 der Welt gewesen war. Short gewann den Titel im Tiebreak, aber Hou entwickelte sich zum Star des Turniers und beerbte Polgár in ihrer Rolle als Top-Schachspielerin. Plötzlich war es von enormer Bedeutung, wenn Hou sich ans Schachbrett setzte.
In gewisser Weise ist die Tatsache, dass es keine Frau gibt, die je den Weltmeistertitel errungen hat, für Menschen, die außerhalb der Schachwelt stehen, beunruhigender als für diejenigen, die sich in der Schachwelt bewegen. Gemeinhin stellt man sich vor, das Talent zum Schach sei dasselbe wie Intelligenz. Aber professionelle Spieler wissen, dass es eher eine hochspezialisierte Tätigkeit ist. László Polgárs Einstellung zu Turnieren und Titeln nur für Frauen ist untypisch; für die meisten Spielerinnen bieten diese Turniere eher die Gelegenheit zu ein bisschen Kameradschaft in einer Arena, die sonst von Männern dominiert wird. Außerdem ist es zentral, dass es bei Turnieren auch finanzielle Unterstützung und Sponsoring gibt.
„Ich denke, es ist wirklich wichtig, dass es für Frauen eigene Wettbewerbe und Titel gibt. Das motiviert sie, an sich zu arbeiten und stärker zu werden. Dann rückt ein Leben als Berufsschachspielerin in den Bereich des Möglichen.“
Sagt Anna Musytschuk, ein ukrainischer Großmeister.
Der Erfolg bei Frauen- und Mädchenturnieren kann jedoch auch eine „Falle“ sein, meint der Schachjournalist Mig Greengard. Zwar glaubt Greengard, dass reine Mädchenturniere positive soziale Erfahrungen für Spielerinnen bieten, aber er befürchtet, dass junge Toptalente wie Hou nicht mit der nötigen Regelmäßigkeit auf die gleiche Weise gefordert werden wie die Jungen.
„Du wirst nur besser, wenn dir bessere Spieler einen gehörigen Tritt in den Hintern versetzen, je öfter, desto besser.“
Es hat etwas Beunruhigendes, wenn ein System das Wort „Frau“ benutzt, um einen Titel abzuwerten – und Sexismus gibt es in der Schachwelt ohne Zweifel immer noch.
Jennifer Shahade trägt den Titel des Großmeisters der Frauen und ist die Direktorin von „U.S. Chess Women“, einer Initiative des amerikanischen Schachverbandes. Sie organisiert und finanziert Programme für Mädchen und Frauen. Vor einigen Jahren schufen sie und ihr Mann eine Kunstinstallation mit dem Titel „Not Particularly Beautiful", ein interaktives Schachbrett voller frauenfeindlicher Sprüche, mit denen Shahade und andere Schachspielerinnen beleidigt worden waren.
Anna Rudolf, die den Titel Internationaler Meister der Frauen trägt, ist zu einer beliebten Veranstalterin von Schach-Streaming auf Twitch geworden und kommentiert Partien live im Netz. Sie erzählte aus der höchsten ungarischen Liga, dass es in den Spielstätten oft keine Damentoiletten gab oder man diese gar nicht erst aufschloss. Rudolf wurde einmal fälschlicherweise beschuldigt, einen Mikrocomputer in ihrem Lippenpflegestift versteckt zu haben, wofür es keinerlei Anhaltspunkte gab – außer womöglich ihrer starken Leistung im Turnier.
Einige Männer stoßen sich daran, dass es Extrapreise für Frauen gibt, und sträuben sich gegen die Vorstellung, dass Frauen, die niedriger eingestuft sind als viele Männer, ihren Lebensunterhalt mit Schach verdienen können, während die überwiegende Mehrheit eben dieser Männer das nicht schafft. Jennifer Shahade sagt dazu:
„In Online-Chats fragen die Leute immer: ‚Warum gibt es Großmeistertitel speziell für Frauen?‘ Sie kennen die Antwort, aber sie wollen das Thema von der weiblichen Unterlegenheit auf den Tisch bringen. Stets kommt dann jemand auf die Hypothese von der größeren männlichen Variabilität zu sprechen – die auf Darwin zurückgehende Idee, dass Männer in ihren Eigenschaften eine größere natürliche Variabilität aufweisen als Frauen und daher eher Männer an den unteren und oberen Extremen der Statistik zu finden sind. Es geht immer in die gleiche Richtung. Sie argumentieren nicht wirklich in redlicher Absicht.“
Hou Yifan berichtet, ihre männlichen Gegner hätten sich ihr gegenüber immer korrekt verhalten. Aber die Art von Bemerkungen, die Shahade beschreibt, werden nicht nur auf Twitter gemacht. Nachdem er Hou im Tiebreak besiegt hatte, behauptete Nigel Short einige Jahre lang, dass Männerhirne einfach in einer Weise verdrahtet seien, die bewirke, dass Männer besser Schach spielten als Frauen.
„Ich habe überhaupt kein Problem damit, anzuerkennen, dass meine Frau eine viel höhere emotionale Intelligenz besitzt als ich. Genauso wenig ist es ihr peinlich, mich zu bitten, das Auto aus unserer engen Garage zu manövrieren. Niemand von uns beiden ist irgendwie besser, wir haben nur unterschiedliche Fähigkeiten.“
Als Short für seine Äußerungen verurteilt wurde, behauptete er, er habe ganz allgemein von einer statistischen Grundgesamtheit gesprochen, bei der die bloße Existenz von Ausnahmen erst einmal nichts beweise. Einem Kritiker auf Twitter antwortete Short, heute Vizepräsident der FIDE:
„Männer und Frauen haben unterschiedliche Gehirne. Das ist eine biologische Tatsache.“
In Wirklichkeit sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse in dieser Angelegenheit alles andere als eindeutig. Es gibt messbare Unterschiede zwischen durchschnittlichen Männergehirnen und durchschnittlichen Frauengehirnen. Aber was diese Unterschiede bedeuten, ist eben nicht ganz klar. Und innerhalb der Geschlechter variiert das Ausmaß von Fähigkeiten dermaßen, dass Unterschiede zwischen Männer- und Frauengehirnen im Grunde noch weniger Aussagekraft besitzen.
In mehreren Studien wurden Unterschiede in den relativen Fähigkeiten von Männern und Frauen festgestellt, 3D-Objekte im Geiste rotieren zu lassen, was einen Einfluss auf das Schachspiel haben könnte – aber diese Fähigkeit ist erlernbar, und andere Studien haben gezeigt, dass sich die durchschnittlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern durch Erfahrung und Training ausgleichen lassen. Und wenn man die biologischen Unterschiede allzu sehr betont, dann kann das Frauen davon abhalten, bestimmte Tätigkeiten auszuüben – diese Hypothese ist in der Forschung zu Geschlechterungleichheiten in den sogenannten MINT-Fächern untersucht worden.
Wenn man mit Schachspielerinnen spricht, fällt auf, wie viele von ihnen die Prämisse akzeptabel finden, dass Männer von Natur aus Vorteile haben.
Eva Repková kommt aus der Slowakei, trägt den Titel „Großmeister der Frauen“ und ist die Vorsitzende der FIDE-Kommission für das Frauenschach, welche die Geschlechtergleichstellung im Schach anstrebt. Im Oktober letzten Jahres zitierte eine indische Zeitung sie mit den Worten, dass „Männer sich von Natur aus eher für Schach und Frauen sich eher für Musik oder das Blumenbinden interessierten“, und dass Frauen nicht die „körperliche Ausdauer“ und den „Kampfgeist“ der Männer hätten.
Auf Nachfrage betont sie, dass ihre Äußerungen aus dem Zusammenhang gerissen worden seien:
„Ich glaube fest an die Gleichstellung der Geschlechter.“
Aber Anna Musytschuk, die ukrainische Großmeisterin, äußerte sich ähnlich über Ausdauer und Wettbewerbsfähigkeit.
Vor ein paar Jahren erwähnte sogar Hou Yifan in einem Interview die Ausdauer als möglichen Vorteil für Männer. Allerdings spielte sie das herunter und wies darauf hin, dass Mädchen davon abgehalten werden, sich hohe Ziele zu stecken.
„Den meisten Mädchen wird schon in jungen Jahren gesagt, dass man irgendwie zwischen den Geschlechtern unterscheidet und dass sie einfach ihr Bestes in der Mädchengruppe geben und damit zufrieden sein sollen. Ohne die Motivation, höhere Ziele anzustreben, ist es für einige Mädchen dann schwieriger, sich so schnell zu verbessern wie es die Jungen tun. Wenn sie dann auf die weiterführende Schule kommen, geht es im Schach wettbewerbsorientierter zu, und sie ziehen sich zurück.“
Nachdem Hou Yifan 2012 Judit Polgár besiegt hatte, verblüffte sie die Schachwelt erneut, und zwar mit der Ankündigung, dass sie nun an der Universität Peking studieren werde –  in Vollzeit. Nur wenige der aktuellen Spitzenspieler haben studiert, und einige haben nicht einmal die High School oder das Gymnasium abgeschlossen. Polgár erzählt, dass sie damals dachte:
„Natürlich kann sie immer noch großartiges Schach spielen, vielleicht sogar ihr Können verbessern. Aber kann man so in die weltweiten Top Ten kommen, sich mit den besten Männern im Schach messen, die allesamt dezidierte Profis sind? Ich glaube, das ist einfach unmöglich.“
Hou aber war mit ihrer Entscheidung im Reinen:
„Ich wollte mein Leben nicht ausschließlich dem Schach widmen.“
Dennoch spielte sie während ihres Studiums hervorragende Partien und erreichte ihre höchste Elo-Zahl, nur knapp unterhalb der der so genannten Supergroßmeister, denen im Allgemeinen der Weltmeistertitel zugetraut wird. Auch an der Uni war Hou erfolgreich, stürzte sich in das Campusleben und belegte eine breite Palette von Kursen außerhalb ihres Hauptfachs Internationale Beziehungen: Geologie, Anatomie, japanische Kunst und Kultur. Hou gewann die Weltmeisterschaft der Frauen erneut 2013 und 2016, als sie ihr letztes Uni-Jahr beendete. Sie war nie besonders freimütig gewesen, aber nach ihrem vierten Titelgewinn erklärte sie, dass sie nicht mehr um den Titel spielen würde, es sei denn, das Format würde dem der Schachweltmeisterschaft angeglichen, die alle zwei Jahre stattfindet und über ein Herausforderer-System funktioniert: Kandidaten kämpfen darum, gegen den amtierenden Champion anzutreten.
Um den Frauentitel wurde jedes Jahr gekämpft; das System wechselte ständig zwischen einem Herausforderer-System und einem K.O.-Turnier, bei dem 64 Teilnehmerinnen, einschließlich der Titelverteidigerin, in Gruppen gegeneinander antraten und im K.O.‑System ausschieden. K.O.-Turniere begünstigen Überraschungen und Chaos, was ihnen eine gewisse Spannung verleiht und vielleicht auch Sponsoren anlockt, aber solche Turniere können nur schwerlich die objektiv beste Spielerin ermitteln. Die FIDE hat 2019 die von Hou Yifan vorgeschlagenen Änderungen fast komplett angenommen.
Nicht nur hier bezog Hou Yifan Stellung. Im Jahr 2017 erschien sie auf einem Turnier in Gibraltar 30 Minuten zu spät zu ihrem Finalrundenspiel und gab nach fünf Zügen auf. Im Nachhinein erklärte sie ihren Protest dagegen, dass sie in sieben ihrer zehn Partien gegen Frauen antreten musste. Beim Turnier gab es viel mehr Männer als Frauen; die Turnierleitung erklärte, Hous Gegner habe man nicht mit Absicht so gewählt; diese Auswahl sei zwar unwahrscheinlich, aber statistisch durchaus möglich gewesen. Hous Rücktritt löste eine ungewöhnlich hitzige Debatte in der sonst so ruhigen Schachwelt aus.
Im Frühjahr 2017 saß Hou Yifan in einem Turnier in Baden-Baden namens Grenke Chess Classic Magnus Carlsen gegenüber. Der 30jährige Norweger ist während Hous gesamter Karriere fast immer der beste Spieler der Welt gewesen. Sie hat ihn noch nie in einer offiziellen Partie besiegt.
Carlsen erlernte das Schachspiel zusammen mit seiner Schwester Ellen. Ihr Vater Henrik beschloss, ihnen Schach beizubringen, als Ellen sechs und Magnus fünf Jahre alt war. Aber beide verloren nach ein paar Monaten das Interesse. Im folgenden Jahr versuchte es der Vater erneut, mit demselben Ergebnis. Einige Jahre später versuchte er es ein drittes Mal und einige Monate später ein viertes Mal; schließlich hatte er Erfolg: Jetzt gefiel das Spiel beiden Kindern. Magnus gefiel es noch mehr als Ellen.
Was hätte Henrik Carlsen getan, wenn Ellen und nicht Magnus sich als vielversprechendes Talent entpuppt hätte?
Carlsen sagt, dass er hoffe, beide gleichermaßen ermutigt zu haben, das aber nicht die richtige Frage sei. Wenn überhaupt, dann habe sich Ellen das Spiel viel leichter angeeignet. Aber Magnus besaß eine Zielstrebigkeit, die seine Schwester nicht hatte.
„Im Alter von vier Jahren konnte er sechs Stunden lang dasitzen und mit Lego bauen. Und wenn er ins Bett ging, hatte er immer noch nichts als Legosteine vor seinen Augen.“
Als Magnus und Ellen anfingen, Schach zu spielen, kamen sie eine Zeit lang gleich schnell voran, doch dann wandte sich Ellen anderen Dingen zu. Magnus war von seinen Hausaufgaben gelangweilt, nahm bald überallhin ein Schachbrett mit und las Schachbücher. Er wollte zu Turnieren gehen, wann immer es möglich war.
Sechs Monate lang reiste die Familie durch Europa und bugsierte Magnus zu Wettbewerben – und Sehenswürdigkeiten. Ellen fing auch wieder mit dem Schachspiel an, ebenso ihre jüngere Schwester Ingrid. Ellen wurde eine starke Vereinsspielerin.
Aber irgendwann hatte sie genug von der Aufmerksamkeit, die sie als eine der wenigen Frauen im Schach erregte, noch dazu als eine Frau mit dem Nachnamen Carlsen. Es machte sie damals nervös, wenn sich die besten Spieler im Saal um ihr Brett versammelten und ihre Züge studierten. Sie hatte nicht das Gefühl, dass ihre Intelligenz jemals abschätzig beurteilt worden sei.
„Ich glaube nicht, dass ich mich jemals in einer Partie irgendeinem der Typen gegenüber intellektuell unterlegen fühlte. Ich denke, den meisten Menschen ist klar, dass ihr Ranking im Schach nicht mit ihren intellektuellen Fähigkeiten identisch ist.“
Magnus Carlsen, ihr Bruder, wurde mit 13 Jahren Großmeister und ein Jahrzehnt später Weltmeister. Ellen wurde Ärztin.
Es gibt einige Leute, die glauben, Hou Yifan wäre weiter aufgestiegen, wenn sie sich im Leben ausschließlich aufs Schach konzentriert hätte. Hou blieb ein gerngesehener Gast auf Turnieren, auch auf denen mit den besten Spielern der Welt. Sie hatte eine Kanne Tee dabei, war ruhig, modisch gekleidet und oft die einzige Frau vor Ort.
2020, während der Pandemie, organisierte Magnus Carlsen eine Online-Schachtour mit fünf Veranstaltungen und einem Gesamtpreisgeld von einer Million Dollar. Er gewann. Mittlerweile heißt sie „Meltwater Champions Chess Tour“ und wurde 2021 um einen Herausforderer-Wettbewerb erweitert, der die Gleichstellung der Geschlechter fördern soll. Zu den Herausforderern gehören zehn der besten Mädchen und Frauen unter 24 Jahren und zehn der besten Jungen und Männer. Sie werden in zwei gemischtgeschlechtliche Teams aufgeteilt, von denen das eine von Wladimir Kramnik und das andere von Judit Polgár angeführt wird.
Hou Yifan coacht Kramniks Team. Polgár sagt, dass es nicht darum gehe zu zeigen, dass die Mädchen mit den Jungen mithalten können – zum einen sind die Elo-Zahlen der Jungen fast durchweg höher, und das spiegelt sich auch in der bisherigen Tabelle wider.
„Sie sind nicht schlechter als die Jungen, weil sie Mädchen sind. Sie sind schlechter, weil sie nicht genauso lange mit genauso viel Konzentration und Hingabe spielen.“
Soll man sein Leben darauf verwenden, das Schachspiel zu meistern oder eher Schach nutzen, um sein Leben zu bereichern? Dazu ließe sich so Einiges sagen. Frauen sind mittlerweile in Bereichen abseits der Turniere erfolgreich, wie zum Beispiel im Online‑Streaming, das während der Pandemie auf Twitch und YouTube immer beliebter geworden ist. Alexandra und Andrea Botez, zwei charismatische Schwestern aus Kanada, haben fast eine Million Follower auf Youtube; Alexandra ist in der FIDE-Rangliste nicht unter den ersten 25.000, aber in einem Interview mit CNBC schätzte sie, dass sie in diesem Jahr durch Streaming und Sponsoring „mindestens einen mittleren sechsstelligen Betrag“ verdienen wird.
Jennifer Shahade sagt, dass in den letzten Jahren immer mehr Mädchen in Schulen und lokalen Vereinen spielen. Die U.S. Chess Women Initiative hat ein solides – und stetig wachsendes – Programm für Mädchenclubs auf Zoom. Die FIDE Commission for Women's Chess, die von Eva Repková geleitet wird, versucht, die Zahl der Schiedsrichterinnen und Turnierfunktionärinnen zusätzlich zu den Spielerinnen zu erhöhen. Will man etwas gegen die Geschlechterungleichheit an der Spitze tun, muss man die Ungleichheit an der Basis ins Visier nehmen, sagt auch der ehemalige Weltmeister Garri Kasparow.
„Man kann eine ganz ähnliche Diskussion darüber führen, warum das Ensemble der Großmeister nicht diverser ist, was Herkunftsländer und -kulturen oder Ethnien angeht. Die Talente sind gleichmäßig verteilt, aber nicht die Chancen.“
Doch darum geht es Hou nicht.
Sie hat mit einer Gruppe von Psychologen und Statistikern an einem Forschungsaufsatz gearbeitet, der untersucht, warum es so wenige Frauen auf allen Leistungsniveaus im Schach gibt.
„Ich bin sicher, dass mein zukünftiges Leben eine Verbindung zum Schach aufweisen wird, vielleicht sogar eine sehr tiefe. Diese Verbindung ist die ganze Zeit da.“
Die Erkenntnisse, die sie beisteuert, hat sie im Laufe ihrer eigenen Karriere gewonnen. Unabhängig davon, ob es einen „angeborenen Unterschied“ zwischen Männern und Frauen gibt oder nicht, interessiert sie sich für die Art und Weise, wie die Gesellschaft uns formt.
Aus dem Amerikanischen von Pascal Fischer