Donnerstag, 28. März 2024

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Dunkle Seiten der Demokratie
Die Geschichte der Scheinreferenden und Scheinwahlen

Manipulierte Massenabstimmungen und Wahlen gehören seit über 200 Jahren zur Geschichte der politischen Partizipation und zeigen, wie problematisch und wenig heroisch Demokratiegeschichte häufig ist.

Von Hedwig Richter | 20.11.2022
Ausgefüllte Wahlzettel zum Ukraine-Referendum vom 27.09.2022 stapeln sich auf einem Tisch.
Scheinreferenden wie im September 2022 in den besetzten Gebieten der Ukraine haben nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion eine lange Tradition (IMAGO / SNA / IMAGO / Ramil Sitdikov)
Warum ließ Russland in den besetzten Gebieten im Osten der Ukraine Scheinreferenden abhalten? Über solche Art Massenabstimmungen und Wahlen, die von oben orchestriert sind und die Bevölkerung überwältigen, scheint es nicht viel zu sagen zu geben, weil ihr Unrechtscharakter offensichtlich ist. Doch haben diese Fake-Abstimmungen eine lange Geschichte, die am Ende des 18. Jahrhunderts unter Napoleon Bonaparte beginnt. Wahlen dienten dabei keineswegs nur dazu, den Willen des Volkes zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr haben sie die unterschiedlichsten Funktionen erfüllt, etwa die Legitimierung traditioneller Herrschaft oder die Disziplinierung der Bevölkerung.
Hedwig Richter lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Sie forscht über die Demokratiegeschichte, Migration, Geschlechtergeschichte im 19. und 20. Jahrhundert in Europa und in den USA. Zuletzt erschienen von ihr bei Suhrkamp „Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich“ (2021) und bei C.H. Beck „Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ (2020).
In den besetzten Gebieten im Osten der Ukraine hat Russland im September 2022 Scheinreferenden durchgeführt. Der russische Staatspräsident Wladimir Putin bediente sich auch hier wie schon so oft einer alten sowjetischen Tradition: Unter sowjetischer Hegemonie gab es seit 1937 regelmäßig manipulierte und gefälschte Wahlen und Referenden.
Beispielsweise ließ Stalin nach dem Überfall auf Polen im September 1939 [*] die Annexion einiger besetzter Territorien mit einem Plebiszit bestätigen. Die Abstimmung verlief extrem gewalttätig; ein Dorf, das sich der Zustimmung verweigerte, wurde niedergebrannt. Zudem mussten über Jahrzehnte hinweg alle von der Sowjetunion dominierten sozialistischen Länder Scheinwahlen abhalten.

Wahlen und Abstimmungen zur Disziplinierung der Bevölkerung

Doch die Geschichte der Scheinreferenden geht deutlich weiter zurück. Seit dem Beginn der modernen Demokratie am Ende des 18. Jahrhunderts werden solche Abstimmungen durchgeführt. Als Teil der höchst widersprüchlichen Geschichte der Massenpartizipation verdeutlichen sie, dass die Demokratie auch dunkle Seiten hat. Wahlen und Abstimmungen dienten keineswegs nur dazu, den Willen des Volkes zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr haben sie in den letzten über 200 Jahren auch zahlreiche eher undemokratische Funktionen erfüllt - etwa die Festigung traditionaler Herrschaft oder die Disziplinierung der Bevölkerung. Doch insbesondere die Scheinwahlen im 20. Jahrhundert zeigen noch etwas Neues: Sie imitieren die Prozeduren freier und demokratischer Wahlen, weil deren Ideale von Gleichheit und Freiheit inzwischen den Standard setzen. Damit unterstreichen sie zugleich die Stärke und Attraktivität der westlichen Demokratien.
Wenn man die Französische Revolution für einen der Ursprünge der modernen Demokratie hält, in der es um den Anspruch auf universelle Gleichheit geht, dann kann man sagen, dass die von oben gesteuerte Partizipation von Anfang an Teil der Demokratiegeschichte war. Sie zeigt einen wichtigen Entwicklungspfad der Demokratie auf: die Disziplinierung der Bevölkerung, um sie für den Staat nutzbar zu machen. Zugespitzter Ausdruck dieser frühen Demokratisierung sind die akklamatorischen Abstimmungen in Frankreich mit extrem hohen Zustimmungswerten. Viermal mussten die französischen Bürger den Willen Napoleons bestätigen - zum ersten Mal 1799, zuletzt 1815. Das bemerkenswerteste Plebiszit war das von 1804: Mit ihm ließ Napoleon das Volk die Abschaffung der Republik besiegeln. Das Ergebnis stand von vornherein fest.
Nur auf den ersten Blick ist es erstaunlich, dass gerade Frankreich eine so alte Tradition der manipulierten Partizipation aufweist. Denn erstens gab es hier die auf Rousseau zurückgehende Vorstellung einer""Volonté Générale"- einer allgemein geteilten Vorstellung vom Gemeinwohl -, die abweichende Meinungen diskreditierte und nur wenig zu tun hatte mit dem liberalen Mehrheitsprinzip. Zum anderen hatte sich mit der Französischen Revolution das „suffrage universel“, also das allgemeine und gleiche Wahlrecht als Inbegriff bürgerlicher Gleichheit und Freiheit für Männer durchgesetzt. Es galt geradezu als „sacre du citoyen“ - als das Heiligtum des Bürgers, wie es der Demokratiehistoriker Pierre Rosanvallon ausdrückt. Da sich Napoleon als Vollender der französischen Revolution präsentierte, war er auf die Legitimation des „suffrage universel“ angewiesen.

Plebiszite zum Ruhme Napoleons

Der Ablauf der Plebiszite zeigt, wie die Bürger zentral erfasst, mobilisiert und diszipliniert wurden. Auch im entferntesten Winkel des Landes wurden die Menschen aufgesucht, die Individuen gezählt und zu einem homogenen Subjekt transformiert, über das nach Paris numerisch gesicherte Zustimmung gemeldet wurde. Genauso wichtig wie hohe Zustimmungsraten war eine hohe Wahlbeteiligung.
Erst relativ spät, nämlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, fand die historische Forschung heraus, wie hochgradig gefälscht bereits das erste napoleonische Referendum von 1799 war. Das amtliche Endergebnis lag bei sagenhaften 99,9 Prozent mit drei Millionen Ja-Stimmen. Trotz allem Druck, der auf die Bürger ausgeübt worden war, und trotz aller Mühen hatte der Innenminister, Napoleons Bruder Lucien Bonaparte, den gemeldeten Stimmen mindestens 900.000 fingierte Ja-Stimmen hinzugefügt.
Mit dieser organisatorischen Leistung demonstrierte der Staat nicht zuletzt beeindruckend seine Stärke. Immerhin war Frankreich am Ende des Direktoriums in einem desaströsen Zustand, der teilweise ans Anarchische grenzte, mit herumstreunenden Banden, Gewalt und immer wieder mit fatalen Hungersnöten. Die Bürger hatten eigentlich Besseres zu tun, als Plebiszite zum Ruhme Napoleons abzuhalten.
Auch bei weiteren Wahlen und Abstimmungen versicherten sich französische Regierungen immer wieder der allgemeinen Zustimmung. Der Historiker Jeff Horn sieht hier eine „electoral machine“ am Werk - eine Wahlmaschine der Staatsmacht. Und die Politikwissenschaftlerin Christine Guionnet spricht von der „vote de soumission“, also von der Wahl als Unterwerfung. Und tatsächlich gehört die demonstrative Unterwerfung des Citoyens bei der Wahl zu den Mustern dieser von oben orchestrierten Partizipation.
Ein weiteres Muster findet sich bereits unter Napoleon: die performative Kraft des Festes. Um die Symbolik der Volkserfassung, -beteiligung und -zustimmung zu verdeutlichen, wurden die glänzend hohen Abstimmungsergebnisse oft mit rauschenden Festen gefeiert, mit Freibier, Musik und Feuerwerk.

Problematische Rolle der Eliten

Wahlen dienten nicht nur bei Referenden zur Bestätigung alter Eliten, sondern auch bei den zahlreichen Wahlen mit einem „suffrage universel“, oder, wie es im Deutschen hieß, bei „allgemeinen Wahlen“. Diese fanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer öfter und auf allen Ebenen statt - auch in deutschen Ländern. Auf lokaler Ebene etwa festigten in den Städten vor allem kaufmännische Honoratioren ihre Position. Alte Grundbesitzerfamilien in Frankreich, Preußen oder den USA vererbten quasi Wahlämter innerhalb ihrer Familien.
Wer also glaubt, Demokratie sei immer etwas von unten Erkämpftes oder immer ein Effekt von Revolutionen, übersieht diesen Traditionsstrang und die eminent wichtige und häufig sehr problematische Rolle, die Eliten dabei spielten. Dafür spricht auch, dass die Wahlbeteiligung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den Wahlen mit einem Anspruch auf Allgemeinheit fast überall ausgesprochen niedrig war - die Bürger selbst hatten also ein recht eingeschränktes Bedürfnis nach Partizipation. Zunächst ließ sich nur mit extremem Druck von oben eine höhere Wahlbeteiligung erzielen.
Tatsächlich waren die stark manipulierten und von oben dirigierten Abstimmungen und Wahlen immer eine Ausnahme, aber sie bildeten doch eine Konstante in der Geschichte der modernen Demokratie. Die Regierenden bedurften der Bürger bei der Stimmabgabe als Legitimationsspender, doch die Masse der Bürger war nicht berechenbar. Als Reaktion auf die neue, ungewohnte Unsicherheit tauchten bei allen Wahlen mit einem allgemeinen Anspruch im 19. Jahrhundert Korruption und Manipulation auf. Besonders stark wurden Wahlen übrigens in den USA manipuliert. Weltweit aber wollten insgesamt nur einige wenige Herrscher ganz auf Nummer sicher gehen und die Wahlen komplett steuern.

Bonapartismus von anderen Ländern verachtet

Berühmtestes Beispiel im 19. Jahrhundert wurden die Wahlen unter Napoleon III. 1851/52 führte der gewählte Präsident der Zweiten Französischen Republik, Louis Napoleon (der Neffe Napoleons), einen Staatsstreich durch und installierte das Zweite Kaiserreich, zu dessen Kaiser Napoleon III. er sich erhob. All das ließ er durch Scheinplebiszite absegnen, für die er wieder das zuvor abgeschaffte „suffrage universel“ einführte.
Napoleon und sein Neffe brachten das „suffrage universel“ und demokratische Ideale in Verruf. Ihr System wurde als „Bonapartismus“ berühmt berüchtigt, und in anderen Ländern blickte man voller Verachtung auf das Phänomen. Leopold von Gerlach schrieb 1852 an Otto von Bismarck: Napoleon hat das „tiefsinnige Wort […] gesagt“, er wolle „überall die Republik, aber mit einer Diktatur“. Massenwahlen bewiesen für diese Hochkonservativen, wie falsch die Gleichheitsidee sei und alle demokratischen Bestrebungen. Letztlich, so ihre Argumentation, führte all das wie in der französischen Revolution zu Unfreiheit und Terror. Die Herrschaft mit „allgemeinen Wahlen“ mit ihrem Anspruch auf Gleichheit definierte Gerlach als eine „Alliance“ des „Despotismus mit dem Jakobinismus“.
Als Bismarck 1866 dennoch dafür sorgte, dass im Norddeutschen Bund das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht eingeführt wurde, waren viele Zeitgenossen alarmiert. Nicht nur die Konservativen. Friedrich Engels schrieb entsetzt an Marx, Bismarck habe da mit dem „suffrage universel“ einen Coup gelandet und, so hieß es wörtlich weiter, wie „es den Anschein hat, wird der deutsche Bürger nach einigem Sträuben darauf eingehn, denn der Bonapartismus ist doch die wahre Religion der modernen Bourgeoisie“.
Allerdings: Nach den Wahlen zum konstituierenden Reichstag im Frühjahr 1867, die relativ frei und fair verlaufen waren, schrieb Engels an Marx:
„In Deutschland ist 'noch lange nicht das zu machen […], was in Frankreich [mit den Wahlen] gemacht werden kann'.“

Wahltechniken zur Geheimhaltung installiert

Mit der Massenpolitisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es nicht nur einen verschärften Missbrauch der Massenwahlen und Massenabstimmungen durch Eliten, sondern auch die Abwehr dagegen. Im Deutschen Reich, in Frankreich, in Amerika und zahlreichen weiteren Ländern setzten progressive Kräfte um 1900 jene Wahltechniken durch, die bis heute demokratische Wahlen auszeichnen: standardisierte Wahlkabinen, Urnen und Stimmzettel sowie ein genaues Prozedere für die Stimmabgabe, sodass die Geheimhaltung tatsächlich garantiert werden konnte. Diese forcierte Geheimhaltung der Wahlen signalisierte eine neue Funktion von Wahlen, nämlich als rationale Entscheidungsfindung der Politik, die nicht mit anderen Systemen kollidieren sollte: Weder der Fabrikherr noch der Großgrundbesitzer, weder Kirchen, die Familie noch die Dorfgemeinschaft oder sonst ein anderer gesellschaftlicher Bereich sollten das freie, gleiche und sachlich begründete Votum des Bürgers beeinträchtigen.
Von Wahlmaschinen und Onlinewahlen abgesehen, zeichnen diese Wahltechniken bis heute liberale Demokratien aus. Es ist ein klar geregeltes Verfahren, geradezu ein Ritus. Die Zeit der Massenpolitisierung in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, in der in vielen Ländern ein allgemeines Männerwahlrecht galt, in der diese Wahltechniken zur Geheimhaltung installiert wurden, in der in vielen Ländern laut und deutlich das Wahlrecht auch für Frauen eingefordert wurde - diese Zeit setzte Standards, die bis heute gelten. Von nun an konnte sich eine Staatsmacht kaum noch ohne Bestätigung durch die Bevölkerung legitimieren: Wer sich zur sogenannten „Zivilisation“ zählte, musste darauf zurückgreifen. In Deutschland mit dem modernen allgemeinen Männerwahlrecht und einem durchaus mächtigen Reichstag galt das ebenso wie in Frankreich, Belgien, den USA oder Dänemark.
Auch die künftigen autoritären und totalitären Regime fühlten sich dann in verquerer Weise diesem Standard verpflichtet. Seit den zwanziger Jahren fanden solche Scheinwahlen in Italien oder Lateinamerika statt. Auch Hitler setzte ganz auf Massenpartizipation und auf von oben gelenkte Wahlen und Plebiszite. Dabei wird deutlich: Wahlen sind immer auch ein performativer Akt. Die wählende Person bekräftigt stets die gesellschaftliche Ordnung durch die Teilhabe am Wahlakt. Sie wird Teil des sich durch die Wahlen konstituierenden Volkes, das in Einmütigkeit seine prinzipielle Zustimmung demonstriert.

Nazis zerstörten die liberale Demokratie

Die Nazis wollten keinesfalls auf die in Deutschland teilweise weit über 100 Jahre alte, anerkannte Tradition einer Legitimation durch Wahlen verzichten. Sie gaben der Partizipation aber neue Funktionen. Wahlen und Plebiszite im Nationalsozialismus waren ein Propagandainstrument und wurden als Spektakel und rauschendes Volksfest aufgeführt. Etwa die Reichstagswahlen am 29. März 1936, bei denen zugleich eine Volksabstimmung über die Remilitarisierung des Rheinlands stattfand. Die Deutschen feierten, jubelten - und stimmten ab. Zwei Zeppeline zogen während des Wahltages über Deutschland - von Osten bis an den Rhein - und warfen Flugblätter ab: „Deine Stimme dem Führer.“ Obwohl jeder mit Ergebnissen von über 95 Prozent gerechnet hatte, sorgten die absoluten Raten doch für Erstaunen: Bei einer angeblichen Wahlbeteiligung von 99 Prozent hatten nach amtlichen Meldungen 98,8 Prozent ihr Kreuz bei der einzigen Möglichkeit auf dem Stimmzettel gesetzt: bei der NSDAP. Die Nazi-Größen konnten ihr Glück kaum fassen. Goebbels schrieb:
„Das Volk ist aufgestanden, der Führer hat die Nation geeinigt. So hatten wir uns das in unseren kühnsten Träumen nicht erhofft. Wir sind alle wie benommen“.
Hier wurde auf pervertierte Weise einmal mehr die Kraft des „suffrage universel“, des allgemeinen und gleichen Wahlrechts deutlich, ihre umfassende, weltweit anerkannte Legitimationsfunktion: Im Zeitalter der Massen boten Teilnahme und Zustimmung des „Volkes“ eine nicht nur unverzichtbare, sondern auch eine unüberbietbare Legitimation. Welches Argument konnten Großbritannien, Frankreich oder der Völkerbund gegen Adolf Hitler vorbringen, wenn das „Volk“ hinter ihm stand? Dass dabei 1936 erstmals nicht mehr Jüdinnen und Juden mitwählen durften, übersah man dabei auch im Ausland.
Die Nazis zerstörten die liberale Demokratie, indem sie „Demokratie“ von allen retardierenden Momenten eines „Checks and Balances“ lösten, von Minderheitenschutz, vom Rechtsstaat - von der Menschenwürde. Diese Versimplifizierung der Demokratie findet sich bis heute bei Populisten und Faschisten. 1936 rief Hitler bei einer Wahlkampfrede:
„Ich habe nicht die Demokratie beseitigt, sondern sie vereinfacht, indem ich mich nicht zur Zuständigkeit der 47 Parteien, sondern zur Zuständigkeit des deutschen Volkes selbst bekannt habe.“
Die ausländischen Korrespondenten ließ Hitler wissen:
„Wir wilden Deutschen sind bessere Demokraten als andere Nationen.“
An der Ablehnung der - wie er es nannte - „fremden Demokratie“, wie sie in Deutschland vor 1933 geherrscht habe, ließ Hitler allerdings keinen Zweifel. Er sprach mit Abscheu von „sogenannten großen Demokratien“ oder auch von „kapitalistischen Demokratien“.
Für die Imitation von „Demokratie“ jedoch reichte ein reiner Akt der Akklamation nicht aus. Daher mussten die Wahlen nach dem bekannten Ritus ablaufen mit einheitlichem Stimmzettel, Wahlkabine, Urne und so weiter. Manipulationen und Fälschungen waren zugleich massiv. Parteigenossen kennzeichneten etwa die Wahlumschläge von verdächtigen Personen oder kontrollierten die Wahlkabinen. Doch waren die Fälschungen nicht so massiv, dass sie das Ergebnis grundsätzlich verfälschten.
Und auch hier zeigte sich das alte Muster: Die hohe Zustimmungsrate musste durch eine hohe Wahlbeteiligung bestätigt werden - und nicht nur durch nachträglich gefälschte Statistiken. Ab dem Mittag klingelten Hitlerjugend und zahllose Parteigenossen direkt an den Haustüren säumiger Wählerinnen und Wähler. Doch es konnte vereinzelt auch brutaler werden. Immer wieder fanden sich SA-Leute und die deutsche Bevölkerung bereit, die Abweichler öffentlich zu denunzieren und zu schänden. Ein Kaplan und seine Haushälterin im Saarland etwa wurden von den Dorfbewohnern johlend durch die Gassen getrieben, weil sie mit Nein gestimmt hatten.

Sowjetische Wahlen und Abstimmungen mit westlichen Standards

Auch Stalin wollte nicht auf die Insignien demokratischer Herrschaft verzichten. Ähnlich wie die NS-Wahlen hielten sich die sowjetischen Wahlen und Abstimmungen an die westlichen Standards mit Wahlkabine, Wahlurne und vorgeblich geheimem Wahlrecht. Bei diesen sowjetischen Wahlen, die dann in alle okkupierten Länder und in alle Staaten im sowjetischen Imperium exportiert wurden, wurde mit großer Regelmäßigkeit ein merkwürdiges Spektakel aufgeführt, um die westlichen demokratischen Standards zu imitieren.
Die staatssozialistischen Wahlen standen klar in der Rousseauschen Tradition einer Volonté Générale, darauf verweist der Historiker Jan C. Behrends. Die sozialistischen Machthaber wähnten sich ja bereits im Besitz der Wahrheit; die für liberale Demokratien so wichtige Wahlfunktion, per Mehrheitsbeschluss eine politische Lösung zu finden, weil man in der Politik nicht die reine Wahrheit zur Verfügung hatte, war im Staatssozialismus überflüssig.

Pseudo-Partizipation in der DDR

Beispielhaft sollen hier die Urnengänge in der DDR in den Blick genommen werden. Seit den 1950er-Jahren sorgte die Sozialistische Einheitspartei für die sogenannte Einheitsliste der Nationalen Front, die den Wählern keine Wahl mehr ließ und vorgab, wen man zu wählen hatte. Die Bürger erhielten beim Wahlakt diese Liste auf dem Wahlzettel, den sie nur zu falten und in die Urne zu stecken hatten. Falls eine Wahlkabine da war, stand sie häufig weit entfernt vom Wahltisch, sodass ihre Benutzung einen Skandal bedeutete - und von der Wahlkommission in aller Regel genau registriert und gemeldet wurde. In der Kabine konnte der Bürger von der Möglichkeit Gebrauch machen, einzelne Kandidaten von der fertigen Liste zu streichen. All das - Wahlkabinennutzung oder Streichung eines Kandidaten - galt als ähnlich staatsgefährdend wie das Nichtwählen.
Zunächst empfanden viele Bürgerinnen und Bürger das Prozedere und die angebliche fast hundertprozentige Zustimmung als Hohn und tiefe Demütigung. In einem anonymen Brief an die staatlichen Autoritäten hieß es unter Anspielung auf den Nationalsozialismus:
„Es gab bereits einmal ein Ergebnis 99 Prozent! Entsinnen Sie sich? So etwas ist nur in totalitären Staaten möglich.“
Die Menschen gewöhnten sich jedoch schleichend an diese Pseudo-Partizipation - ohne freilich an ihre Legitimationskraft zu glauben. Auch im nicht-sozialistischen Ausland provizierten die Wahlen eher Hohn als irgendeinen legitimatorischen Effekt. Es ist bemerkenswert, dass sich die sozialistischen Regime gleichwohl der Mühe solcher Wahlen immer wieder unterzogen.
Denn eine „real-sozialistische“ Wahl war hoch komplex, ein organisatorisches Meisterwerk, das einer Vorlaufzeit von vielen Monaten bedurfte. Auch hier galt: Trotz aller Fälschung wollten die Herrschenden die Wählerinnen und Wähler tatsächlich zur Stimmabgabe bringen. So erwiesen sich die Wahlen als ein neuralgischer Punkt, an dem das Regime in Kontakt mit der Bevölkerung trat. In Wahlversammlungen in Wohnblocks oder bei der Arbeit stellte sich der Kandidat den Menschen vor, hörte sich die Probleme an und versprach Abhilfe: eine Ausbesserung der Straße, ein besserer Aufenthaltsraum in der Fabrik, bessere Arbeitsbedingungen.
Den kritischen Bürgerinnen und Bürgern schenkte das Regime im Vorfeld der Wahlen noch mehr Aufmerksamkeit. Zu ihnen gehörten die Pfarrer, mit denen sich Kandidaten, Parteileute und sonstige Funktionäre zu sogenannten „Wahlgesprächen“ trafen. In diesen Gesprächen konnten die Kirchenleute - informell natürlich, aber hoch konkret - für ihre Wahlstimme einen Preis aushandeln: etwa Kirchenchorauftritte im Krankenhaus, Einreise- und Baugenehmigungen oder Kohle für die Beheizung der Kirche.
Am Wahltag stand für die Funktionäre der DDR die mühselige Arbeit des Überwachens an. Als Überwachungsinstanz dienten zahlreiche Institutionen, in denen Berichte verfasst wurden: die staatlichen und die SED-Behörden, die Staatssicherheit oder die Wahlausschüsse. Bereits in den frühen Morgenstunden liefen in Berlin erste Telegramme ein. Im Laufe des Tages wurden die Informationen regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht. Besonders penibel überprüfte die Stasi das Wahlverhalten ihrer Spitzel.
Wie bei den Nationalsozialisten holten Wahlschlepper die Menschen von Zuhause ab, und Wahlhelfer gingen mit der Urne von Haustür zu Haustür. Um den Wahlschikanen zu entgehen, verließen manche DDR-Bürger am Wahltag den Wohnort für eine Dienstreise oder einen Familienausflug. Zwar existierte offiziell keine Wahlpflicht - was für fast alle elektoralen Diktaturen gilt, um die Glaubwürdigkeit des Wahlritus zu steigern -, doch die Nichtteilnahme konnte bei allen sich bietenden Gelegenheiten sanktioniert werden: ob bei der Ausbildung der Kinder, bei Dienstreisen ins Ausland oder bei Urlaubsfahrten. Als besonders effektiv erwies sich die Kollektivbestrafung: Der Wohnblock wurde nicht renoviert oder das Arbeitskollektiv erhielt keine Zulage.
Wer sich dem Druck von oben, dem psychischen Druck der anderen, wer sich dem wie von selbst laufenden Getriebe entzog, musste außerordentliche Zivilcourage besitzen.

Häufig offenbaren erst solche Wahlen, wer oppositionell ist

Hat eigentlich irgendjemand tatsächlich an diese Wahlen und Abstimmungen geglaubt? In der wenig integrierten französischen Gesellschaft um 1800, in der viele Menschen kaum an Informationen kamen, konnte man mit der Verkündigung der fast 100 Prozent vermutlich wirklich einen gewissen Eindruck erzielen. Doch schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, unter Napoleon III., war das bei einer höher alphabetisierten Bevölkerung und bei einer wachsenden Öffentlichkeit kaum noch möglich. Das System diskreditierte sich damit selbst und brachte das demokratische Wahlrecht international in Verruf. Im Nationalsozialismus aber manifestierten die Wahlen nicht zuletzt die echte Begeisterung eines Großteils der Bevölkerung. Allerdings trugen auch in der NS-Zeit diese Art Wahlen zur Delegitimierung bei, weil sie für einige Bürger und ausländische Beobachter für den Unrechtscharakter des Systems standen. Dem Sozialismus sowjetischer Prägung hingegen war es nie im gleichen Ausmaß gelungen, die Massen zu begeistern. Nur sehr selten findet man hier den Nachweis, dass tatsächlich jemand an diese Wahlen geglaubt hat.
Warum also fand dieser aufoktroyierte Ritus der Scheinwahlen trotzdem immer wieder statt? Drei Punkte seien hier zusammenfassend genannt:
Erstens: Scheinwahlen sind eine Propagandaveranstaltung, eine Massenmobilisierung, mit der Einigkeit demonstriert werden soll - eine Einigkeit des „Volkes“ zur Legitimation der Staatsmacht. Die Konstruktion des „Volks“ ist ein wichtiger Faktor. Daher ist es bei diesen Wahlen und Volksabstimmungen auch so wichtig, tatsächlich möglichst alle Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren und nicht nur nachträglich die Statistiken zu fälschen. Jede und jeder Erwachsene soll den Staatsakt der Wahl vollziehen. Napoleonische Staatsbeamte krochen in die abgelegensten Bergdörfer Korsikas, die Hitlerjugend trommelte die Nichtwähler aus dem Haus, SED-Funktionäre durchkämmten die Altenheime - und Putins Helfer ließen kein Krankenbett aus. Dazu gehörte es meistens auch, nicht nur jene Bürger mit einer Strafe zu bedrohen, die irgendwie abweichend wählten, sondern ebenso die Nichtwähler. Denn eine Bürgerin, die nicht wählt, entzieht sich der Performanz der Einheit und dem Ritus der Unterwerfung. Die elektoralen Diktaturen schufen damit auch eine Art Komplizenschaft mit der großen Mehrheit der Wählenden.
Die Unterwerfung ist der zweite Punkt. Viele ehemalige DDR-Bürgerinnen und -Bürger berichten, wie demütigend es war, an diesen Wahlen teilzunehmen. Dass der Staat die Gewalt über sie hatte und sie zum Wählen zwingen konnte, war eine Machtdemonstration. Wahlen dienten der Disziplinierung - wie jetzt in den besetzten Gebieten der Ukraine schmerzhaft deutlich wird. Häufig offenbaren erst solche Wahlen, wer oppositionell ist, wer der Diktatur widersteht und künftig stärker überwacht werden muss.
Drittens demonstrieren die Scheinwahlen im 20. und 21. Jahrhundert paradoxerweise die Attraktivität der liberalen Demokratie. Selbst Diktaturen konnten und können nur schwer auf demokratische Herrschaftsinsignien wie Wahlen oder ein Parlament verzichten. Damit unterwerfen sie sich symbolisch dem Konsens von Gleichheit und Freiheit.
Auch wenn es bedeutende Unterschiede in den verschiedenen Ländern und Systemen gab, so zeigen sich doch klare Muster. Vor allem wird deutlich: Es lohnt sich, die Geschichte der Demokratie nicht zu purifizieren, sondern auch ihre dunklen Seiten in die Analyse einzubeziehen. Dass sich in westlichen Ländern - und nicht nur dort - die liberale Demokratie herausgebildet hat, ist alles andere als selbstverständlich und ganz gewiss kein Ergebnis einer zielgerichteten Geschichte.
[*] Wir haben die falsche Jahreszahl des Überfalls auf Polen korrigiert.