Obwohl es derzeit noch für keinen Antrag zur allgemeinen Impfpflicht im Deutschen Bundestag eine erkennbare Mehrheit gibt, setzt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach weiterhin auf einen Erfolg. "Ich hoffe nach wie vor, dass das gelingt", sagte der SPD-Politiker im Interview der Woche im Deutschlandfunk.
Lauterbach verteidigte noch einmal das Vorgehen, die Entscheidung in die Hände des Bundestages und der Fraktionen zu legen, auch wenn dieser Weg sehr schwer sei. Er glaube "nach wie vor, dass das zum Schluss zum Erfolg führen wird. Das heißt, ich glaube, wir werden am Donnerstag einen Antrag zur allgemeinen Impfpflicht durchbringen."
Auf ein mögliches Scheitern des Vorhabens bereite sich Lauterbach dem Bekunden nach nicht vor. "Gar nicht. Also, wenn es so ist, dann ist es so. Dann müssen wir ehrlich damit umgehen", sagte der 59-Jährige im Deutschlandfunk. "Ich glaube es aber nicht. Es wird bis zur letzten Stunde darum gerungen."
Keine Fehler beim Infektionsschutzgesetz
Gegen die anhaltenden Kritik am neuen Infektionsschutzgesetz und dem Ende der allgemeinen Maskenpflicht verteidigte sich der Gesundheitsminister mit dem Verweis auf Sachzwänge: "Ich hatte keine rechtliche Grundlage, ein Infektionsschutzgesetz zu verabschieden, wie es optimal gewesen wäre", betonte Lauterbach.
Er habe sich dafür eingesetzt, dass die Maskenpflicht weiter beibehalten wird, dass es bundesweit zumindest für einen weiteren Monat die Möglichkeiten von Hygienekonzepten oder auch von Abstandsgeboten und Einlasskontrollen geben sollte.
Er sei damit aber an den rechtlichen Hürden gescheitert, die ihm Justizminister Marco Buschmann (FDP) aufgezeigt habe. "Denn das ist eine Beschneidung der Freiheiten der bereits Geimpften, um damit - ich sage mal in Anführungsstrichen - 'nur' die Ungeimpften zu schützen. Und das ist also nicht mehr möglich".
Ohne Rechtsgrundlage kein politischer Spielraum
Und wenn es keine Rechtsgrundlage mehr für solche Einschränkungen gebe, "dann gibt es auch keinen politischen Spielraum. Dann spielt das, was man politisch will, keine Rolle mehr. Und das ist hier die Situation", betonte Lauterbach.
Aber als Bundesgesundheitsminister empfehle er, genau wie die Fachgesellschaften und der Expertenrat weiterhin das Maske tragen. "Und somit appelliere ich an die Bürger, die Maske weiter zu tragen, gerade in den Innenräumen".
Das Interview in voller Länge
Finthammer: Wenn Sie jetzt in der kommenden Woche einkaufen gehen, ziehen Sie dann noch eine Maske an?
Lauterbach: Ja, ganz klar. Ich ziehe die Maske an, denn wir haben ja extrem hohe Infektionszahlen. Das heißt, das Risiko, sich zu infizieren, ist selten höher gewesen als jetzt. Ich bin zwar geimpft, geboostert, aber trotzdem ziehe ich die Maske an, weil ich mich nicht infizieren will und das rate ich auch jedem Bürger.
Finthammer: Dann müssen Sie aber doch damit rechnen, dass die übrigen Kunden Sie komisch anschauen werden. Denn nach den geltenden Bundesgesetzen beziehungsweise Landesgesetzen sind ja keine Masken mehr notwendig.
Lauterbach: Das stimmt. Aber es ist auch kein Maskenverbot ausgesprochen worden. Und der Bundesgesundheitsminister empfiehlt ja, genau wie auch die Fachgesellschaften und der Expertenrat, die Wissenschaftler, wir empfehlen ja alle weiterhin das Masketragen. Und somit appelliere ich an die Bürger, die Maske weiter zu tragen, gerade in den Innenräumen. Wir wissen, wie hochansteckend die Omikron-Variante ist und somit: Die Maske sollte in den Innenräumen immer getragen werden.
"Für Ungeimpfte ist nicht mehr viel Schutz möglich"
Finthammer: Was ist denn logisch daran, dass die Maskenpflicht zwar im öffentlichen Nahverkehr weiterhin bestehen soll, aber im Supermarkt, wo ja auch viele vulnerable Menschen einkaufen gehen, da wird sie aufgehoben?
Lauterbach: Das sind ja rechtliche Aspekte, für die stets – der Bundesjustizminister kann das eloquent erläutern – eine solche Unterscheidung ist, dass zum Beispiel in den Bussen und in den Bahnen die Menschen unterwegs sind, die zur Arbeit müssen. Derweil man also beim Einkaufen im Supermarkt mehr Freiräume hat. Und dort kann man dann freiwillig die Maske tragen. Grundsätzlich ist das Gesetz, das wir jetzt hier beschlossen haben, das Infektionsschutzgesetz, das ist für viele Bürger nicht wirklich gut verständlich. Aber es hat viel damit zu tun: Was geht eigentlich noch rechtlich? Was geht nicht mehr? Und die Grundfigur ist, also, im Moment erkranken ja besonders stark, besonders schwer die Ungeimpften. Also, die Rechtslage ist die, dass für diese Ungeimpften nicht mehr viel Schutz möglich ist. Also, der Bundesjustizminister hat das sehr klar gesagt. Diejenigen, die jetzt ungeimpft sind und schwer erkranken, die können wir nicht wirklich gut schützen mehr. Die sollen wir nicht mehr schützen. Dafür sind große Opfer der bereits Geimpften nicht mehr vertretbar, denn sie hätten sich ja impfen lassen können.
Finthammer: 61 Prozent der Bundesbürger sind nach dem letzten Deutschlandtrend noch für einen Fortbestand der Maskenpflicht in Deutschland. Warum haben Sie sich trotzdem ganz bewusst dagegen ausgesprochen?
Lauterbach: Ja, es ging halt nicht. Also, es war rechtlich nicht möglich. Ich hätte auch den Fortbestand der Maskenpflicht richtig gefunden, wenn es eine mögliche Rechtslage gegeben hätte. Aber die gab es ja nicht mehr. Der Bundesjustizminister hat ja erläutert, dass diese Rechtslage nicht mehr da ist. Denn das ist eine Beschneidung der Freiheiten der bereits Geimpften, um damit – ich sage mal in Anführungsstrichen – "nur" die Ungeimpften zu schützen. Und das ist also nicht mehr möglich. Die Ungeimpften sind selbst ins Risiko gegangen. Sie stehen im Risiko. Und dieses Risiko kann nicht mehr die Grundlage dafür sein, dass auch kleine Einschneidungen der Freiheiten der bereits Geimpften begründet werden können, zumindest rechtlich. Das mag man als Wissenschaftler, Arzt und Epidemiologe nicht so sehen, aber so ist es rechtlich.
Ohne Rechtsgrundlage kein politischer Spielraum
Finthammer: Trotzdem die Frage: Haben Sie nicht aus medizinischer Sicht gerade in dieser für die Bürger dann doch wichtigen Frage eigentlich politisch ein Eigentor geschossen?
Lauterbach: Nein, das nicht. Es ist ja kein Eigentor. Also, ich kam ja gar nicht zum Schuss, wenn man so will. Also, die rechtliche Frage ist ja beantwortet. Somit habe ich keine Möglichkeit, das also zu verantworten. Wenn es mir nach gegangen wäre, also aus medizinisch epidemiologischer Sicht, hätte ich die Maskenpflicht und auch ein paar andere Schutzregeln für richtig gehalten. Aber es war nicht mehr möglich deutschlandweit. Daher habe ich dann – und das konnte ich, da war die rechtliche Möglichkeit noch da – das gemacht auf Ebene der Bundesländer. Dort, wo die Belastung also groß ist und wo man dann argumentieren kann, wenn man es dort macht, schützt man auch die Geimpften. Es kann jetzt nur noch um den Schutz der Geimpften gehen, nicht mehr um den Schutz der Ungeimpften. Die Ungeimpften, so sieht man es rechtlich, stehen jetzt selbst im Risiko und für ihren Schutz wird nicht mehr viel unternommen. Daher appelliere ich auch an die Ungeimpften, sich jetzt selbst zu überlegen, ob sie sich nicht doch impfen lassen wollen. Denn für ihren Schutz können sie nicht mehr viel erwarten.
Finthammer: Dann frage ich noch mal aus der Perspektive der Koalitions-Arithmetik. Sowohl aus der SPD als auch bei den Grünen gab es deutliche Widerstände gegen diese Umsetzung. Hat denn der kleine Koalitionspartner, also die FDP, Sie so in der Hand, dass Sie gar nicht anders konnten? Ist der Rechtsgrund der einzige Grund, dem man da folgen musste?
Lauterbach: Genau. Also, der Rechtsgrund ist der dominierende Grund. Also, wenn es keine Rechtsgrundlage gibt, dann spielt es überhaupt keine Rolle, was wir zum Beispiel … also, was wollen die Grünen? Was will Robert Habeck? Was will der Bundeskanzler? Was will ich? Also, wenn es keine Rechtsgrundlage mehr gibt für solche Einschränkungen, dann gibt es auch keinen politischen Spielraum. Dann spielt das, was man politisch will, keine Rolle mehr. Und das ist hier die Situation. Somit, viele von uns, also nicht nur Grüne, nicht nur Mitglieder der SPD, also tatsächlich einige in der FDP hätten sich hier gewünscht, dass man noch mal etwas hätte machen können, dass noch mal ein Schutz der im Wesentlichen ja Ungeimpften möglich gewesen wäre. Aber es ist nur noch dort möglich, wo also die medizinische Versorgung gefährdet ist. Und das würde dann auch bedeuten, das gefährdet auch die medizinische Versorgung der bereits Geimpften. Und dort, wo die Geimpften im Risiko stehen, also nicht die Ungeimpften, sondern die Geimpften, da gibt es noch Möglichkeiten für solche Schutzmaßnahmen.
"Das Gesetz gilt für die Länder genauso"
Finthammer: Jetzt sind es ja nicht nur die eigenen Koalitionspartner. Auch die Länder und die kommunalen Spitzenverbände werfen ja dem Bund vor, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Die Kritik kommt ja selbst aus den SPD geführten Bundesländern. Sehen Sie sich da nicht zusehends isoliert? Nach dem Motto: ein handlungsunfähiger Bundesgesundheitsminister.
Lauterbach: Ja, so etwas muss man sich anhören. Aber ich will noch mal darauf hinweisen, die Länder haben ja dann versucht, einen Beschluss auch gegen den Bundesgesundheitsminister zu treffen, also bei der Gesundheitsministerkonferenz jetzt am Montag, und sind damit gescheitert. Also, einen solchen Beschluss hat es nicht gegeben. Und ich habe wirklich noch etwas erreicht. Also, ich habe wenigstens erreicht, dass Länder wie Mecklenburg-Vorpommern oder Hamburg, jetzt möglicherweise auch Bremen, dass diese Länder handeln. Ich habe wirklich versucht, etwas möglich zu machen. Und ich würde mir wünschen, dass die Länder das einfach nutzen. Die Länder klagen hier über ein Gesetz, das sie selbst auch nicht hätten beeinflussen können. Die Rechtsgrundlage wäre ja für die Länder die gleiche gewesen. Die Länder hätten ja auch nicht mehr eine bundesweite Maßnahme beschließen können, weil die Rechtsgrundlage ja dafür nicht da ist. Das Gesetz gilt ja für die Länder genauso gut. Somit also, statt die Regelungen, die wir geschaffen haben und für die ich besonders hart gekämpft habe, statt diese jetzt zu nutzen, beklagen die Länder, dass Maßnahmen nicht gekommen sind, für die es bundesweit keinerlei rechtliche Grundlage gegeben hätte, auch, wenn die Länder selbst verhandelt hätten, nicht.
Finthammer: Aber der Justizminister hat immer wieder betont, dass die rechtlichen Grundlagen dafür auch schwierig sind, weil man dann entsprechende Nachweise führen muss. Und nur zwei von 16 Bundesländern haben das bislang umgesetzt, obwohl Sie die ganze Woche über bei jeder möglichen öffentlichen Gelegenheit appelliert haben, das zu tun. Und jetzt klagen auch noch FDP und AfD in Hamburg dagegen. Das Ganze könnte sogar noch scheitern.
Lauterbach: Es kann immer scheitern. Das ist klar. Aber wenn AfD und FDP für Freiheit klagen und gegen Schutzgesetze klagen, was ist die Neuigkeit? Das haben wir ja jetzt wirklich schon seit zwei Jahren. Und das beeindruckt mich jetzt nicht stark. Das ist auch fast immer so ausgegangen, dass diesen Klagen nicht stattgegeben wurde. Und ich hoffe, dass Bremen jetzt auch noch nachkommt. Ich kenne zahlreiche Bundesländer, wo derzeit Hotspots sind, wo die Menschen die Maskenpflicht brauchen würden, wo man das einfach machen sollte. Und ich habe wenig Verständnis dafür. Also, für mich ist das so eine Art Arbeitsverweigerung. Man versteckt sich jetzt hier hinter dem Bund. Man hofft, dass die Pandemie in den nächsten Wochen von alleine zu Ende geht. Man muss aber damit leben, dass sich das Ganze verzögert. Ich bin jemand, der wirklich versucht, etwas aus der widrigen Situation herauszuholen. Und ich appelliere, das zu nutzen. Ich appelliere auch an die Bürger. Für mich ist so eine Haltung, also, jetzt hat der Bund nicht geliefert, jetzt tun wir erst recht nichts, das ist nicht beeindruckend.
"200 bis 300 Tote pro Tag - das ist nicht akzeptabel"
Finthammer: Die sinkende Zahl oder die leicht rückläufige Zahl bei der Sieben-Tage-Inzidenz ist für Sie auch kein Indiz, dass das Ganze vielleicht am Ende doch gutgehen könnte?
Lauterbach: Was heißt gutgehen? Es wird zum Schluss so sein, dass die Fallzahlen deutlich sinken, insbesondere nach Ostern. Aber die Frage ist doch: Wie viele Menschen sind dann bis dorthin gestorben? Also, wir verlängern das Ganze doch. Wir sind in den letzten Wochen nicht wirklich im Optimum des Möglichen unterwegs gewesen. Wir haben 200 bis 300 Tote pro Tag. Das ist nicht akzeptabel. Das ist ein Flugzeugabsturz jeden Tag. Früher hat uns das empört. Jetzt haben sich viele daran gewöhnt. Und statt dass hier angepackt wird und geholfen wird, gibt es gegenseitige Schuldzuweisungen. Das ist etwas, was sicherlich kein Bürger gerne hört. Und das ist definitiv auch nichts, was Politik ertragreicher macht oder was den Erfolg von Politik verbessert. Wir sehen das ja auch jetzt bei dem Gezerre um die allgemeine Impfpflicht. In Wirklichkeit weiß natürlich jeder Bundesbürger …
Finthammer: Da kommen wir noch dazu.
Lauterbach: Ja, das denke ich mir. Das hoffe ich auch. Aber diese Schuldzuweisungen, ohne dass viel passiert, das ist nicht befriedigend. Und das ist auf jeden Fall eine Art Politik, die ich selbst nicht betreibe.
Keine rechtliche Grundlage für ein optimales Infektionsschutzgesetz
Finthammer: Lassen Sie mich das Infektionsschutzgesetz noch mit einer Frage abschließen. Ihr Vorgänger, Jens Spahn, hat ja ziemlich früh in der Pandemie eingeräumt, dass man Fehler machen werde, für die man sich später mal entschuldigen muss. Könnte das jetzt mit dem Infektionsschutzgesetz einer Ihrer Fehler sein?
Lauterbach: Nein. Und zwar deshalb, weil es kein Fehler war. Ich hatte keine rechtliche Grundlage, ein Infektionsschutzgesetz zu verabschieden, wie es optimal gewesen wäre. Ich muss das noch mal ganz klar sagen, dass es auch jeder Zuhörer gut versteht. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass wir eine Maskenpflicht weiter beibehalten, dass wir bundesweit die Möglichkeiten von Hygienekonzepten oder auch von Abstandsgeboten und auch von Einlasskontrollen beibehalten, dass wir das zum Beispiel noch mal für einen Monat verlängern. Wenn dies aus rechtlichen Gründen – so mir der Bundesjustizminister vortragend – nicht geht, dann scheitere ich hier an einer rechtlichen Hürde. Und dann müsste ich mir nur vorwerfen, wenn ich das selbst nicht versucht hätte, oder wenn es ein politischer, ich sage mal, Verhandlungsfehler gewesen wäre. Das ist definitiv nicht der Fall gewesen. Daher mag es sein, dass ich mir später mal irgendwas vorwerfe. Das wird aber definitiv nicht dazugehören.
"Ein Kompromiss, der funktioniert und genutzt wird, ist wichtig"
Finthammer: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Heute mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach von der SPD. Herr Lauterbach, Sie haben die Impfpflicht schon angesprochen. Am kommenden Donnerstag ist es dann jetzt so weit. Da soll im Bundestag ohne Fraktionszwang über die allgemeine Impfpflicht abgestimmt werden. Für den von Ihnen unterstützten Antrag, eine Impfpflicht ab 18 Jahren, gibt es erkennbar keine Mehrheit. Müssen Sie nicht schon hier und jetzt Ihr Scheitern eingestehen?
Lauterbach: Nein. Es ist ja nach wie vor möglich, dass es eine Impfpflicht allgemein gibt. Ich habe ja immer gesagt, dass es zwei gute Anträge sind. Wenn Sie sich die letzte Rede, die ich zur Impfpflicht, zur allgemeinen Impfpflicht, im Deutschen Bundestag gehalten habe, ansehen, dann sehen Sie, dass ich dort auch schon argumentiert habe, dass beides gute Anträge sind. Und sollte jetzt ein Antrag kommen, der das Beste der beiden Anträge vereint, dann ist das sicherlich ein großer Erfolg, ein Erfolg, wie wir ihn brauchen.
Finthammer: Sollte jetzt ein Antrag kommen, heißt das aber, dass auf den letzten Metern noch ein Kompromiss geschmiedet werden würde. Und nach allem, was man von Seiten der Union hört, die an ihrem Antrag festhalten will, ist aber keine Kompromissbereitschaft erkennbar, die zumindest für eine ausreichende Mehrheit im Bundestag sorgen würde.
Lauterbach: Das werden wir ja sehen. Die Verhandlungen laufen. Ich bin jetzt in den letzten Stunden mit den Verhandlungsgruppen im Kontakt gewesen, werde das auch nachher noch einmal machen. Ich gehe an die Dinge sehr simpel heran. Also, ob das das Infektionsschutzgesetz ist, ob das die allgemeine Impfpflicht ist, ich spekuliere nicht darüber, was passieren mag. Oder ich glaube nicht, dass das passiert oder jenes passiert. Sondern ich bemühe mich, einen guten Kompromiss hinzubekommen. Selbst dann, wenn das Kompromisse sind, wo viele Unterstützer sich wünschen würden, dass besser gar nichts gekommen wäre als der Kompromiss. Für mich ist es so: Ein Kompromiss, der funktioniert, wenn der dann auch genutzt wird im Übrigen, der ist wichtig. Ich bringe in Erinnerung, ich habe mich immer dafür eingesetzt, dass wir die einrichtungsbezogene Impfpflicht machen. Da ist argumentiert worden: Das kommt nie. Die Pflege bricht zusammen. Wenn das am 04.03. umgesetzt ist, dann müssen wir die Pflegeeinrichtungen schließen und so weiter und so fort. Ich habe den Ländern geholfen, habe eine Handreichung verfasst mit über 30 Seiten, wo wir jedes denkbare Problem beschrieben haben. Einfach immer nur arbeiten. Also, der Weg zum Erfolg geht zu 99 Prozent über harte Arbeit. Das ist übrigens eine Einsicht, die schon Albert Einstein gehabt hat.
Finthammer: Aber hier läuft Ihnen die Zeit davon. Es bleiben Ihnen noch wenige Tage, einen möglichen Kompromiss zu formulieren.
Lauterbach: Ja, das ist dann eben so. Aber ich hoffe nach wie vor, dass das gelingt. Und ich kann Ihnen versichern, nach diesem Interview werde ich weiter mit den Gruppen in Verhandlungen sein. Also, wie gesagt, Albert Einstein hat schon festgestellt: 99 Prozent des Erfolges sind Arbeit. Und zu Arbeit kommen Sie nicht, wenn Unkerei eine Rolle spielt, was alles schiefgehen könnte.
Ohne Impfpflicht droht im Herbst "Gnadenstoß für die deutsche Wirtschaft"
Finthammer: Hätte denn anders gesagt die Bundesregierung und diese unterstützende Ampelkoalition nicht doch mit einem eigenen Vorschlag kommen müssen? Oder war das einmal mehr wegen der FDP und dem Widerstand dort nicht möglich?
Lauterbach: Hätte, hätte, Fahrradkette. Ich glaube, es war wichtig, die Fraktionen bei dieser ethischen Entscheidung in die Vorhand zu bringen. Ich glaube auch nach wie vor, dass das zum Schluss zum Erfolg führen wird. Das heißt, ich glaube, wir werden am Donnerstag einen Antrag zur allgemeinen Impfpflicht durchbringen. Das ist sehr schwer. Es wird auf der Endstrecke noch immer gearbeitet. Also, viele lassen sich bitten. Es ist schade, denn wir haben in Deutschland eine große Impflücke. Wir haben jetzt ungefähr 180.000 Infektionen am Tag. 300 Menschen sterben. An anderen Tagen 200. Wenn wir so eine Lage im Herbst hätten und wir hätten dann aber nicht den April vor uns, sondern den November, dann müssten wir wieder alles zu machen, zumindest vieles. Dann würde wieder darüber nachgedacht werden: Müssen die Schulen geschlossen werden? Oder müssen zumindest Masken getragen werden? Was machen wir mit den Geschäften? Und so weiter, und so fort. Wir werden sowieso wegen des verbrecherischen Angriffskrieges von Putin eine schwierige wirtschaftliche Lage im Herbst haben. Wenn jetzt dann im Herbst keine Impfpflicht geschaffen wurde, wir im Herbst noch mal vieles dicht machen müssen, dann ist das möglicherweise der Gnadenstoß für die deutsche Wirtschaft.
Finthammer: Aber noch mal die Frage, wie Sie das schaffen wollen mit Blick auf die Impfpflicht, wenn es aus der Union jetzt die Tage immer wieder vehement heißt, man halte dort geschlossen am eigenen Antrag fest. Also, seitens der Union ist keine Kompromissbereitschaft zu erkennen. Und ohne die Union hat die Koalition in dieser Frage keine Mehrheit, weil es ja auch genügend aus der FDP gibt, die eine allgemeine Impfpflicht generell ablehnen.
Lauterbach: Ja, ich kann tatsächlich ein Geheimrezept verraten, wie man so etwas schafft. Indem man nicht öffentlich spekuliert, wie es gehen könnte und keinen Druck aufbaut, sondern hinter den Kulissen vertraulich verhandelt.
Finthammer: Wie bereiten Sie sich denn darauf vor, dass das Ganze am Ende doch noch scheitert?
Lauterbach: Gar nicht. Also wenn es so ist, dann ist es so. Dann müssen wir ehrlich damit umgehen. Ich glaube es aber nicht. Es wird bis zur letzten Stunde darum gerungen.
Finthammer: Jetzt gibt es noch ein anderes Argument. Das kommt teilweise auch von Virologen, dass man diese allgemeine Impfpflicht gar nicht brauche. Da wird ja statistisch darauf hingewiesen seitens der Virologen, dass bei den über 60-Jährigen und bei den über 18-Jährigen insgesamt knapp 90 Prozent schon geimpft sind. Und diese zehn Prozent Ungeimpfte, die könne man als Restrisiko auch im kommenden Herbst akzeptieren, weil mit denen nicht eine Gefahr des Gesundheitssystems einhergehen würde. Können Sie dieses Argument entkräften? Oder hat es nicht noch eine gewisse Stichhaltigkeit, mit der man unter schwierigen Umständen würde leben können?
Lauterbach: Ja. Ich kann das sehr leicht entkräften. Also wir hätten dann ja die Situation, die wir jetzt haben oder schlechter. Das heißt, 200 bis 300 Menschen sterben überflüssigerweise am Tag, was wir verhindern könnten. Also ich kann offen gesagt das Argument der Virologen nicht nachvollziehen. Sollten wir uns daran gewöhnen, dass 200 bis 300 Menschen pro Tag an Covid sterben?
Finthammer: Wahrscheinlich nicht.
Lauterbach: Das ist der Grund für die Impfpflicht.
"Pflegebonus kann nicht bessere Arbeitsbedingungen ersetzen"
Finthammer: Dann werden wir den kommenden Donnerstag abwarten müssen und das Ergebnis, das dann am Ende dieses Tages steht. Es soll ja eine freie Abstimmung sein im Deutschen Bundestag. Und wir sind hier im Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach.
Ein weiterer Punkt, Herr Lauterbach, den wir abhandeln wollen, ist der Pflegebonus. Den haben Sie jetzt in der vergangenen Woche endlich vorgestellt. Der sollte ja schon zum Jahresbeginn kommen. Jetzt ist er eingeschränkt auf die Krankenhäuser und auf Altenpflegekräfte. Und es gibt auch da schon wieder die Kritik, dass damit insgesamt zu wenige Pflegekräfte, die sich intensiv um Corona-Patienten gekümmert haben, insgesamt erreicht werden. Was sagen Sie dazu?
Lauterbach: Na ja, ganz so wenige sind es nicht. Also, wir sprechen da ja von 1,3 Millionen Menschen, die in der Altenpflege gearbeitet haben, 230.000 Fachpflegekräften und 25.000 Intensivpflegekräften. Somit: Über 1,5 Millionen Menschen profitieren vom Bonus. Und das sind diejenigen, die in der Pflege tatsächlich den größten Teil der Last getragen haben. Somit - also es ist richtig, dass das nur eine Anerkennung ist und nicht die besseren Arbeitsbedingungen, die dringend notwendig sind in der Pflege, ersetzen kann. Das ist auch nichts, was den Nachwuchsmangel in der Pflege beseitigen kann. Ich habe mich gestern in der Uniklinik in Köln gut eine Stunde mit Pflegekräften sehr intensiv unterhalten und habe ihre Kritik, ihre Vorschläge abgeholt. Das mache ich übrigens sehr regelmäßig. Ich bekomme da auch noch Material nachgeliefert. Also, das ist alles sehr interessant. Pflege ist für mich ein sehr wichtiges Thema, wo wir viel machen müssen. Es wird auch nicht mehr möglich sein, dass wir die Pflegekräfte, die wir benötigen, aus dem Ausland heranziehen. Das ist erstens unethisch, denn die werden dort auch benötigt. Zum Zweiten geht es auch nicht mehr. Das heißt, wir müssen hier viel machen. Da bin ich an der Arbeit an Reformen, zum Beispiel über Personalbemessungsgrenzwerte. Das sind Dinge, über die ich jetzt hier nicht vortragen kann, weil es etwas technisch ist. Aber der Bonus ist eine erste – sage ich mal – Gratifikation. Es gibt darüber hinaus eine Besserstellung bei der Steuer. Die ist auch zu erwähnen. Aber wir müssen weitergehen. Das ist ganz klar.
Finthammer: Die Stiftung Patientenschutz spricht ja noch von einem vergifteten Geschenk, das die Spaltung der Belegschaften vorantreiben wird, weil eben viele außen vor bleiben. Ist das eine Kritik, die Sie akzeptieren können?
Lauterbach: Nein, finde ich nicht. Also, wenn die Pflegekräfte hier den größten Teil der Covid-bedingten Leistungen haben geschultert und ich bringe in Erinnerung, die 25-Intensivpflegekräfte zum Beispiel, die den größten Bonus bekommen, die haben zum Teil gearbeitet am Anfang der Pandemie unter Einsatz ihres Lebens. Und es sind ja auch welche gestorben. Es sind Menschen gestorben. Es sind Pflegekräfte gestorben. Die sind gestorben, weil sie uns versucht haben zu retten. Wenn dann diese Leute besonders gewürdigt werden und bekommen einen größeren Bonus, dann ist das aus meiner Sicht richtig. Und ich sehe diese Spaltung nicht. Also, ich zum Beispiel habe nie ein Problem damit, wenn ich einen Bonus nicht bekomme, den ich nicht verdiene.
Finthammer: Mit der einen Milliarde für die Pflegekräfte ist es ja nicht getan. Nach allem, was man hört, auch von Ihrem eigenen Ministerium, häuft sich ja ein erhebliches Defizit bei der Pflegekasse auf. Da werden Zuschüsse von drei Milliarden notwendig. Die Krankenkassen sprechen sogar schon von Zuschüssen von 3,6 Milliarden. Da stellt sich die Frage nach der Finanzierung. 1,2 Milliarden, heißt es wohl bei Ihnen im Haus, wollen Sie selbst zuschießen. 1,8 Milliarden müssen anderweitig finanziert werden. Müssen sich da die Pflegeversicherten nach der Beitragsanhebung für die Kinderlosen zu Jahresbeginn jetzt auf einen Anstieg der Kosten zur Pflegeversicherung einstellen?
Lauterbach: Ja, wir müssen ja überlegen, wie wir das bezahlen. Also, wir haben ein Defizit in der Pflegeversicherung und ein großes Defizit in der Krankenversicherung.
Finthammer: 17 Milliarden bei den Krankenkassen.
"Die Finanzierung muss auf viele Schultern verteilt werden"
Lauterbach: Das sind Beträge, die ich quasi erbe, denn im Rahmen der sehr guten Versorgung von Covid-Patienten haben wir ein Defizit angehäuft – in der Krankenversicherung und in der Pflegeversicherung, was jetzt also beseitigt werden muss. Das Einzige, was ich hier sagen kann, dass ich Leistungskürzungen ausschließe. Ich werde keine Leistungskürzungen mitmachen. Und die Finanzierung muss dann auf viele Schultern verteilt werden. Das Defizit wird groß sein. Wenn der Ukraine-Krieg die beitragspflichtigen Einnahmen weiter reduziert, indem das Wirtschaftswachstum weniger stark ausfällt als prognostiziert, dann kann das Defizit auch noch deutlich größer ausfallen, als was Sie jetzt hier vorgetragen haben. Und dann muss man das eben auf alle Schultern gerecht verteilen. Das werden immer auch Steuerzuschüsse sein. Das werden auch Reserven der Kassen sein. Das werden Effizienzreserven sein, also ohne Leistungskürzungen. Aber es wird auch einen Beitragssatzanstieg geben. Und es wäre extrem unhilfreich und unprofessionell, wenn man über die Verteilung und die Größenordnung dieser vier Elemente öffentlich diskutieren würde. Aber wir arbeiten daran sehr intensiv. Wir wollen das Problem lösen.
Finthammer: Sie kommen ja an der öffentlichen Diskussion nicht ganz vorbei. Es soll ja auch schon Pläne gegeben haben für einen höheren Bundeszuschuss bei den Krankenkassen von fünf Milliarden Euro. Den soll der Finanzminister schon mehr oder weniger zurückgezogen haben. Also, dann doch am Ende deutlich höhere Beitragserhebungen bei den Versicherten?
Lauterbach: Ja, das wäre jetzt eine neue Formulierung der Frage, die Sie davor gestellt haben, die ich da schon nicht beantworten wollte. Ich will einfach nicht darüber spekulieren. Dass es aus dem Haus auf Arbeitsebene mal einen Entwurf gegeben hat, der nicht abgestimmt war mit dem Minister und daher auch keine Bedeutung hat, das ist richtig. Und ich spekuliere öffentlich selber nicht darüber. Es muss gutes Handwerk sein. Das ist eine sehr wichtige Frage. Wir haben derzeit eine sehr fragile Situation. Wir haben die Krise. Wir haben den Krieg. Wir haben die Schulden, die es gibt. Also, wir haben eine sehr unsichere Konjunkturentwicklung. Ich habe erst gestern mit Mitgliedern des Sachverständigenrats über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung gesprochen. Das ist alles sehr fragil im Moment. Das muss man abwarten. Worauf ich selbst großen Wert gelegt habe, ist, wenn Kosten und Finanzentwicklungen geschätzt werden, dann war das bisher immer die Aufgabe der Selbstverwaltung. Und das Bundesgesundheitsministerium hatte die Aufsicht. Ich habe jetzt darum gebeten, dass auch der Bundesfinanzminister sich daran beteiligt, denn der Bundeshaushalt steuert mittlerweile einen nicht unerheblichen Anteil der Kosten für die Krankenversicherung bei.
Finthammer: Haben Sie denn für sich schon einen konkreten Zeitplan, bis wann Finanzierungspläne für beide Bereiche vorlegen wollen oder Ihre Vorschläge präsentieren wollen?
Lauterbach: An diesem Plan wird gearbeitet. Der Plan wird aber so sein, dass er rechtzeitig kommt, damit die Krankenkassen ihre Haushalte planen können.
Finthammer: Heißt das, vor der Sommerpause, vor der parlamentarischen, können wir da noch was erwarten?
Lauterbach: Es kommt ein bisschen darauf an, wie die Lage sich jetzt entwickelt. Aber ich werde das auf jeden Fall genauso machen, dass die Krankenkassen keine Planungsunsicherheit haben.
Finthammer: Herr Lauterbach, dann danke ich Ihnen an dieser Stelle für das Gespräch.
Lauterbach: Ich danke Ihnen für die Gelegenheit.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.