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Impfstoffknappheit-Aussage
Virchowbund: Lauterbach verunsichert die Menschen

Die Äußerung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zur Knappheit von Impfstoffen habe unnötig Aufregung erzeugt, sagte der Vorsitzende des Verbands der niedergelassenen Ärzte, Dirk Heinrich, im Dlf. Lauterbach hätte diese Nachricht mit Zahlen belegen und eine Lösung präsentieren müssen.

Dirk Heinrich im Gespräch mit Stefan Heinlein |
Behälter der Impfstoffe von Biontech, Astrazeneca, Johnson & Johnson und Moderna stehen auf einem Tisch
Impfen gilt nach wie vor als Ausweg aus der Corona-Pandemie. Deshalb sollen mehr Impfdosen bereitstehen. (dpa/Marcus Brandt)
Bei der Impfkampagne gegen das neuartige Coronavirus ist nach Angaben von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) das Biontech-Vakzin knapp bemessen. Für die kommende Woche könne weniger ausgeliefert werden, als von den Ärzten bestellt worden sei.
Covid-19 - Lauterbach: Haben Impfstoffmangel im 1. Quartal
Karl Lauterbach hätte die konkreten Zahlen zur Verfügbarkeit der Impfstoffe veröffentlichen sollen, statt mit der Nachricht über Knappheit das Land in Alarmbereitschaft zu versetzen, sagte der Bundesvorsitzende des Virchow-Bundes der niedergelassenen Ärzte Deutschlands, Dirk Heinrich, im Deutschlandfunk. Und Lauterbach hätte Lösungen anbieten müssen. Das könne zum einen bedeuten, für mehr Impfstoff zu sorgen. Falls das nicht möglich sei, könne aber auch über eine erneute Priorisierung bei der Impfkampagne nachgedacht werden.
Von Karl Lauterbach habe er sich eine achtsamere Kommunikation erhofft, sagte Heinrich, der auch das Impfzentrum in Hamburg leitet. Lauterbachs Äußerungen hätten dazu geführt, dass viele Menschen nun ihre Booster-Impfungen vorziehen wollten, weil sie fürchteten, sonst so schnell keinen Termin mehr zu bekommen.
Dirk Heinrich, medizinischer Leiter des Hamburger Impfzentrums
Dirk Heinrich ist auch medizinischer Leiter des Hamburger Impfzentrums (picture alliance/dpa)

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Das Interview im Wortlaut:

Stefan Heinlein: Herr Heinrich, es wird knapp mit dem Impfstoff nach dem Jahreswechsel. Was haben Sie spontan gedacht, als Sie diese Nachricht, diese Äußerung von Karl Lauterbach gehört haben?
Dirk Heinrich: Ich war mehr als überrascht. Ich habe gedacht, das kann doch wohl nicht wahr sein, weil das war bisher nicht angekündigt, sondern man hat eher politisch auf die Tube gedrückt, dass wir mehr impfen, was wir ja auch tun. Mit 1,2 Millionen Impfungen am Tag haben wir ja noch nie so viel geimpft wie zurzeit. Das wäre natürlich fatal, wenn wir diesen Turbo wieder einstellen müssten, weil auf einmal der Impfstoff fehlt.

Heinrich: Patienten versuchen, schnell noch an Booster zu kommen

Heinlein: Sie sind überrascht. Sie sind Arzt. Welchen Effekt hat denn eine solche Nachricht, eine solche überraschende Nachricht auf Ihre Patienten, die in Ihre Praxen kommen, um sich impfen zu lassen?
Heinrich: Ich war nicht nur überrascht; ich war auch ein bisschen verärgert gleichzeitig, weil wenn man so eine Äußerung tätigt, dann muss man eigentlich auch gleich die Zahlen auf den Tisch legen und sie belegen und auch – und das ist das Allerwichtigste – sagen, was man dann tun möchte. Entweder die Impfkampagne so strukturieren, dass die Schwächsten zumindest dann geschützt werden können, oder aber klar zu sagen, dass man Impfstoff nachgeordert hat oder dass man ihn bekommt. Denn so sind alle, die ihre Termine im Januar haben und zum Boostern im Januar anstehen, verunsichert, und das schlägt sofort auf unsere Praxen durch. Wir haben jetzt wieder jeden Tag seit dieser Äußerung Anrufe gehabt, kann ich vorziehen, ich kann doch auch schon nach drei Monaten geboostert werden oder nach vier Monaten, ich möchte jetzt doch noch im Dezember. Jeder versucht, jetzt noch in den Dezember zu kommen, in der vermeintlichen Ansicht, man könne dann noch geimpft werden, weil es vielleicht im Januar nicht klappt.
Heinlein: Ist das schon eine Art Panik bei den Menschen, weil man Angst hat, man kommt nicht zum Zuge, wenn man jetzt nicht rasch die dritte Impfung bekommt?
Heinrich: Ja! Bei einem Teil der Bevölkerung ist das so, denn man hat ja vorher alle aufgeschreckt, der Impfschutz lässt nach wegen Delta. Dann kam Omikron noch obendrauf mit der Nachricht, Zweitimpfungen reichen da nicht aus, da braucht man schon die dritte. Damit hat man ja schon das ganze Land in Alarmbereitschaft versetzt und jetzt so eine Nachricht hinterherzuschicken, ohne sie zu belegen und ohne die Lösungen zu präsentieren, das verunsichert total und die Menschen sind jetzt in heller Aufregung und jeder guckt jetzt wieder, dass er an Land kommt, und ruft an und möchte seinen Termin vorverlegen.
Heinlein: Nun könnte man, Herr Heinrich, diese Nachricht positiv wenden und sagen, diese Nachricht von der Impfstoffknappheit, das beschleunigt jetzt das Impftempo, weil die Menschen Ihnen in den Praxen jetzt die Tür einrennen.
Heinrich: Dazu ist aber Voraussetzung, dass wir den Impfstoff dann auch haben. Wenn der Impfstoff für die eigentlich im Januar geplanten nicht reicht, dann reicht er auch für die eigentlich im Januar geplanten nicht im Dezember. Im Dezember war geplant, dass wir 30 Millionen Impfungen durchführen, in der Zeit vom 18.11. Bis zum Jahresende. Davon haben wir jetzt schon 21 Millionen, habe ich heute Morgen gelesen. Das heißt, wir haben jetzt noch neun oder zehn Millionen vor uns. Für die ist wohl auch der Impfstoff da. Aber wenn ich jetzt zehn vorverlege, dann ist der Impfstoff auch nicht da. Das sind die Dinge, die wir noch nicht wissen, weil die Zahlen nicht auf den Tisch gelegt worden sind.

Heinrich: Lauterbach soll Zahlen vorlegen

Heinrich: Sie sind überrascht, Sie sind verärgert, Herr Heinrich. Wenn Sie nachdenken, haben Sie eine Erklärung, wie es zu dieser Situation kommen konnte, dieser Impfstoffknappheit? Wurde da geschlampt an verschiedenen Stellen oder falsch gerechnet? Auf wen fokussiert sich Ihr Ärger?
Heinrich: Jetzt würde ich das erst noch mal auseinandernehmen. Impfstoffknappheit hat ja zwei Faktoren. Das eine ist, was er Inventur nennt, der neue Minister. Das wäre ja nur eine Bestandsaufnahme, was haben wir, was liegt in der Schublade. Das andere ist, was habe ich an Lieferungen zu erwarten, und das muss ich dann ins Verhältnis setzen zu dem, was ich impfen möchte. Da würde mich auch interessieren, hat sich das verändert? Hat man die Annahmen, wie viele man noch impfen möchte, jetzt angepasst an Omikron? Dann wäre das ja auch kein Versäumnis der Vorgängerregierung, sondern es ist ein neuer Bedarf, den man nicht decken kann, weil man den Bedarf auch noch nicht kannte vor vier Wochen. Auch das sind ja Faktoren, das sind Tatsachen oder Berechnungseinflüsse, die bisher auch nicht präsentiert worden sind.
Heinlein: Sie wollen jetzt nicht heute Morgen hier den Stab brechen über Jens Spahn, den alten Gesundheitsminister, weil er nicht ordentlich Buch geführt hat und jetzt erst der neue Gesundheitsminister Lauterbach Inventur gemacht hat?
Heinrich: Das fände ich auch unfair Jens Spahn gegenüber, weil wir haben die Zahlen nicht, um den Stab brechen zu können. Das ist ja noch nicht klar, ist da was versäumt worden, oder haben wir einen neuen Bedarf, den man dann nicht decken kann. Das sind ja Faktoren, die muss Herr Lauterbach erst mal präsentieren. Das hätte er besser alles gleich gemacht, ohne das Land so in helle Aufregung zu versetzen. Wir sind in einer Impfkampagne und wir müssen immer bedenken, jede Äußerung, die wir in der Öffentlichkeit tun, hat Auswirkungen auf die Menschen, die da draußen Sorgen und Ängste haben, und das ist das Wichtigste für mich, dass wir unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger hier nicht unnötig in Aufregung versetzen.

Lauterbachs Kommunikation "hat mich enttäuscht"

Heinlein: Sie und andere Ärztevertreter haben aber gejubelt, als die Nachricht kam, dass der Gesundheitsminister Karl Lauterbach in Zukunft heißt, dieser Mann vom Fach. Ist jetzt aus Ihrer Sicht dieser Harvard-Professor und Politiker der richtige Mann, um alle Hebel in Bewegung zu setzen, um doch noch ausreichend Impfstoff für alle zu bekommen, mit den Biotechnologie-Unternehmen oder auch mit ausländischen Anbietern ins Geschäft zu kommen? Er will ja vor allem nach Ost- und Mitteleuropa jetzt blicken.
Heinrich: Grundsätzlich ist es immer gut, wenn das Gesundheitsministerium an der Spitze eine natürliche Fachkompetenz hat, und das setze ich bei einem Arzt erst mal voraus. Er ist auch noch Epidemiologe, das haben wir für die Krise jetzt durchaus als Vorteil gesehen. Ob andere politische Dinge uns zum Jubel veranlassen, weiß ich noch nicht. Darüber werden wir in den nächsten Jahren noch sprechen, denke ich. Aber gerade von ihm hätte ich erwartet, dass er jetzt sorgsamer umgeht mit seinen öffentlichen Äußerungen, und das war jetzt schon mal aus meiner Sicht falsch, nur zu sagen, wir haben zu wenig, ohne die Zahlen und auch die Berechnungen und den neuen Bedarf, den es gegebenenfalls gibt, auf den Tisch zu legen. Das hat mich enttäuscht, weil er muss als Arzt auch die Menschen im Blick haben, die da draußen Sorgen und Nöte haben.
Heinlein: Nun ist Karl Lauterbach ja nicht alleine, sondern es gibt etwa auch Bayerns Gesundheitsminister Holetschek. Der spricht jetzt von unkonventionellen Methoden der Impfstoffbeschaffung. Können Sie sich, Herr Heinrich, darunter etwas vorstellen?
Heinrich: Damit meint er wahrscheinlich, dass man irgendwo was zurückkauft, was andere vielleicht nicht brauchen. Aber ansonsten kann ich mir nicht vorstellen, wie man unkonventionell – Gibt es einen Schwarzmarkt für Impfstoff? – Ich glaube nicht. Aber so hört sich das ja an.
Und man muss immer bedenken, die ganze Welt möchte impfen, und das liegt auch in unserem Interesse, dass auch die anderen Länder sich schützen. Dieses Variantenentstehen entsteht ja auch dadurch, dass die weltweite Impfkampagne nicht in Gang kommt, sondern dass isolierte Länder sehr, sehr stark geimpft sind und andere Länder gar nicht so stark geimpft sind. Wir müssen ein Interesse daran haben, dass auch die anderen impfen. Den anderen Impfstoff wegzukaufen – wenn sie ihn gar nicht verimpfen können und nicht brauchen, mag das ja richtig sein. Aber ansonsten muss man sagen, Europa hat viel exportiert in andere Länder, was richtig ist, und Großbritannien und die USA haben das alles monatelang für sich behalten. Aber wo unkonventionell Impfstoff herkommt, kann ich Ihnen auch nicht sagen.

Heinrich: Bei Impfstoffknappheit wieder priorisieren

Heinlein: Herr Heinrich, wie sinnvoll wäre es denn als Möglichkeit, diese Impfstoffknappheit etwas zu puffern, die Zeiträume zwischen der zweiten und dritten Impfung wieder zu verlängern? Da war ja zeitweise sogar in Nordrhein-Westfalen – wurde inzwischen wieder zurückgenommen – ein Zeitraum von vier Wochen im Gespräch. Sie sind kein Virologe, aber Mediziner. Welchen Zeitraum halten Sie denn für sinnvoll?
Heinrich: Ich glaube, wenn es tatsächlich eine Impfstoffknappheit gibt und man den Impfstoff nicht beschaffen kann, dann muss man genau wie wir das am Anfang der Impfkampagne gemacht haben wieder priorisieren. Dann muss man im Januar sagen, die, die im Januar dran sind, die 75jährigen von mir aus nach fünf Monaten. Dann kommen die 70jährigen eben zuerst dran und erst wenn die fertig sind, dann haben wir Impfstoff noch für 60jährige, 50jährige, 40jährige, 30jährige, 30jährige. Anders wird es dann nicht gehen. Dann muss man immer danach gehen, wessen Impfschutz hält wahrscheinlich noch besser, und das ist einfach so: Je älter man ist, desto schlechter ist statistisch der Impfschutz. Umso früher lässt der nach und dann muss ich die mit der Boosterung bedienen und die anderen, die 30jährigen, die vor sechs Monaten geimpft worden sind, deren Impfschutz ist einfach noch besser als der eines 70jährigen zum gleichen Zeitpunkt. Dann muss der vier Wochen länger warten. Ich glaube, so muss man dann vorgehen, wenn man tatsächlich zu wenig Impfstoff hat für die dann zur Boosterung Anstehenden.
Heinlein: Mit dieser Forderung sind Sie nicht allein, Herr Heinrich. Der Sozialverband VDK hat heute Morgen erklärt, es müsse jetzt bei den Booster-Impfungen wieder die Bevorzugung von Risikogruppen geben. Das ist das, was wir hier in Deutschland erwarten müssen, spätestens ab Januar?
Heinrich: Wenn es den Impfstoff nicht in ausreichender Menge gibt, ist das das Fairste und Gerechteste. Und vor allem: Das ist ja das, was uns die Intensivstationen nicht volllaufen lässt. Diejenigen, die das größte Risiko haben, schwer zu erkranken, müssen als erste geschützt werden. Das war in der ersten Kampagne richtig, hat ja auch richtig gut funktioniert. Wenn man sich die erste Welle und die Impfkampagne, die ganzen Zahlen auch aus der zweiten Welle noch mal anschaut, dann sieht man da ja deutlich, wie gut es war, dass wir da die Älteren und vor allem die Pflegeheimbewohnerinnen und Bewohner mit der Impfung versorgt haben. Das hat ja sofort durchschlagenden Erfolg auf die Intensivstationsbelegung und auch auf die Anzahl der an Corona verstorbenen gehabt. Das muss man dann wieder tun, wenn wie gesagt – das ist das große Wenn –, nur dann, wenn wir nicht genügend Impfstoff haben für jeden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.