Dienstag, 16. April 2024

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Bundesarbeitsminister
Heil (SPD): Anhebung des Mindestlohns für viele Menschen größte Lohnerhöhung im Leben

Durch die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro rechnet Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) mit einer positiven Wirkung auf die Gesamtwirtschaft. Denn dadurch werde auch die Kaufkraft von Menschen mit geringem Einkommen gestärkt.

Hubertus Heil im Gespräch mit Volker Finthammer | 02.10.2022
Hubertus Heil am 31.05.2022 bei einer Pressekonferenz in Berlin
Hubertus Heil (SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales, ist überzeugt, dass die Anhebung des des Mindestlohns die Wirtschaft nicht in Schlagseite bringt (IMAGO / Christian Spicker / IMAGO / Christian Spicker)
Seit dem 1. Oktober gilt in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn von 12 Euro. Er ist damit gegenüber dem vergangenen Jahr um 22 Prozent gestiegen. „Das hilft Menschen in dieser schwierigen Zeit akut“, betonte der SPD-Politiker Hubertus Heil im Deutschlandfunk. Er räumte allerdings auch ein, dass damit nicht alle aktuellen Preissteigerungen kompensiert werden können. Gleichwohl sei der Mindestlohn in Kombination mit den Entlastungspaketen ein Beitrag für den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Heil erwartet positive gesamtwirtschaftliche Wirkung vom Mindestlohn

Mit Beschäftigungsverlusten in einigen Regionen in Ostdeutschland muss nach Ansicht des Ministers aufgrund der Erhöhung nicht gerechnet werden. Diese Befürchtungen habe es bereits 2015 bei der Einführung des Mindestlohns gegeben, einige hätten damals sogar den Untergang der sozialen Marktwirtschaft befürchtet, doch das Gegenteil sei der Fall gewesen. Der SPD-Politiker rechnet eher mit einer positiven Wirkung für die Wirtschaft.
Das neue Bürgergeld, das 2023 die Hartz-IV-Regelungen in der Grundsicherung ablösen soll, sei nicht nur dazu da, Menschen finanziell abzusichern „und schon gar nicht, dass man Bedürftigkeit verwaltet, sondern das man Menschen wieder rausholt“, betonte Heil.
Das soll mit besseren Qualifizierungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose geschehen, zumal zwei Drittel keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Darüber sollen künftig Abschlüsse nachgeholt werden können. „Wir wollen Menschen ermutigen und befähigen, dass sie tatsächlich wieder in Arbeit kommen.“ Grundsätzliche Abstriche bei den Sanktionsmöglichkeiten würden trotz der neuen Karenzzeiten jedoch nicht gemacht.
Das Interview der Woche im Wortlaut:
Volker Finthammer: Willkommen, Hubertus Heil, hier im Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks und schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, in diesen Tagen, wo ja die Koalition unter erheblichem Handlungsdruck steht. Und obwohl Sie natürlich andere Bereiche verantworten müssen, wie etwa den Mindestlohn, der erst in Kraft getreten ist und auf den wir noch ausführlich eingehen werden, kommen wir an dem 200-Milliarden-Euro-Paket der Koalition nicht vorbei, mit dem die Preisentwicklungen bei Strom und Gas aufgefangen werden sollen.
Wenn wir die Geschichte dieser Woche angucken, das kam quasi in letzter Minute, kurz bevor die ursprünglich geplante Gasumlage in Kraft getreten wäre. Wir haben mitbekommen, dass das auch in der Koalition tatsächlich kein einfacher Weg war. Können Sie uns sagen, was am Ende den Ausschlag zu diesem Schritt gegeben hat?
Hubertus Heil: Das ist das gemeinsame Bewusstsein, dass wir vor riesigen Aufgaben stehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die hohe Inflation und auch die wirtschaftlichen Probleme, die damit einhergehen, einen politischen Hintergrund haben. Putin versucht, Gas als Waffe einzusetzen, um unsere Gesellschaft wirtschaftlich zu schädigen, sozial zu spalten, damit die politische Solidarität des Westens mit der Ukraine nachlässt. Wir haben einen Schutzschirm gebaut, um dafür zu sorgen, dass wir die Gesellschaft zusammenhalten, auch unsere Wirtschaft gut durch schwierige Zeiten bringen. Darum geht es und das hat am Ende die Koalition auch zur Lösung geführt.

Krisenzeiten erfordern pragmatisches Handeln

Finthammer: Die Union ist skeptisch und zeigt auf die gewaltigen Summen der Schattenhaushalte, die jetzt aufgebracht werden. 360 Milliarden Euro. Das ist schon bald in Reichweite des Bundeshaushalts. Wir haben uns während der Coronapandemie an gewaltige Zahlen gewöhnt. Aber wie das einmal zurückgezahlt werden soll, ist noch offen. Auch, wie die Deckel bei Strom und Gas funktionieren sollen, ist noch offen. Wissen Sie da schon mehr?
Heil: Im Einzelnen ist es erst mal wichtig zu wissen, dass man in Krisenzeiten keine Zeit hat für ideologische Debatten, sondern dass man pragmatisch handeln muss. Das heißt, dass wir als Bundesregierung, was die wirtschaftliche und soziale Situation betrifft, nach einem klaren Fahrplan arbeiten.
Das Wichtigste war und ist, die Versorgungssicherheit in Deutschland zu gewährleisten. Gas aus Russland steht nicht mehr zur Verfügung. Wir haben dafür gesorgt, dass Speicher vollgeladen werden konnten, wir Ersatz beschafft haben und wir die Chance haben, ohne eine weitere Stufe von Gasnotlage durch diesen Winter zu kommen. Denn das wäre ökonomisch und sozial das Schwierigste.
Zweitens: Es geht darum, dass wir mit den Kosten bei Gas und Strom für Wirtschaft und Verbraucherinnen und Verbraucher runterkommen. Dafür ist dieser Schutzschirm notwendig und auch richtig, dafür zu sorgen, dass wir nicht wirtschaftliche Substanz oder gar industrielle Basis und Arbeitsplätze verlieren, weil wir viele Unternehmen haben, die getroffen sind und auch viele Menschen kaum noch Rücklagen haben mit dieser Inflation. Deshalb ist es wirtschaftlich und sozial geboten.
Drittens: Entlastungspakete gezielt für untere und mittlere Einkommen im Wert von 100 Milliarden, die wir umsetzen in den sozialen Zusammenhalt. Viertes: Wirtschaftshilfen für Unternehmen, die sonst ein gutes Geschäftsmodell haben. Und fünftens auch das bewährte Instrument der Kurzarbeit, um den Arbeitsmarkt robust durch die Krise zu bringen.
Das alles ist notwendig, damit wir diese Zeit gut überstehen, damit Deutschland auch in Zukunft die Chance auf Wohlstand hat und damit wir nicht zulassen, dass Putin Erfolg hat, indem er unsere Gesellschaft wirtschaftlich und sozial destabilisiert. Denn das ist nach den Reden, die er in Wladiwostok und in St. Petersburg auf seinen Wirtschaftsforen gehalten hat, das erklärte Ziel. Das werden wir nicht zulassen. Deutschland wird das packen. Wir werden als Gesellschaft und als Staat Zusammenhalt organisieren. Das unterschätzt Putin maßlos.

In Notzeiten gibt es Ausnahmen der Schuldenbremse

Finthammer: Ich muss aber doch noch mal übers Geld sprechen. Mit der jetzt gefundenen Konstruktion bleibt die Schuldenbremse erst einmal unangetastet. Worauf Christian Lindner und die FDP vehement gedrängt haben. Gilt das auch für Sie, wo die Schuldenbremse auch in Teilen der SPD infrage gestellt wird? Denn das Geld muss irgendwann zurückgezahlt werden oder man muss – über den Arbeitsmarkt werden wir noch reden müssen – im kommenden Jahr zusätzliches Geld in die Hand nehmen. Ist die Schuldenbremse für Sie tatsächlich auch unantastbar?
Heil: Die Schuldenbremse ist zum einen Verfassungswirklichkeit in Deutschland. Sie kennt in Notzeiten die Möglichkeit von Ausnahmen – bei Naturkatastrohen oder schweren wirtschaftlichen Verwerfungen. Von denen haben wir in der Corona-Wirtschaftskrise auch Gebrauch gemacht. Wir haben jetzt gesagt, was notwendig ist und die Möglichkeiten dieses Jahr auch genutzt.
Das Ziel ist, dass wir damit das nächste Jahr wirtschaftlich und sozial gut überstehen. Wenn das gelingt, dann haben wir die Chance, aus dieser Krise wirtschaftlich rauszuwachsen und mit Steuermehreinnahmen und auch höheren Sozialversicherungsbeiträgen dafür zu sorgen, dass wir Schulden auch wieder runterbringen. Darum muss es gehen.
Finthammer: Doch ist auch die Frage zu stellen, wie das in Zukunft mal zurückgezahlt werden soll. Auch darüber gibt es einen vehementen Streit. Es gibt auch die Debatte über eine Vermögensabgabe, zumindest für diejenigen, die in dieser Krisensituation deutlich mehr verdienen als andere. Wäre das für Sie auch eine Möglichkeit, dass man auf diejenigen zurückgreift, bei denen die Gewinne in dieser Krise explodiert sind?
Heil: Ja, das tun wir beispielsweise, indem wir dafür sorgen, dass in den Strommarkt eingegriffen wird. Das ist schon richtig. Als Sozialdemokrat bin ich immer dafür, dass wir Lasten und Chancen in der Gesellschaft gerecht verteilen. Es geht um drei Entlastungspakete. Jetzt geht es um diesen Schutzschirm. Das alles ist nicht wichtig, damit sich eine Koalition irgendwie zusammenrappelt oder wohlfühlt, sondern es ist wichtig für Deutschland, diese Gesellschaft zusammenzuhalten.
Finthammer: Aber ein sozialdemokratisches Ja zur Vermögensabgabe habe ich nicht rausgehört.
Heil: Sie kennen das Wahlprogramm meiner Partei. Das ist in der Koalition aber nicht vereinbart. Umso wichtiger ist es, dass wir dafür sorgen, dass eine gerechte Verteilung auch stärker in Deutschland stattfindet. In meinem Arbeitsbereich geht es vor allen Dingen um gerechtere Löhne.

Hilfe für Menschen in aktueller Krise

Finthammer: Unter normalen Bedingungen, ohne eine Krise, hätten wir wahrscheinlich schon über den Mindestlohn geredet. Der ist nun in Kraft getreten und hat eine große Bedeutung für knapp sieben Millionen Menschen in Deutschland. Aber an diesem Wochenende geht das Thema geradezu unter, weil wir mit Gas und den Kriegsfolgen der Ukraine viel zu tun haben. Was hätten Sie unter den normalen Bedingungen den Menschen über den Mindestlohn erzählt?
Heil: Es geht vielleicht in den Medien ein bisschen unter, aber Gott sei Dank nicht in den Portemonnaies der Menschen, bei denen das ankommt. Denn um die muss es ja gehen. Es geht um sehr fleißige Menschen, um Menschen, die in der Lagerlogistik arbeiten oder die Brötchen verkaufen, die davon profitieren. Das sind überwiegend Frauen, auch viele Beschäftigte in Ostdeutschland, aber auch im Westen in strukturschwachen Gebieten, die hart arbeiten, aber zu wenig verdienen.
Das ist für viele Menschen die größte Lohnerhöhung in ihrem Leben. Gemessen am letzten Jahr um 22 Prozent. Gemessen an der Erhöhung im Juni, da ging es auf 10,45 Euro, immerhin 15 Prozent. Das hilft Menschen zudem in dieser schwierigen Zeit akut, weil es dafür sorgt, dass Löhne auch in diesem Bereich steigen. In der Kombination übrigens mit Entlastungen, die wir auch für Menschen mit geringerem Einkommen jetzt organisieren, Stichwort Senkung von Sozialversicherungsbeiträgen und Wohngeld, hilft das Menschen gerade auch in dieser schwierigen Zeit.
Finthammer: Als die 12 Euro beschlossen wurde, klang das noch nach einer gewaltigen Zahl. Sie haben gesagt, gegenüber dem vergangenen Jahr eine Lohnsteigerung von fast 22 Prozent. Angesichts der Inflationsrate, die wir im Moment haben, reichen da die 12 Euro nicht hin. Muss man schon fast sagen, die Mindestlohnkommission müsste im kommenden Jahr noch eine weitere Erhöhung beschließen, damit das zum Leben überhaupt ausreichend ist?
Heil: Erst mal muss man sagen, das ist ein großer Schritt - die größte Lohnerhöhung für viele Menschen in ihrem Leben. Es hilft, dass die unteren Einkommen stärker an die mittleren Einkommen herangeführt werden. Die Europäische Union hat mal gesagt, eine vernünftige Lohnuntergrenze sind 60 Prozent des mittleren Einkommens.
Aber wenn Sie mich fragen, hilft das in der akuten Zeit, kann ich sagen, nein, allein nicht. Aber mit den Entlastungen, dass wir zum Beispiel für Menschen, die weniger als 2.000 Euro bekommen, ab 1. Januar die Sozialversicherungsbeiträge massiv senken, damit die mehr in der Tasche haben, damit netto mehr in der Tasche ist, ohne übrigens, dass sie sich in den sozialen Anwartschaften zum Beispiel bei der Rente verschlechtern, in der Kombination mit dem Wohngeld und mit den Maßnahmen, die jetzt zur Senkung von Strom und von Gaspreisen eingesetzt werden, helfen wir Menschen mit geringem Einkommen, gut durch diese Zeit zu kommen. Es ist beides wichtig, dass Löhne angemessen steigen und wir Entlastungen organisieren. Das tun wir auch.

"Wir wollen auch dafür sorgen, dass es wieder mehr Tarifverträge gibt"

Finthammer: In einigen ostdeutschen Landkreisen, etwa in Sonneberg in Thüringen und auch im Landkreis Teltow-Fläming in Brandenburg, liegt der Anteil der Geringverdiener bei knapp 44 Prozent. In Erlangen und München unter zehn Prozent. Generell gibt es da wirklich ein deutliches Ost-West-Gefälle. Darin ist wohl auch ein wesentlicher Grund zu sehen, weshalb in Brandenburg, wo Sie inzwischen wohnen, am vergangenen Montag 17.000 Menschen auf die Straße gegangen sind, gegen die steigenden Energiepreise zu demonstrieren, gegen überhaupt den politischen Unmut auf die Straße zu bringen. Können Sie diese Menschen mit dieser Erhöhung des Mindestlohns wieder erreichen?
Heil: Mein Eindruck ist, dass es in größeren Teilen Ostdeutschlands, auch nicht in gesamt Ostdeutschland, aus zwei Gründen in dieser Situation eine höhere Anspannung gibt. Zum einen ist es tatsächlich so, dass wir immer noch ein Lohngefälle haben, das im Wesentlichen daran liegt, dass die Tarifbindung im Westen größer ist. Da, wo Tarifverträge sind, sind die Arbeits- und Lohnbedingungen besser als da, wo in der Regel keine sind. Deshalb ist der Mindestlohn wichtig, aber nicht ausreichend. Wir wollen auch dafür sorgen, dass es wieder mehr Tarifverträge gibt. Da wird auch noch was kommen, indem wir zum Beispiel dafür sorgen, dass öffentliche Aufträge des Bundes nur an Unternehmen gehen, die nach Tarif bezahlen.
Der zweite Grund ist nach meiner Erfahrung als jemand, der aus Niedersachsen kommt, der aber in den 90ern schon mal in Brandenburg war und erlebt hat, wie damals nach dem Fall der Mauer Arbeitsplätze weggebrochen sind und viele Menschen viel verloren haben, was sie sich mühsam in den letzten Jahren aufgebaut haben, dass es in dieser Krise Sorge gibt, dass wieder vieles auf dem Spiel steht. In dieser Situation Sicherheit zu vermitteln und deutlich zu machen: Wir lassen weder Handwerksunternehmen, noch Industriebetriebe, noch Menschen mit geringem Einkommen oder bedürftige Menschen allein, ist deshalb ein wichtiges Signal auch der politischen Stabilität. Und es wird bei den Menschen ankommen.
Finthammer: Die AfD hat für das kommende Wochenende 5.000 Menschen oder 5.000 Demonstranten vor dem Brandenburger Tor angekündigt. Auch die Linke macht in diesen Tagen immer wieder mobil. Da ist sogar schon von einem „heißen Herbst“ die Rede. Der Unmut in den sozialen Medien, den bekommen Sie fast tagtäglich zu spüren. Da gehen doch solche Fortschritte wie der Mindestlohn im Moment geradezu unter. Oder können Sie dem wirklich argumentativ was entgegensetzen?
Heil: Zum einen ist es ein gutes Recht in Deutschland zu demonstrieren. Allerdings muss man aufpassen, an wessen Seite man sich stellt. Klar ist, dass Rechtsradikale, dass Neonazis, dass Querdenker versuchen, jede Krise und jede Angst, die in einer Gesellschaft ist, für ihre üblen Zwecke zu missbrauchen.
Es gibt auch Verbindungen solcher Milieus zum Beispiel mit der russischen Administration. Da darf man überhaupt nicht naiv sein. Es gibt Belege dafür, dass auch in den sozialen Medien schon seit Jahren in westlichen Gesellschaften, ob bei Gelbwesten in französischen Wahlkämpfen oder durch Verbindungen zur AfD und Querdenkerszene oder in der Geflüchteten-Frage 2015, es auch russische Interventionen gab, unsere Gesellschaft zu destabilisieren. Dagegen muss man sich politisch zur Wehr setzen.
Zum anderen muss man aber wissen, das ist keine ausgedachte Wirtschaftskrise. Die Verantwortung trägt im Wesentlichen Putin. Aber es haben Menschen Sorgen, wie sie über die Runden kommen. Deshalb geht es nicht nur um politische Aufklärung, sondern auch um soziale und materielle Hilfe. Die leisten wir, um unsere Gesellschaft, politisch zusammenzuhalten, um Menschen, die sich Sorgen machen, auch ein Stück Sicherheit zu geben, dass wir gemeinsam durch diese schwierige Zeit kommen.

Positive Wirkung des Mindestlohns

Finthammer: Aber Sorgen haben bestimmt auch nicht wenige Arbeitgeber. Für manche, die nicht wirklich tarifgebunden sind, bedeutet das erhebliche Steigerungen bei den Lohnkosten, die sie nicht gleichermaßen in allen Bereichen weitergeben können. Da drohen vielleicht sogar Entlassungen oder der Rückgriff auf die Kurzarbeit, weil kleinere Unternehmen wirklich Probleme haben werden. Müssen wir am Ende mit Beschäftigungsverlusten in einigen Regionen in Ostdeutschland rechnen?
Heil: Nicht aufgrund des Mindestlohns. Diese Befürchtung gab es 2015 bei der Einführung des Mindestlohns auch schon. Einige haben sogar den Untergang der sozialen Marktwirtschaft befürchtet. Das Gegenteil war der Fall. Gesamtwirtschaftlich rechnen wir damit, dass der Mindestlohn positive Wirkung hat, für den gesamten Arbeitsmarkt eine neutrale Wirkung erst mal da sein wird. Denn es stärkt auch die Kaufkraft von Menschen mit geringem Einkommen.
Finthammer: Aber gilt das auch für die Krise?
Heil: Ja, auch in der Krise ist das so, weil Gott sei Dank die Erhöhung des Mindestlohns höher ist als die Inflation. Ich habe vorhin gesagt, gemessen zum letzten Jahr 22 Prozent, gemessen zum Juni immerhin 15 Prozent Lohnerhöhung für Menschen. Trotzdem wird ein Teil von der Inflation aufgefressen. Deshalb sind Entlastungen zusätzlich notwendig.
Aber die Frage ist: Bringt das die Wirtschaft in Schlagseite? Nein, das tut es nicht. Gerade in Zeiten, in denen man händeringend Arbeits- und Fachkräfte braucht, das ist auch eine Realität in Deutschland, müssen sich in vielen Berufen die Lohn- und Arbeitsbedingungen verbessern, um Menschen für Berufe gewinnen zu können. Das Zweite ist, das ist kein Geld, das auf die Cayman Islands oder nach Luxemburg geht, sondern hier in den Wirtschaftskreislauf, weil wir von Menschen reden, deren Geld in der Regel nicht in Sparrücklagen, sondern in Konsum geht.
Und das Dritte ist: Es ist auch eine Frage des Respekts vor harter Arbeit. Deshalb ist es auch gesellschaftlich richtig. Also, außer, dass die CDU sich im Bundestag beim Mindestlohn heldenhaft enthalten hat, spricht nichts gegen den Mindestlohn und auch nichts dagegen, ihn jetzt zu erhöhen. Ein Treiber für Inflation ist es übrigens auch nicht. Das sind gestiegene Energiepreise, importierte Inflation. Aber es ist nicht Ausdruck von einer Lohn-Preis-Spirale, wie einige behaupten.

Je mehr Tarifbindung, desto weniger mischt sich der Staat ein

Finthammer: Na, dann noch ein anderer letztes Aspekt zum Thema Mindestlohn. Arbeitgeberpräsiden Rainer Dulger spricht von einem Vertrauensbruch der Politik gegenüber den Sozialpartnern, weil die Mindestlohnkommission in dem Verfahren übergangen wurde. Da gibt es die Sorge, dass das kein einmaliger Akt bleiben könnte. Ausschließen kann man das doch prinzipiell nicht? Oder war es das mit dieser Gesetzesänderung?
Heil: Es war eine notwendige Erhöhung, die übrigens auch einer europäischen Richtlinie entspricht, die einen Maßstab gibt, wo in Europa Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten liegen sollen, nämlich bei 60 Prozent des mittleren Einkommens, damit bei Vollzeitarbeit ein Mindestlohn auch armutsfest ist.
Aber die Sozialpartner, das betrifft Arbeitgeber und Gewerkschaften, sind herzlich eingeladen, nicht nur in der Mindestlohnkommission weiter mitzuwirken, was weitere Erhöhungsschritte betrifft – so ist es auch vereinbart –, sondern ihren Job zu machen, was Tarifbindung betrifft. Je mehr es wieder Tarifbindung gibt, desto weniger muss der Staat sich einmischen.
Ich will, dass wir da zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern und auch Staat vernünftig drüber reden, was dafür notwendig ist. Denn diese Zahl will ich Ihnen noch nennen. Wir hatten vor 30, 40 Jahren mal eine Tarifbindung, die war noch bei 80 Prozent. Wir haben jetzt eine, die ist nur noch bei 51 Prozent.
Finthammer: Aber da ist die Politik doch mittellos. Oder haben Sie Mittel und Wege, wie man das verändern könnte?
Heil: Wir können nicht direkt Tarifverträge machen. Das ist Aufgabe von Gewerkschaften und Arbeitgeber. Da müssen beide Seiten auch ihren Job machen. Aber wir können durchaus darüber reden, welchen Rahmen wir dafür brauchen. Wir werden – das haben wir in der Koalition auch vereinbart – zum Beispiel dafür sorgen, dass öffentliche Aufträge des Staates auf Bundesebene nur an die Unternehmen gehen, die nach Tarif bezahlen, weil übrigens Unternehmen, die Leute nach Tarif bezahlen, auch im Wettbewerb nicht benachteiligt werden sollten. Das hilft auch, Anreize für mehr Tarifbindung zu setzen.
Finthammer: Wir bleiben beim Arbeitsmarkt in der engeren Version. Sie haben die bisherigen großzügigen Regelungen beim Kurzarbeitergeld mit den erleichterten Zugängen bis zum Jahresende verlängert. Ist es eigentlich nicht viel zu kurz, wenn man vermuten muss, dass die wirtschaftlichen Folgen der Krise erst allmählich durchschlagen? Wir laufen nach dem Herbstgutachten der führenden Wirtschaftswissenschaftler auf eine Rezession zu oder geradezu stürmen wir hinein. Da wäre doch eine Verlängerung um ein ganzes Jahr eigentlich angemessen und richtig gewesen.
Heil: Man muss dazu wissen, wir haben erst mal diese Verordnung gezogen. Den sogenannten vereinfachten Zugang, Kurzarbeit einsetzen zu können und für Unternehmen und Beschäftigte bis Ende des Jahres zu erleichtern. Aber wir haben gleichzeitig den Bundestag gebeten, das hat er auch beschlossen, uns im Zweifelsfall, wenn es wirtschaftlich eskalieren sollte, tatsächlich auch weitere Verordnungsermächtigungen über den 31. Dezember hinaus in die Hand zu geben, auch noch nachsteuern zu können. Für den Fall, dass es wirtschaftlich eskaliert, werde ich keine Sekunde zweifeln, auch davon Gebrauch zu machen.

„Kurzarbeit steht jetzt zur Verfügung“

Finthammer: In der Coronazeit waren über sechs Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit. Die Bundesagentur hat dafür über 46 Milliarden Euro ausgegeben. Sie haben 24 Milliarden Euro zuschießen müssen. Könnten Sie vor dem Hintergrund solcher Szenarien überhaupt noch mal diese finanziellen Mittel in der gleichen Art und Weise mobilisieren? Die Schuldenbremse würde Ihnen doch da auch einen Strich durch die Rechnung machen.
Heil: Es gibt ein paar gute Nachrichten. Wir haben nicht sechs Millionen Menschen in Kurzarbeit zu befürchten. Das war am Anfang 2020 der Coronapandemie und Wirtschaftskrise der Fall. Die meisten sind in Vollzeitarbeit zurückgegangen. Das hat geholfen, Beschäftigungen zu sichern. Das hat Unternehmen geholfen, Fachkräfte an Bord zu halten. Es hat die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisiert. Das war und ist ein erprobtes Kriseninstrument.
Wir setzen es jetzt da noch ein, wo es notwendig ist, wo zum Beispiel Unternehmen durch gestörte Lieferketten Produktionsprobleme haben oder wo konjunkturell die Nachfrage weggebrochen ist, um Brücken zu bauen, bis sich die Wirtschaft wieder erholt hat. Ich rechne nicht damit, dass das in dem Maße wie 2020 der Fall ist. Wir sind aber alle ein bisschen auf der Hut, weil uns auch Ökonomen sagen, es ist nicht alles kalkulierbar. Je nachdem, wie Wirtschaft läuft, wie Weltwirtschaft sich entwickelt, wie dieser Krieg dauert oder eskaliert, ist es gut, dass wir alle Instrumente parat haben, um im Zweifelsfall reagieren zu können.
Kurzarbeit steht jetzt zur Verfügung. Das gibt Unternehmen und Beschäftigten Sicherheit. Wie gesagt, vorrangig sind Wirtschaftshilfen und Entlastungsmaßnahmen. Aber da, wo es notwendig ist, werden wir Kurzarbeit einsetzen. Und wir haben auch die finanziellen Möglichkeiten im Bund und in der Bundesagentur, das hinzubekommen. Wir haben inzwischen übrigens Gott sei Dank, dadurch, dass der Arbeitsmarkt durch Kurzarbeit so gut gelaufen ist, dass die meisten wieder in Vollzeitarbeit zurückgekehrt sind und wir einen hohen Stand sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungen haben, auch wieder Mehreinnahmen bei der Bundesagentur für Arbeit, weil mehr Menschen in die Kasse einzahlen. Insofern, das kriegen wir hin.

Hartz IV wird Bürgergeld – „Diese Reform ist jetzt dringend notwendig“

Finthammer: Wir kommen nicht umhin, auch, wenn die Zeit schon dem Ende zuläuft, über das Bürgergeld noch einmal zu reden, Herr Heil. Damit soll ja Hartz IV abgelöst werden. Die Sozialverbände kritisieren ja schon die geplante Anhebung um lediglich 53 Euro bei den Regelsätzen und verlangen eigentlich das Vierfache, um einen sozialen Abstieg zu verhindern. Den Streit werden Sie ja bei den Betroffenen wohl kaum gewinnen können, aber was wäre denn oder was ist denn für Sie der wichtigste Fortschritt bei der geplanten Reform?
Heil: Sind zwei Dinge. Zum einen, dass wir Menschen, die in existenzielle Not kommen, verlässlich absichern. Und dafür ist es notwendig, dass die Erhöhung des Regelsatzes nicht der Inflationsentwicklung hinterherhinkt. Dafür haben wir jetzt gesorgt. Man muss allerdings wissen, dass Menschen in der Grundsicherung kein Problem haben mit Heizkosten und Kosten der Unterkunft, weil die vom Amt übernommen werden. Das heißt, wir helfen Menschen, die keine Rücklagen haben, die jetzt in existenzieller Not sind, mit diesem Schritt.
Aber das Wichtigste ist für mich nicht, nur Menschen verlässlich abzusichern. Und schon gar nicht, dass man Bedürftigkeit verwaltet, sondern Menschen wieder rausholt. Und da ist der wichtigste Schritt, dass wir dafür sorgen, weil zwei Drittel der langzeitarbeitslosen Menschen in der Grundsicherung für Arbeitssuchende keinen abgeschlossenen Berufsabschluss haben, dass wir sie nicht nur in irgendwelche Hilfstätigkeiten drücken und dann als Jobcenter nach ein paar Monaten wiedersehen, sondern dass wir auch mit finanziellen Anreizen – das können im Monat 150 Euro sein –, aber vor allen Dingen auch mit einem Wechsel in der Gesetzgebung dafür sorgen, dass sie einen Berufsabschluss nachholen können, damit ein dauerhafter Weg aus der Arbeitslosigkeit gelingt. Das hilft den Menschen. Das hilft übrigens auch bei der Fachkräftesicherung.
Finthammer: Ein großes Thema sind dabei ja Schonfristen oder der temporäre Verzicht auf Sanktionen. Das ist ja umstritten und wird von vielen Seiten kritisiert. Glauben Sie wirklich, dass man ohne Sanktionen auskommen wird?
Heil: Na, es geht nicht ohne Sanktionen und ohne Mitwirkungspflichten. Aber es geht darum, das auf das zu konzentrieren, wo es notwendig ist und nicht alle unter Generalverdacht zu stellen, die in Not geraten sind, als bräuchten sie vor allen Dingen erst mal Rechtsbelehrung oder Sanktionen. Das ist ja auch in der jetzigen Praxis in den seltensten Fällen derzeit. Worum geht es? Wir haben gesagt, wir wollen, dass wenn Menschen in Not kommen, sie möglichst schnell wieder rauskommen. Das heißt, dass im neuen System mit Bürgergeld sich Jobcenter und betroffene Menschen zusammensetzen und darüber reden, ohne Rechtsbelehrung, was man tun kann, um sie wieder in Arbeit zu bringen, rauszubringen aus der Bedürftigkeit. In diesen Bereichen gibt es auch Mitwirkungspflichten. Wer zum Beispiel chronisch keinen Termin wahrnimmt, der hat auch mit Leistungsminderungen zu rechnen, auch in den ersten sechs Monaten. Nach sechs Monaten gibt es auch bei Pflichtverletzungen, also, wenn man chronisch keine Arbeit annimmt, die Möglichkeit.
Aber wir wollen nicht mehr diese Diskussion so führen, weil es in den meisten Fällen nicht notwendig ist, alle unter Verdacht zu stellen, dass sie zu faul sind zu arbeiten. Das stimmt übrigens nicht. Sondern wir wollen Menschen ermutigen, befähigen, dass sie tatsächlich wieder in Arbeit kommen, dass sie rauskommen. Haben dafür, wie gesagt, die Möglichkeit zu unterstützen, zu befähigen einen Berufsabschluss nachzuholen oder eine Qualifikation. Das ist der richtige Weg. Und was mit dem Bürgergeld auch verbunden ist: Wir werden das System grundlegend entbürokratisieren. Denn das ist ein sehr, sehr kompliziertes Gesetz. Ist übrigens nicht die Schuld der tüchtigen Kolleginnen und Kollegen, die in Jobcentern arbeiten. Die wollen den Menschen helfen und die leisten großartige Arbeit. Aber diese Reform ist jetzt dringend notwendig, weil das System zu komplex ist und übrigens auch zu bürokratisch.
Finthammer: Und wie leisten Sie den kulturellen Wandel in den Jobcentern, wo bislang der Vermittlungsvorrang eine große Bedeutung hatte, wo es jetzt viel stärker um Qualifizierung, um Beschulung und Weiterbildung gehen sollte? Auch das muss ja von den Beschäftigten in den Jobcentern oder der Bundesagentur umgesetzt werden. Die Bundesagentur selbst verlangt ja schon einen stufenweisen Einstieg in diesen Prozess, weil man da nicht einfach den Schalter umlegen kann von jetzt auf sofort.
Heil: Das ist auch richtig. Das Gesetz soll zum 01. Januar in Kraft treten. Die Umsetzung wird ein bisschen Zeit dauern. Nicht nur, weil man IT-Systeme umstellen muss, sondern weil die Jobcenter und die Bundesagentur das ja in Volllast einer Krise übrigens auch umzusetzen hat. Das braucht ein bisschen Zeit. Aber ich habe Unterstützung aus der Bundesagentur und aus den Jobcentern erlebt. Übrigens auch, weil wir die Idee des Bürgergeldes zusammen mit Praktikern aus dem Jobcenter entwickelt haben, mit betroffenen Menschen, mit Wissenschaftlern. Und die wissen auch: Der Arbeitsmarkt von heute ist ein ganz anderer als der Arbeitsmarkt vor 20 Jahren, als das Hartz-IV-System eingeführt wurde. Damals hatten wir fünf Millionen Arbeitslose. Heute haben wir in vielen Bereichen Arbeits- und Fachkräftemangel. Und wie gesagt, wir haben in der Grundsicherung für Arbeitsuchende zwei Drittel ohne Berufsabschluss.
Deshalb ist es richtig, dass das neue Bürgergeld Menschen verlässlich absichert und neue Chancen auf Beschäftigung schafft, und zwar auf eine dauerhafte Beschäftigung und nicht nur auf kurzfristige Hilfstätigkeiten. Und eine Bemerkung noch: Dass wir übrigens in diesen Zeiten immer noch darauf achten müssen, dass Arbeit einen Unterschied macht, und dass wir nicht zulassen gesellschaftspolitisch, dass jetzt bedürftige Menschen gegen Geringverdiener ausgespielt werden. Denn da schließt sich der Kreis. Gerade deshalb erhöhen wir den Mindestlohn, weil Arbeit einen Unterschied machen muss. Deshalb entlasten wir Geringverdiener. Und wir haben leider Gottes immer noch viele Menschen, die in der Grundsicherung sind, auch im Bürgergeld und die ergänzende Grundsicherung brauchen, obwohl sie arbeiten. Und die wollen wir da rausholen, vor allen Dingen übrigens alleinerziehende Frauen mit einer Verbesserung des Kinderzuschlages.
Finthammer: Und das Gesetzgebungsverfahren ist auch rechtzeitig abgeschlossen, dass es zum 1. Januar 2023 beginnen kann?
Heil: Das ist mein Ziel. Wir haben das jetzt im Bundeskabinett beschlossen. Das geht jetzt in den Bundestag. Es muss auch durch den Bundesrat. Es ist ein zustimmungspflichtiges Gesetz. Aber ich habe gute Argumente und wir haben genug Zeit für eine ordentliche Gesetzgebung. Und mein Ziel ist, dass das zum 01. Januar kommt. Da muss der Regelsatz ja sowieso steigen. Und es gibt auch keinen Grund, das auf die lange Bank zu schieben. Jedem kann es passieren, dass er auf staatliche Hilfe angewiesen ist. Und da muss sich übrigens niemand schämen. Das ist ein Gebot unseres Sozialstaates, dass man dann Hilfe bekommt. Aber es ist eine Frage der Vernunft, dass wir Menschen möglichst schnell aus der Bedürftigkeit wieder rausführen. Und das verbinde ich mit dem Bürgergeld. Und deshalb wollen wir das auch zum 01. Januar auf die Schiene setzen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.