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Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP)
"Deutschland muss wehrfähig sein"

Die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat sich im Deutschlandfunk hinter den Kurswechsel der Bundesregierung in der Außen- und Sicherheitspolitik gestellt. Angesichts eines "Massenmörders" wie Russlands Präsident Wladimir Putin müsse Deutschland wehrfähig sein.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann im Gespräch mit Marcus Pindur | 06.03.2022
FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann in ihrem Abgeordnetenbüro im Jakob-Kaiser-Haus in Berlin
FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann in ihrem Abgeordnetenbüro im Jakob-Kaiser-Haus in Berlin (picture alliance/ dpa/ Kay Nietfeld)
In seiner Regierungserklärung im Bundestag am 27. Februar 2022 hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine eine deutliche Erhöhung des Wehretats angekündigt. Die Bundeswehr soll demnach über ein Sondervermögen 100 Milliarden Euro für Investitionen und Rüstungsvorhaben erhalten. Zugleich sagte der Kanzler zu, Deutschland werde „von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“. Die zusätzlichen Wehrausgaben seien bereits mit Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) abgestimmt.

"Sicherheitspolitik auf neue Beine stellen"

Von dieser weitreichenden Kursänderung in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik habe sie selbst erst kurz zuvor erfahren, sagte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Die Kurswende sei aber in der FDP trotz der haushaltspolitischen Konsequenzen konsensfähig. Es sei "wahrlich Zeit, dass wir unsere Sicherheitspolitik auf neue Beine stellen. Dass wir in Deutschland aufhören, davon zu träumen, eine große neutrale Schweiz zu sein, sondern dass wir der Realität ins Auge schauen müssen, dass wir wehrhaft sein müssen und vor allen Dingen wehrfähig sein müssen.“

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"Putin ist ein Massenmörder"

Lebte der frühere FDP-Außenpolitiker Hans-Dietrich Genscher noch, "würde er uns nach wie vor darauf hinweisen, dass der Dialog die Nummer eins ist. Aber der Dialog hat ja stattgefunden, der Kanzler war in Moskau, der französische Präsident war in Moskau. Der amerikanische Präsident hat mit Putin gesprochen, die Diplomatie hinter den Kulissen hat gearbeitet, was das Zeug hält", betonte Strack-Zimmermann. Doch Russlands Präsident Wladimir Putin sei nicht mit normalen Maßstäben zu betrachten. "Dieser Mann ist ein Massenmörder", so die Verteidigungspolitikerin. "Dann müssen sie eben auch entsprechend wehrfähig sein.“

"Die Bundeswehr hat ein Beschaffungsproblem"

Die Bundeswehr wurde nach Ansicht der Bundestagsabgeordneten nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes allerdings „radikal runtergespart“. Viele Bundeswehrangehörige seien entlassen, ihr Know-how nicht ersetzt worden. Liegenschaften seien geschlossen worden, Material sei nicht ausgebessert worden. Nun müsse zunächst der Bestand gesichert und gepflegt und dann in neues Material investiert werden. Das sei nicht zuletzt auch bündnispolitisch geboten, gegenüber den Partnern in NATO und EU. Geld sei hier aber nicht alles. Die Bundeswehr habe ein großes Problem beim Thema Beschaffung: "Wir beschaffen zu langsam, wir schreiben alles aus, wir sind viel zu detailverliebt, wir machen immer deutsche Lösungen, dabei gibt es auf dem Markt Produkte, die man so kaufen kann", so Strack-Zimmermann. Hier müsse es mehr Kooperation mit anderen Bündnispartnern geben.

Das Interview im Wortlaut:

Marcus Pindur: Wir leben seit einer Woche in einer anderen verteidigungspolitischen Welt. Der Angriffskrieg Putins hat jahrzehntelange Annahmen über die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik kollabieren lassen. Dialog kann offensichtlich gegenüber einem kriegsentschlossenen Gegner den Frieden nicht sichern. Deutsche Sicherheit wird in den nächsten Jahren und auch europäische Sicherheit nicht mit, sondern vor Russland organisiert werden müssen. Und die Regierungserklärung des Kanzlers vor einer Woche war wohl eine deutliche Wegscheide. Frau Strack-Zimmermann, was ging Ihnen als Erstes durch den Kopf, als Sie die Nachricht hörten, dass der Krieg begonnen hat?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Ich war entsetzt, wenngleich nicht überrascht. Ich möchte jetzt nicht klüger scheinen als die meisten Menschen. Aber was ja aufgefallen ist in den letzten Wochen und Monaten, dass das Wort, das Putin ergreift, keinen Wert hat, sondern nur das, was er macht. Er hat, als er die beiden Herrschaften da hatte aus den ukrainischen Provinzen und diese zur Unterschrift aufforderte, da war mir klar, mir persönlich klar, ich habe das auch artikuliert, das sei eine Kriegserklärung. Die eigentliche Invasion hat mich tragischerweise nicht überrascht, aber sie berührt mich sehr, weil ich geglaubt habe, dass ich Zeit meines Lebens – und ich bin Ende der 50er geboren, kann mich also an den Ost-West-Konflikt mit Haut und Haaren sehr gut daran erinnern. Dass ich das noch erlebe, das hätte ich nicht für möglich gehalten.

Strack-Zimmermann: Wir müssen wehrhaft sein

Pindur: Sie sind damit nicht allein. Putins Krieg gegen die Ukraine hat ja weltweit für Empörung und Entsetzen gesorgt. Aber nirgends hat es wohl eine so grundlegende Kursänderung in der Außen- und Sicherheitspolitik gegeben wie in Deutschland. Wann haben Sie denn erfahren, dass Bundeskanzler Scholz eine solch weitgehende Wende vorhatte?
Strack-Zimmermann: Ich hatte das … in der Konsequenz hatten wir das kurz vorher erfahren. Nun stellen wir ja den Bundesfinanzminister, der das Ganze ja entsprechend nicht nur mitträgt, sondern auch sozusagen umsetzt. Wenn die Situation nicht so katastrophal und tragisch wäre, dann würde ich Ihnen heute sagen: Herr Pindur, es ist wahrlich Zeit, dass wir unsere Sicherheitspolitik auf neue Beine stellen, und dass wir in Deutschland aufhören, davon zu träumen, eine große, neutrale Schweiz zu sein. Sondern, dass wir der Realität ins Auge schauen müssen, und dass wir wehrhaft sein müssen und vor allen Dingen auch wehrfähig sein müssen.

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Pindur: Also, diese Neuausrichtung, die das ja nach Ansicht aller Beobachter ist, der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die ist Ihrer Ansicht nach nötig? Wie ernst schätzen Sie denn die Lage derzeit ein?
Strack-Zimmermann: Na, ich halte sie für überfällig, denn wir beobachten ja, dass es … ja, Menschen auf der Welt gibt, die dieses Friedensansinnen, dieses Anliegen, das wir alle haben, eben in keiner Form teilen. Und es war wichtig, jetzt sich eben damit auseinanderzusetzen. Und ich glaube, dass das angesichts der Bilder auch bei denen ankommt, die mit Militär nicht nur fremdeln, sondern auch ein großes Störgefühl haben.

"Wir haben seit 1990 die Bundeswehr radikal runtergespart"

Pindur: Wie bewerten Sie denn jetzt die Maßnahmen, die Bundeskanzler Scholz vorgeschlagen hat? Also, da gibt es 100 Milliarden Euro als Sondervermögen für die Bundeswehr. Er avisiert eine Steigerung des Wehretats auf mehr als zwei Prozent des Bruttosozialproduktes. Ist das Ihrer Ansicht nach ausreichend? Oder ist es Ihrer Ansicht nach vielleicht auch ein bisschen zu viel, wenn ich mir anschaue, dass die FDP ja sehr für eine strikte Haushaltsführung ist zum Beispiel?
Strack-Zimmermann: Also, dass Frieden in Freiheit Geld kostet, das wird uns alle berühren und treffen. Und, ja, es ist richtig. Nein, es ist nicht zu viel. Klingt natürlich erst mal sehr, sehr viel. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir seit 1990, also mit der Öffnung der Mauer und dem Ende des Ost-West-Konfliktes die Bundeswehr radikal runtergespart haben. Radikal heißt: Menschen entlassen. Das Know-how nicht wieder aufgebaut. Material nicht ausgebessert. Keine Ersatzteile mehr angeschafft. Liegenschaften geschlossen und, und, und. Da waren wir nicht alleine im Westen. Aber macht es nicht besser.
Und das jetzt wieder aufzubauen in kurzer Zeit, ist natürlich so gar nicht möglich. Was man aber machen kann – und deswegen macht es Sinn, diese 100 Milliarden Sondervermögen. Sie sind festgeschrieben. Sie können nicht für anderes ausgegeben werden. Und wir werden jetzt erst mal den Bestand sichern, also, das Material anschaffen, was wir brauchen. Thema Munition – um nur ein Beispiel zu nennen. Also, das, was wir haben, zu pflegen und dann eben auch zu investieren in neues Material. Das ist erforderlich.

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Wir sind ja nicht alleine auf der Welt. Wir sind NATO-Mitglied. Wir sind mit 29 Partnern in der NATO aktiv. Wir sind eingebettet in die Europäische Union. Wir haben Aufgaben, Aufträge der Vereinten Nationen. Also, es ist Zeit, dass wir es machen. Zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes – ist ein Thema seit 2014. Schon damals haben wir der NATO das zugesichert. Jetzt ist es so: Geld ist wichtig. Geld ist nicht alles. Denn diese zwei Prozent besagen noch gar nicht, ob auch beschafft wird. Wir haben durch die Corona-Pandemie extrem viele Milliarden auf den Weg gebracht. Dadurch sank das Bruttoinlandsprodukt. Das heißt, wir rutschen instinktiv oder automatisch an diese zwei Prozent heran, ohne dass aber ein Hubschrauber mehr in der Luft ist. Zeigt, dass das erst mal eine Zahl ist, die per se nichts aussagt. Sondern sie sagt dann was aus nominal, wenn man das Geld in den Händen hat.
Und dann, Herr Pindur, wird es eine ganz große Rolle spielen, nicht nur das Geld zu haben, sondern auch in die Beschaffung zu gehen. Das ist das zweite große Problem der Bundeswehr. Wir beschaffen zu langsam. Wir schreiben alles aus. Wir sind viel zu detailverliebt. Wir machen immer deutsche Lösungen. Dabei gibt es auf dem Markt Produkte, die man so kaufen kann. Das heißt, die Deutschen erfinden immer auch die Rüstungswelt immer. Und das ist gar nicht erforderlich. Wir sind ja in Partnerschaft und können deswegen auch zurückgreifen auf das, was es gibt.
Und ein dritter Punkt: Wir müssen die Bundeswehr verschlanken. Wir haben eine riesige Verantwortungsdiffusion. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Die Inspekteure der Teilstreitkräfte sind Drei-Sterne-Generäle. Also, darüber gibt es nur noch zwei Vier-Sterne-Generäle. Und das sind sogenannte Abteilungsleiter. Die können also … für Heer, für Marine, für Luftwaffe, für Cyber können die ihre Wünsche äußern. Aber den Prozess der Beschaffung, das Ankommen dann auch des Gewünschten, das können die gar nicht mitverfolgen. Und es obliegt auch nicht ihrer Verantwortung. Und das geht nicht. Führen heißt, mit Verantwortung zu führen, heißt diese Prozesse zu begleiten. Und das hat eben alles die letzten Jahre nicht mehr stattgefunden.
Und deswegen ist es eine riesige, eine nationale Aufgabe, die wir jetzt angehen. Aber es ist gut, dass wir es machen. Und ich wiederhole mich ungern: Natürlich ist dieser Auslöser dramatisch – schrecklich. Aber es hat dieses Umdenken … und wir werden noch viel mit Menschen reden müssen und erklären müssen, die war so was von überfällig und ist ja auch kein neuer Wunsch, den ich oder meine Kolleginnen und Kollegen nicht immer wieder geäußert haben.

"Nein, es geht nicht eine Nummer kleiner"

Pindur: Das ist in verteidigungspolitischen Kreisen so seit Längerem, das stimmt. Aber ich möchte Sie noch mal daran erinnern, dass das nicht konsensfähig war in der deutschen Politik. Der ehemalige Außenminister Gabriel hat einmal gesagt, so viele Flugzeugträger könne Deutschland gar nicht kaufen, wenn man den Verteidigungshaushalt auf das NATO-Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes anhebe. Noch mal die Frage: Geht es nicht auch eine Nummer kleiner?
Strack-Zimmermann: Nein, es geht nicht eine Nummer kleiner, weil wir eben 25 Jahre zu wenig gemacht haben, und weil unsere NATO-Partner das auch zu Recht von uns einfordern. Wir leben im Herzen Europas. Wir haben das als sehr wohlig empfunden. Ich erinnere an die Worte von Johannes Rau, seinerzeit, vor 20 Jahren, Bundespräsident. Der sagte: Wir sind von Freunden umzingelt. Das hat aber dafür gesorgt, dass Leute sagen: Stimmt, um uns herum sind Franzosen, Niederländer, die Österreicher. Wir haben uns alle lieb, wunderbar. Die Gefahr ist weit, weit weg. Und unsere NATO-Partner sagen: Leute, habt ihr den Knall noch nicht gehört? Ihr seid Teil der NATO. Ihr erwartet, dass wir euch schützen, also mussten wir uns auch daran beteiligen, und zwar entsprechend unserer Volkswirtschaft. Und Deutschland ist ein reiches Land. Auch nach alle den Krisen, Bankenkrise, Corona, sind wir immer noch ein reiches Land.
Und der Konsens in der Gesellschaft, Sie haben ja recht, Herr Pindur, es war ja nicht nur der Außenminister. Es waren viele, die gesagt haben zu uns Verteidigern: Ihr habt einen Knall. Aber machen wir uns nichts vor. Jetzt gerade, just in diesem Augenblick sehen wir, dass es … erst mal den Willen … man muss den Willen haben, sein Land, seinen Kontinent, sein Bündnis zu verteidigen. Aber man muss es auch können. Und wir können es nicht. Wir sind komplett abhängig von all unseren Partnern. Und deswegen geht es keine Nummer kleiner. Es ist richtig. Und das Geld wird auch nicht morgen früh ausgegeben, sondern es wird uns Jahre begleiten, weil zum Beispiel eine neue Luftwaffe aufzubauen, das dauert natürlich. Und das werden wir in den nächsten Jahren konsequent angehen in großer Verantwortung. Das ist selbstverständlich.

Strack-Zimmermann: Freiheit wird teurer

Pindur: Bleiben wir mal bei diesem Future Combat Air System, wie es heißt – FCAS abgekürzt. Alleine FCAS soll den Steuerzahler bis 2040 100 Milliarden Euro kosten – nach jetziger Kalkulation. Manche rechnen jetzt schon mit 300 Milliarden. Das würde doch aber darauf hinweisen, dass wir mit den geplanten 100 Milliarden Sondervermögen gar nicht auskommen. Denn es gibt ja auch noch andere große Investitionen und Rüstungsvorhaben.
Strack-Zimmermann: Na ja, dieses FCAS, was Sie gerade genannt haben, das ist eine moderne Luftabwehr, kombiniert übrigens mit einer Bodenabwehr, an der gearbeitet wird, gemeinsam mit den Franzosen und Spaniern zusammen, also ein großes europäisches Projekt, was darauf aufbaut, auf modernste Kampftechnik. Kombination von Flugzeugen, von einem Ground System mit Drohnen. Und daran wird gearbeitet. Und das wird weitergemacht werden müssen, um abwehrfähig zu sein. Aber das wird eben nicht morgen aufgerufen, sondern da sind wir in der Entwicklung. Und, ja, das kostet sehr viel Geld. Und, ja, da hakt es auch immer wieder , was auch die Verantwortlichkeiten betrifft. Wie gesagt, wir sind da vor allen Dingen mit den Franzosen im Lead. Und da gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Das liegt auch daran, dass die Franzosen, dass deren Unternehmen, die da mitforschen, staatliche Unternehmen sind. Bei uns sind es Unternehmen, die überwiegend privatwirtschaftlich organisiert sind. Das heißt, die Franzosen haben da sozusagen … betreiben damit – bei allem Respekt – auch ein Stück Staatswirtschaft. Das machen wir nicht. Das ist nicht einfach. Aber wir reden hier von den nächsten 18 Jahren.
Und, wenn Sie heute schon angesichts dieses Krieges, der jetzt vor unserer Haustür steht, sehen, mit welcher Technik, mit welchem Hightech die Russen diese Ukraine angreifen, denen wir zum Teil nichts entgegenzusetzen haben als Deutschland, dann ist uns klar, dass wir auf dem Gebiet eben modern sein müssen. Und ich versuche auch immer, den Damen und Herren, die zuhören, klarzumachen, dass wir einer Gefahr ausgesetzt sind, die hat nichts mehr mit dem Kalten Krieg der 70er, 80er Jahre zu tun. Sondern das ist eine Dimension, übrigens auch im Cyber-Bereich. Angriff auf Kommunikationswege, auf Infrastruktur. Das ist eine Dimension, die können wir uns heute nicht vorstellen. Insofern, ja, wir werden uns daran beteiligen müssen, wenn wir in Zukunft … und ich rede jetzt mal von meinen Kindern. Ich habe drei erwachsene Kinder. Ich habe die ersten Enkelkinder. Wenn diese Generationen so frei und friedlich aufwachsen wollen, wie ich und meine Generation das gemacht hat, ja, dann müssen wir uns das was kosten lassen. Es ist keine schöne Nachricht, aber es ist die Realität.

"Auch jetzt versucht man hinter den Kulissen im Gespräch zu bleiben"

Pindur: Da spricht jetzt die Verteidigungspolitikerin. Aber auch bei der FDP wird es Widerstände geben. Ich meine nicht nur den auf Handel mit Russland geeichten Wirtschaftsflügel. Sondern ich meine auch das Erbe eines der Säulenheiligen der FDP – Hans-Dietrich Genscher. Das steht ja eher für diesen unbegrenzten Dialogansatz und eine gewisse Konfliktscheue. Glauben Sie, dass in Ihrer eigenen Partei diese Politikwende, die das ja bedeutet und auch eine Haltungswende insgesamt durchsetzbar sein wird?
Strack-Zimmermann: Ja. Also, bei uns ohne Wenn und ohne Aber. Und, wenn Hans-Dietrich Genscher leben würde, würde er uns nach wie vor darauf hinweisen, dass der Dialog die Nummer eins ist. Aber der Dialog, Herr Pindur, hat ja stattgefunden. Der Kanzler war in Moskau. Der französische Präsident war in Moskau. Der amerikanische Präsident hat mit Putin gesprochen. Die Diplomatie hinter den Kulissen hat gearbeitet, was das Zeug hält. Also, man kann keinem vorwerfen, dass das Bemühen und das aktive Tun nicht dagewesen ist. Auch jetzt versucht man hinter den Kulissen im Gespräch zu bleiben.
Aber, wenn sie einen Diktator wie Wladimir Putin vor sich haben, dieser Mann ist ein Massenmörder. Dieser Mann ist nicht mit unseren normalen – in Anführungszeichen – Gesichtspunkten zu betrachten. Dann müssen sie eben auch entsprechend wehrfähig sein. Und wir werden alle unseren Gürtel enger schnallen müssen, gar keine Frage. Aber die Dinge, die wir jetzt in Zukunft angehen wollen, die Energiewende, mehr in andere Energieformen zu gehen, die bleiben ja richtiger denn je. Denn wir sehen ja, was Deutschland davon hat, wenn die Abhängigkeit zu Russland so gigantisch ist, dass wir gewissermaßen spätestens jetzt merken, dass wir autark sein müssen, deutlich autarker. Das ist nicht einfach. Wir haben keine vergleichbaren Bodenschätze. Aber wir haben eben Luft und Sonne. Und dass wir eben genau in diese Richtung jetzt gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen auch der anderen Parteien gehen, das ist ja nur mehr als richtig.

Der Krieg "berührt auch unser bis dato sehr bequemes Leben"

Pindur: Da sind wir sehr verwundbar. Der Wirtschaftsminister Habeck hat jüngst gesagt, dass er den sozialen Frieden gefährdet sehe, wenn man jetzt tatsächlich hinginge und Putin von den Energieflüssen abschneiden würde und ihm die Einnahmen aus seinen Energieverkäufen streitig machen würde. Wo sehen Sie denn da einen kurzfristigen Ausweg?
Strack-Zimmermann: Es wird keinen kurzfristigen geben, weil wir auch dieses Thema ja die letzten Jahre ausgeblendet haben. Und, wenn ich jetzt mal Nord Stream 2 sehe, also die Leitung, die dort gelegt wurde, das hat die Kanzlerin immer von einem privatwirtschaftlichen Projekt gesprochen. Da hat die Nord Stream 2 AG 9,5 Milliarden Euro investiert, um an der Ukraine vorbei Gas zu liefern. Das war keine privatwirtschaftliche Sache. Das war Geostrategie. Und da kann ich nur sagen, das hätte in dieser Form die Bundesregierung, die ehemalige Bundesregierung nie, aber auch nie dulden können. Da war man naiv. Da hat man geglaubt: Wandel durch Handel – wie auch immer. Und das geht eben nur begrenzt.
Das heißt, spätestens jetzt, vor einer Woche, sind wir aufgewacht und haben festgestellt, dass wir uns um unsere Energievorsorge kümmern müssen. Es ist wichtig und richtig, dass wir, gerade, wenn die Preise steigen – und die Gaspreise steigen sowieso, die Energiekosten – das zum Teil ausgeglichen wird. Gerade für die Menschen, denen es nicht gut geht. Das wird ja auch im Finanzministerium gemacht. Die EEG-Umlage soll fallen. Das ist alles völlig richtig. Aber unter dem Strich wird es uns alle was kosten, noch mal, wenn wir in Freiheit und Frieden leben müssen. Das gibt es nicht als Nullsumme. Das wäre ja nett. Wir sitzen hier im Warmen, im wahrsten Sinne des Wortes. Und zwei Flugstunden, Mitten in Europa, herrscht ein Krieg. Da muss man den Menschen auch ehrlich sagen: Nein, das berührt uns nicht nur emotional, weil wir die Bilder sehen. Das berührt auch unser bis dato sehr bequemes Leben.
Pindur: Ich möchte noch einmal kurz zur Bundeswehr zurückkommen, insbesondere zur Beschaffung. Da fehlt es – wie Sie schon sagten – nicht nur am Geld. Der ehemalige Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels hat einmal gesagt, die Bundeswehr sei ein Bürokratiemonster. Und das Beschaffungsamt in Koblenz ist notorisch bekannt für seine extrem langwierigen Entscheidungsprozesse. Was kann sich denn da ändern? Da wird doch schon seit 20 Jahren dran herumreformiert.
Strack-Zimmermann: Ja, aber das ist genau, was Sie sagen: herumreformiert. Herumfummeln reicht eben nicht. Und Herr Dr. Bartels hat völlig recht. Er hat auch das gute Wort „Verantwortungsdiffusion“ geprägt. Nämlich dahin gehend, dass, was ich gerade sagte, dass die Generäle Aufträge erteilen, ohne Verantwortung übernehmen zu dürfen – muss man sagen. Die wollen, aber sie dürfen nicht. Wie geht es dann weiter? Also, die Beschaffung ist ein Riesen-Problem in Deutschland, weil wir alles ausschreiben. Und Sie müssen sich vorstellen, wir brauchen eine neue Fregatte. Das wird dann genau definiert, bis ins Detail. Das ist aber ganz genau so, wenn die Soldaten und Soldatinnen ein neues Fleece brauchen oder bestimmte Ausrüstungsgegenstände. Und da wirken wir und wollen jetzt darauf einwirken, dass da auch in die Direktvergabe gegangen wird, dass man schaut: Was gibt es auf dem Markt? Und das, was der Markt hergibt, auch kauft. Wir brauchen keine deutsche Eigenkonstruktion. Das wird das erste Thema sein.

Strack-Zimmermann: Auch Soldaten in Ausbildung brauchen gute Ausrüstung

Pindur: Also, die warmen Jacken direkt beim Hersteller kaufen?
Strack-Zimmermann: So ist es. Direkt mit den Herstellern ... übrigens, bei den Schuhen ist das zum ersten Mal, zwar sehr langsam, aber geglückt. Da haben die Soldaten und Soldatinnen Schuhwerk ausprobieren dürfen. Und das sind unter anderem deutsche Hersteller, die dann die Schuhe geliefert haben. Das heißt, auch hören: Was brauchen Soldatinnen und Soldaten? Und zwar nicht nur die im Einsatz sind, sondern das große Problem … die sind zu 90 Prozent, 95 Prozent gut ausgerüstet. Aber das Problem ist, dass die – und das ist ja die Mehrheit – die zu Hause sind in Deutschland, also für Einsätze vorbereitet werden, dass die nicht das Material haben, was sie im Ernstfall brauchen. Und das wäre so: Sie trainieren für einen Marathon, machen das barfuß und am Tag des Marathons kriegen Sie super Schuhe angezogen. Abgesehen, dass Sie sich Blasen laufen würden, trainieren Sie natürlich mit dem Material, das sie haben. Und das kann die Bundeswehr momentan nicht leisten.
Pindur: Funktioniert das, was für Schuhe vielleicht funktioniert, aber auch bei einer Korvette, sagen wir mal oder bei einem Kampfpanzer?
Strack-Zimmermann: Also, wenn es sehr technisch wird, dann brauchen wir natürlich detaillierte Angaben, was wir wollen. Aber auch da gibt es Blaupausen. Auch da können wir uns kurzschließen mit unseren Nachbarn. Ich nehme mal ein Beispiel, ein positives Beispiel, damit nicht alle völlig deprimiert sind, wenn sie uns hier zuhören. Das sind die U-Boote, die die Deutschen bauen für die Deutschen und die Norweger zusammen. Und zum ersten Mal sind jetzt gemeinsam von Norwegen und Deutschland U-Boote angeschafft worden. Die sind identisch, baugleich. Da gibt es keine norwegische Nummer und keine deutsche. Sondern, dass man wirklich gemeinsam in den Einsatz geht. Und das muss eben auch in Zukunft sein. Das muss bei den schweren Transporthubschraubern sein. Das muss bei dem Material sein. Wir müssen gemeinsam beschaffen. Da wird mal der eine oder andere Hersteller zum Zuge kommen. Da wird mal die deutsche Industrie mehr berücksichtigt und mal die niederländische, um jetzt mal ein Beispiel zu nehmen. Aber nur so wird ein Schuh draus.

Atomwaffendrohung: "Wir dürfen nicht überreagieren"

Pindur: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Heute mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP, der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages. Frau Strack-Zimmermann, ich möchte jetzt noch einmal auf die Bedrohungslage zu sprechen kommen. Putin hat ja unverhohlen tatsächlich auch mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht gegen zum Beispiel Länder der NATO, die Waffen liefern an die Ukraine. Wie bewerten Sie diese Nuklear-Drohungen?
Strack-Zimmermann: Also, man muss … das, was ich sagte: Man muss Putin immer sehr, sehr ernst nehmen. Und die Form der Drohung – und das zeigt eben, wie ernst er es meint – müssen wir wahrnehmen, aber dürfen nicht überreagieren, damit nicht wir diejenigen sind, die uns vorwerfen lassen müssen, unsere Gegenreaktion sei so heftig gewesen, dass wiederum Putin sich angegriffen fühlt. Aber wir müssen uns klarmachen, dass Putin mit der heftigen Gegenwehr, auch auf wirtschaftlicher Ebene, der EU offensichtlich nicht gerechnet hat. Und ich räume ein, dass die 27 Länder plus Großbritannien derart gemeinsam aktiv werden und derart harte Sanktionen auf den Weg bringen, hätte ich mir in dieser Deutlichkeit vor 14 Tagen noch nicht vorstellen können. Sodass Putin offensichtlich jetzt in dieser Verbalnote das letzte Register zieht. Möge er es nicht machen. Und ich erhoffe mir, dass das Militär untereinander auch in Kontakt ist. Denn wir wissen alle, dass das das Ende von allem ist. Und das wird auch Russland nicht wollen.
Pindur: Die militärische Lage in der Ukraine zeigt sich jetzt aber, und scheint sich zu zeigen, nicht so günstig für Russland, wie Putin das erwartet haben mag. Glauben Sie, er würde zum Beispiel taktische Nuklearwaffen einsetzen, um die Ukraine in die Knie zu zwingen?
Strack-Zimmermann: Also, ich bitte um Verständnis. Wir sollten jetzt nicht spekulieren. Die Ukraine verteidigt sich unvorstellbar tapfer. Sie wird inzwischen auch von sehr vielen westlichen Staaten mit Waffen unterstützt. Nichtsdestotrotz ist letztlich Putins Armee der Ukraine deutlich überlegen. Also, ich möchte mich an den Spekulationen offen gestanden ungern beteiligen. Da bitte ich auch um Verständnis.

"Einem Wahnsinnigen ist alles zuzutrauen"

Pindur: Es ist mittlerweile aber klar, dass Putin die ganze Ukraine erobern will und dann in das russische Imperium eingliedern will. Das gilt ja offensichtlich auch für Belarus. Was kommt denn danach, wenn das tatsächlich passiert ist? Glauben Sie, dass Putin eine Konfrontation mit NATO-Staaten riskieren würde?
Strack-Zimmermann: Also, einem Wahnsinnigen ist alles zuzutrauen. Deswegen ist die NATO ja auch hellwach und hat ja auch bis zu 15.000 Soldaten und Soldatinnen an der NATO-Grenze, an der Ost-Grenze, an der Ost-Flanke stehen und in Bereitschaft. Auch die Deutschen haben ihren Teil in Litauen und beim Air Policing in Bulgarien und auch, was die Marine betrifft, die ist verlegt worden in die Ostsee, ihren Teil dazu beigetragen. Ob er das wirklich wagt, ich glaube das nicht. Aber es geht natürlich um die Länder der russischen Föderation. Sie sagten gerade Belarus. Das sind alles Länder, die natürlich potenziell gefährdet sind, die nicht NATO-Mitglied sind. Und da wird man genau hinschauen müssen, was da passiert.
Aber ich glaube auch an die Kraft der Russen von innen heraus. Denn wissen Sie, wir sehen ja gerade oder die Bilder, die uns vermittelt werden, dass auch sehr viele russische Soldaten fallen. Und diese Bilder werden vielleicht nicht übertragen nach Russland. Aber die Särge werden nach Hause kommen. Und die Frage wird sein, ob die russische Gesellschaft das trägt. Ich erinnere an den Tschetschenien-Krieg, wo die Mütter der Soldaten auf die Straße gegangen sind. Das hat große Wirkung gezeigt in Russland, weil diese Frauen gesagt haben, es sind unsere Söhne. Es sind unsere Ehemänner, die fallen. Für was – Fragezeichen. Und so hoffe ich auch an die Kraft aus dem Inneren heraus dieses großen russischen Reiches, dass das nicht einfach so hingenommen wird, dass Putin auch mit der NATO sich in einen Krieg begeben möchte.

"Man hat Putin schlichtweg falsch eingeschätzt"

Pindur: Warum waren Ihrer Ansicht nach so viele Politiker – und ich meine jetzt die – in Anführungsstrichen – bürgerlichen Parteien, nicht die Linke oder die AfD, warum waren so viele Politiker so überrascht über Putins Skrupellosigkeit?
Strack-Zimmermann: Ich glaube, weil die Kunst des Miteinandersprechens, die Kunst des Verhandelns, das haben wir ja auch gelernt, das ist auch richtig so - Sie haben Hans-Dietrich Genscher genannt, der diese Diplomatie unglaublich beherrscht hat. Ich glaube, dass man Putin schlichtweg falsch eingeschätzt hat. Und ich hörte ja in den verschiedenen Diskussionen, in denen ich sein durfte, da wurde geträumt noch von Putin, der vor dem Deutschen Bundestag sprach. Das ist 21 Jahre her. Da steht ein Wladimir Putin schlank, rank, hervorragend Deutsch sprechend. Das hat mit dem Putin von heute überhaupt nichts mehr zu tun. Und schon 2008 hat er auf der Münchener Sicherheitskonferenz unter dem betretenen Blick der Kanzlerin, ja ganz klar artikuliert, was das für ihn bedeutet, dieser Rückblick, dass die NATO an sein Reich ran rückt.
Der russische Präsident Wladimir Putin spricht am 25.09.2001 während einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages in Berlin vor gut gefülltem Hause.
Bei seiner Rede 2001 im deutschen Bundestag rückte Wladimir Putin freundschaftliche Beziehungen in den Mittelpunkt (picture-alliance / ZB | Peer Grimm)
Die Nachfolger der Sowjetunion haben das alles mitgetragen. Freie Bündniswahl. Dass die Grenzen nicht tangiert werden dürfen. Die Integrität der Staaten. Also, Putin ist nicht der Putin von 2001. Und ich glaube, dass viele geglaubt haben, wir reisen mal da hin und dann wird schon alles. Zumal wir ja auch enge Vernetzungen wirtschaftlicher Art haben. Und ich glaube, das hat sehr viel verdeckt, was für ein Typ Mensch er ist. Und deswegen sind auch so viele schockiert darüber, dass er so derart zu einem Kriegsverbrecher mutiert ist. Ich glaube, dass schlichtweg das viele nicht erwartet haben, weil wir selber nicht so drauf sind – wenn ich das mal so salopp sagen darf. Und das Erwachen ist gekommen. Wir haben es mit einem Mann zu tun, der offensichtlich ja auch gar nicht mehr ansprechbar ist. Der Kanzler hat es ja versucht, mit ihm darüber zu sprechen, dass die NATO ein Verteidigungspakt ist, dass wir keinen angreifen, dass wir ja sogar den Wunsch der Ukraine und Georgien 2008, Mitglied zu werden bei der NATO, nicht unterstützt haben als Deutsche und Franzosen, um genau diese Luft – ich sage das mal so – zu lassen.
Aber, wie gesagt, es ist … vielleicht, wenn man sich viel mit Verteidigung und Sicherheit beschäftigt, dann hat man die Naivität irgendwann … hat man die abgelegt. Aber ich glaube, alle sind wir jetzt klüger. Und unsere Aufgabe, wirklich jetzt die Bevölkerung auch mitzunehmen, ihnen klarzumachen, nicht, wir rüsten auf und Deutschland wird jetzt militarisiert und all das, was wir gesagt haben, ist vergessen. Sondern wir sollen ankommen in der Realität, im Leben. Ein gesunder Pazifismus ist wichtig und richtig, aber er muss so ausgestattet sein, dass wir eben dieses Land, dieses Bündnis immer verteidigen können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.