Sonntag, 28. April 2024

Kommentar zu Israel
Kümmerliche deutsche Reaktionen auf Demokratie-Abbau

Die Bundesregierung reagiere nur abwiegelnd auf den als „Justizreform“ bemäntelten Demokratie-Abbau in Israel, kommentiert Clemens Verenkotte und fragt: Bräuchten nicht die Millionen Reformgegner in Israel mehr politisch-moralische Unterstützung?

Ein Kommentar von Clemens Verenkotte | 29.07.2023
Zehntausende Israelis protesiteren or der Knesset in Jerusalem und schwenken Fahnen.
"Bräuchten nicht die Millionen Israelis, die ihr Land in die komplett falsche Richtung gehen sehen, ein bisschen mehr politisch-moralische Unterstützung aus Berlin?", fragt Clemens Verenkotte. (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Orit Ben-Ezzer)
Auf der außenpolitischen Reaktions-Skala auf die folgenschwere Entscheidung der israelischen Regierungskoalition im Parlament rangieren die Einwände der Bundesregierung im unteren, handzahmen Bereich. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin griff auf die klassisch abwiegelnde Formulierung der deutschen Nahostpolitik zurück: Die Bundesregierung sei „besorgt“.
Besorgt? Über das, was Millionen von Israelis als Justizcoup der rechts-national-religiösen Netanjahu-Koalition betrachten – als etwas fundamental Falsches, weil es den demokratischen Charakter des Landes massiv beschädigt?
FDP-Justizminister Marco Buschmann erinnerte nach der Knesset-Abstimmung an Gewaltenteilung und an unabhängige Justiz, die die „grundsätzlichen Werte“ liberaler Demokratien seien. Buschmann hatte sich bereits nach seinem Besuch bei seinem israelischen Amtskollegen Jariv Levin, dem Chefarchitekten des Justizabbaus, im Februar dieses Jahres ein klares Bild von der Kompromisslosigkeit der Koalition verschaffen können.

US-Präsident Biden setzt ein klares Zeichen

Aus der zweiten Reihe übten einige Unionspolitiker und Abgeordnete der Ampelkoalition etwas vernehmbarere Kritik: Vom „falschem Weg“ war die Rede, den Israel jetzt eingeschlagen habe; und von „mehr als klaren Worten,“ die nun aus Deutschland kommen sollten. Mehr als klare Worte? Etwa die vorübergehende Einstellung der deutsch-israelischen Regierungskonsultationen, die die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 ins Leben gerufen hatte?
Oder eine Einberufung des israelischen Botschafters ins Auswärtige Amt, um deutlich zu machen, dass Demokratie nicht bedeutet, mit einer schmalen Parlamentsmehrheit grundlegende Kontrollmechanismen der Justiz auszuhebeln? Gibt es überhaupt eine erkennbare Strategie, nicht allein in Berlin, sondern auch in Brüssel oder Washington, welche außenpolitischen Optionen es eigentlich gäbe, falls Israels in Teilen rechtsextreme und ultraorthodoxe Regierung das gespaltene Land ins innenpolitische Chaos führen sollte?
Zumindest US-Präsident Joe Biden hat frühzeitig ein unübersehbares Stopp-Schild aufgestellt: Kein Netanjahu-Besuch im Weißen Haus, solange der Premierminister an dem als „Justizreform“ bemäntelten Abbau der Gewaltenteilung festhält. Auch die Selbsteinladungsversuche Netanjahus perlten an der klaren Haltung Bidens ab. Das ist ein politisches Zeichen des wichtigsten Verbündeten Israels, ohne dabei die milliardenschwere Militärhilfe für das Land anzurühren.

Berlin scheint Entwicklungen in Israel ignorieren zu wollen

Die Bundesregierung ist sicherlich in einer deutlich anderen Position als das Weiße Haus. Doch sich kleinzumachen, als Israels zweitwichtigster Alliierter, ist angesichts der bedrohlich angespannten Lage in Israel kümmerlich. Teile der Bundesregierung und der Parlamentarier im Bundestag scheinen das wahre Ausmaß und die Konsequenzen der willentlichen Abbrucharbeiten der Gewaltenteilung durch Netanjahus Koalition entweder zu negieren, oder gänzlich ignorieren zu wollen.
Entgegen der durchsichtigen Beschwichtigungsversuche des Premierministers und seiner politischen Pyromanen, wonach die Abschaffung des Rechts des Obersten Gerichtshofes, Regierungsentscheidungen zurückzuweisen, die Demokratie stärke: Es gibt keine Verfassung in Israel. Ebenso wenig eine zweite parlamentarische Kammer, wie etwa den US-Senat im amerikanischen Kongress oder den Bundesrat im föderalen System der Bundesrepublik. Seit Montag dieser Woche ist der Oberste Gerichtshof, die einzige Institution, eines erheblichen Teils ihrer Kontrollfunktion beraubt worden, die der rechts-nationalreligiösen Regierung in den Arm fallen könnte.
Erst im September will sich der Oberste Gerichtshof mit den entscheidenden Anträgen von Bürgerrechtsorganisationen und Opposition beschäftigen, ob das Ausschalten der fragilen Gewaltenteilung rechtens war. Der Premier warnte bereits an diesem Wochenende die Obersten Richter, sich dem Willen seiner Regierung zu widersetzen. Bräuchten nicht die Millionen Israelis, die ihr Land in die komplett falsche Richtung gehen sehen, ein bisschen mehr politisch-moralische Unterstützung aus Berlin, als nur festzustellen, dass man „besorgt“ sei?