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Kommentar zu Putins Waffenruhe
Der russische Präsident testet den Westen

Die Ukraine und ihre westlichen Partner seien gut beraten, der von Wladimir Putin angekündigten einseitigen Feuerpause über das orthodoxe Weihnachtsfest nicht zu trauen, kommentiert Gesine Dornblüth. Militärisch nicht, und diplomatisch schon gar nicht.

Ein Kommentar von Gesine Dornblüth | 05.01.2023
Der russische Präsident Wladimir Putin in einem Videotelefonat zur Indienststellung der Fregatte "Admiral Gorschkow", die mit Zirkon-Überschallraketen ausgestattet ist
Der russische Präsident Putin hat eine vorübergehende einseitige Waffenruhe über das orthodoxe Weihnachtsfest am 6. und 7. Januar angekündigt (picture alliance / Russian Look / Kremlin Pool)
Wladimir Putin ist mit der Anordnung einer einseitigen Feuerpause über das orthodoxe Weihnachtsfest ein Coup gelungen. Noch am Morgen hatte Patriarch Kirill, das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, alle Seiten dazu aufgerufen. Der Präsident der Ukraine hat umgehend abgelehnt. Sein Berater sprach von einer – Zitat - „zynischen Falle“, von einem „Element der Propaganda“, von „Heuchelei“. Und damit hat er Recht.
Denn Patriarch Kirill ist ein glühender Anhänger des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Er steht treu an Wladimir Putins Seite, ist einer der wichtigsten Propagandisten der sogenannten „Russischen Welt“, mit der die russische Führung den angeblichen Anspruch Russlands auf die souveräne Ukraine und andere Länder begründet.
Eben in diesem propagandistischen Rahmen bewegt sich Putin, wenn er sagt: Im Kampfgebiet lebten viele orthodoxe Gläubige, die Ukraine solle gleichfalls die Angriffe einstellen und ihnen ermöglichen, Weihnachten in die Kirche zu gehen. Wie zynisch, dies von dem Mann zu hören, der ukrainische Städte gänzlich unchristlich gnadenlos zerbomben lässt. Aber es passt in die verlogene Erzählung, Russland schütze die „russische“ – selbstredend orthodoxe – „Welt“. Dass die ukrainische Justiz gerade gegen orthodoxe Priester der Ukraine vorgeht, die sich bis vor kurzem am Moskauer Patriarchat orientierten, verleiht der Propaganda die nötige Prise Wahrheit.

Putin setzt auf den propagandistischen Mehrwert

Für Russland wäre eine beidseitige Feuerpause in diesem Moment von Vorteil. Die Ukraine hat militärisch gerade die Oberhand, Russland könnte seine Truppen umgruppieren. Eine einseitige Waffenruhe wäre für Russland ein Risiko. Dass Putin dieses Risiko eingeht, hat einen Grund: Putin setzt auf den propagandistischen Mehrwert. Es dürfte bei vielen Friedensfreunden auch in Deutschland nicht gut ankommen, wenn das ukrainische Militär am Weihnachtsfest weiter russische Soldaten tötet – auch wenn sie dazu jedes Recht hat. Denn die Ukraine verteidigt sich gegen eine Besatzungsarmee.
Zugleich kann Putin testen, wie der Westen reagiert, wenn sich Russland vermeintlich friedfertig gibt – aber weiter auf Maximalzielen besteht. Die hat Putin heute im Telefonat mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan erneut bekräftigt: Die Ukraine müsse Gebiete abtreten, so Putin. 
Und Putin wäre nicht Putin, wenn er sich nicht mehrere Hintertürchen offenließe. Die Anweisung für die Waffenruhe ging nur an Verteidigungsminister Schoigu. An der Front kämpfen aber zum Beispiel mit der Gruppe Wagner auch Soldaten, die nicht Schoigus Kommando unterstehen. Und russische Kämpfer haben in der Ukraine schon viele Waffenstillstände gebrochen.
Die Ukraine und ihre westlichen Partner sind gut beraten, dem angekündigten Weihnachtsfrieden nicht zu trauen. Militärisch nicht, und diplomatisch schon gar nicht.
Gesine Dornblüth, ehemalige Deutschlandradio-Korrespondentin in Moskau
Gesine Dornblüth wurde 1969 in Niedersachsen geboren. Sie studierte Slawistik und promovierte über russische Lyrik. In den 90er-Jahren gründete sie mit ihrem Partner das Büro "texte und toene" in Berlin und produzierte fünfzehn Jahre Alltagsreportagen, Langzeitdokumentationen, politische Analysen aus Russland, der Ukraine, dem Südkaukasus und vom Balkan. Von 2012 bis 2017 war sie Korrespondentin von Deutschlandradio in Moskau.