Der Vorstandsvorsitzende des Chemie-Konzerns Evonik, Christian Kullmann, hat vor einem „energiepolitischen Desaster“ gewarnt und Forderungen nach einem subventionierten Industriestrompreis bekräftig: „Wir zahlen in Deutschland die weltweit höchsten Preise für Strom und für Energie, und jede Industrie, jede Volkswirtschaft lebt und hängt gerade an einer vernünftigen, heißt also kostengünstigen, heißt also verfügbaren Energieversorgung“, sagte Kullmann im Deutschlandfunk.
Die von der Bundesregierung avisierten sechs Cent pro Kilowattstunde seien als Angebot zu wenig: „Dabei wird vergessen, dass diese sechs Eurocent ja eine Nettobetrachtung sind, denn die Steuern, die Abgaben, die kommen ja noch dazu. Das heißt also, wir reden hier nicht von sechs Eurocent, sondern wir reden von 20 Eurocent.“
Kullmann erinnerte in der aktuellen Debatte daran, dass es eine andere Vereinbarung gegeben habe: „Die sechs Eurocent sind nicht das, was wir mit der Bundesregierung besprochen hatten, die Vorstellung eines Industriestrompreises von Herrn Bundeskanzler Scholz lag dermal einst bei vier Eurocent.“
„Standort Deutschland steht unter Druck“
Kullmann warnte vor einem Wirtschaftseinbruch: „Insgesamt sehen wir für 2023 eine eher düstere, eine eher schwache wirtschaftliche Entwicklung“, sagte er: „Für mich ist das auch der Einstieg in eine große transformatorische Veränderung der Weltwirtschaft insgesamt.“
Massengüter, ganz gleich in welcher Industrie, würden künftig nicht mehr in Deutschland hergestellt: „Von diesen Industrien werden wir uns hier auf Sicht – und das wird gar nicht mehr allzu lange dauern – wohl verabschieden“, so Kullmann, „der Standort Deutschland steht unter Druck.“ In diesem Zuge müsse man aus dem „ministerialbürokratischen Dickicht an Genehmigungsauflagen und Bewilligungsvorschriften“ ausbrechen, es brauche „den Mut einer klaren politischen Richtungsentscheidung“.
Die sinkende Arbeitslosen-Quote hierzulande – trotz Rezession – sei trügerisch: „Die Jobs, die in Deutschland entstehen, sind sehr schlecht bezahlte in der Gastronomie, sind sehr schlechte bezahlte in Servicefunktionen. Das sind Jobs, die beispielsweise keinen Beitrag leisten, weil dort nur wenig Steuern und Abgaben erhoben werden können aufgrund der niedrigen Einkommen, die unseren Sozialstaat, die unser Gemeinwesen finanzieren“, sagte Kullmann.
„Die guten, die attraktiven Jobs, die diese Gesellschaft, diesen Sozialstaat tragen, die gibt es in der Industrie und die sind gefährdet.“ Er warnte vor diesem Hintergrund vor sozialen Verwerfungen: „Wenn ich auf die jüngsten Umfragen gucke, dann sehe ich, dass die AfD bundesweit mittlerweile bei annähernd 20 Prozent liegt“, so Kullmann, „und das ist nicht abstrakt, sondern das betrachte ich als eine sehr konkrete Bedrohung unserer liberalen, unserer toleranten Demokratie hier in unserem Land.“
Abschaffung der Rente mit 63: „bedenkenswerter Vorstoß“
Auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels sprach sich Kullmann für ein reformiertes Einwanderungsgesetz aus und begrüßte die Vorschläge der CDU, über die Abschaffung der Rente mit 63 Jahren zu diskutieren.
Dies sei ein „bedenkenswerter Vorstoß“, sagte Kullmann: „Unser Rentensystem werden wir in der Perspektive nur dann sichern können, wenn wir a) mehr arbeiten, wenn wir b) länger arbeiten, wenn wir c) auch die Rentenhöhen jeweils anpassen.“ Solche Diskussionen werde man in Zukunft führen müssen: „Der, der diese Diskussionen führt, darf nicht auf Applaus hoffen, aber auf Einsicht in die Notwendigkeit, dass wir hier mehr machen müssen, als wir es gegenwärtig tun, denn gegenwärtig tun wir quasi nichts.“
Das Interview im Wortlaut:
Küpper: Herr Kullmann, in dieser Woche hatten Sie Hauptversammlung. Ihr Konzern zahlt eine Dividende, aber seit Anfang des Jahres gibt es auch in der Chemieindustrie eine Kaufzurückhaltung der Kunden. Auch das Statistische Bundesamt hat gesamtwirtschaftlich seine Zahlen korrigieren müssen. Damit ist amtlich, dass Deutschland nach zwei Quartalen hintereinander in eine technische Rezession rutscht, gestürzt ist. Ist es das, eine technische Rezession, oder ist es mehr?
Kullmann: Es ist mehr. Wir sind seit dem Spätsommer des vergangenen Jahres auf dem Weg in eine Wirtschaftskrise, Amerika steht kurz vor einer Krise, in Europa ist sie da. Und die Hoffnungen, die wir gesetzt hatten auf die Wachstumslokomotive China, diese Hoffnungen erfüllen sich nicht, dort ist die Erholung sehr zäh, sehr langsam. Und insgesamt sehen wir für 2023 eine eher düstere, eine eher schwache wirtschaftliche Entwicklung. Für mich ist das auch der Einstieg in eine große transformatorische Veränderung der Weltwirtschaft insgesamt.
Küpper: Über diese transformatorische Veränderung würde ich gerne mit Ihnen sprechen. Aber ganz kurz noch, worin sehen Sie die Gründe? Ist das „nur“ die Corona-Pandemie und Russlands Angriffskrieg in der Ukraine?
Kullmann: Wir haben gerade während der Corona-Pandemie von einem pandemischen Protektionismus profitiert. Und das bedeutet, die Lieferketten waren so gestört, dass wir in Europa unter uns geblieben sind. Das hat der Volkswirtschaft in Deutschland aber, in Europa insgesamt, gutgetan. Das ist vorbei. Die Lieferketten funktionieren wieder, der asiatische Wettbewerb kommt mit Produkten zu sehr günstigen Preisen zurück – das setzt uns gerade gegenwärtig sehr zu.
Das ist also nicht nur die Pandemie, die die Krise ausgelöst hat. Kommt hinzu, dass im vergangenen Jahr viele unserer Kunden sehr viele Vorprodukte auf Lager gekauft haben, und mit der jetzt deutlich schwächeren wirtschaftlichen Entwicklung wird eben jetzt erst einmal vom Lager abgekauft. Wenn Sie so wollen, sind die Wertschöpfungsketten an dieser Stelle verstopft.
Küpper: Was heißt das für die Perspektive? Kurzfristig für das Jahr 2023 haben Sie es schon gesagt gerade: „düsterer Ausblick“. Gibt es dahinter irgendwo Licht?
Kullmann: Das Licht liegt in der Veränderung. Wir befinden uns in einer Situation, die ich so charakterisieren möchte, dass wir beobachten können, wie der Multilateralismus, der sich ja in eine weltwirtschaftliche Vernetzung hin hineingetragen hat, der löst sich auf. Protektionistische Maßnahmen, tarifäre, nichttarifäre Handelshemmnisse gehören mittlerweile zum Handwerkszeug von Außenpolitik, da gibt es keine großen Unterschiede zwischen dem, was die EU macht, was die Amerikaner machen, was wir in Asien beobachten, bei den Chinesen. Das wird die Welt verändern.
Und das bedeutet für Deutschland ganz konkret, dass wir Massengüter, ganz gleich in welcher Industrie, hier in der Perspektive nicht mehr herstellen werden. Die können in Asien, die können im Nahen und Mittleren Osten deutlich kostengünstiger produziert werden. Von diesen Industrien werden wir uns hier auf Sicht – und das wird gar nicht mehr allzu lange dauern – wohl verabschieden. Und das Licht besteht darin, dass in den Industrien, wo wir technologisch Weltspitze sind, wo wir durch Innovation neue Märkte erschließen können, dass wir hier fantastische Chancen haben, gerade auch in Deutschland.
Chemische Industrie steht "brutal unter Druck"
Küpper: Aber wir werden verlieren erstmal: gesamtwirtschaftlich, gesamtgesellschaftlich, vielleicht auch an Wohlstand?
Kullmann: Ja. Das ist so. Und gegenwärtig werden unglaublich viele Zahlen in den Zeitungen und im Hörfunk und im Fernsehen präsentiert, was was bedeutet – das ist mir alles viel zu abstrakt, und deshalb möchte ich es in einem Beispiel ganz konkret sagen. Der Bundeskanzler hat erklärt, dass wir 100 Milliarden Euro investieren wollen für die Aufrüstung der Bundeswehr.
Diese 100 Milliarden werden letztlich finanziert durch die Steuerzahlungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Unternehmen der chemischen Industrie. Sie sehen, die chemische Industrie zahlt knapp 100 Milliarden Euro Steuern pro Jahr mit ihren Mitarbeitern, das ist das gesamte Investitionsvolumen für die Aufrüstung der maladen Bundeswehr, aus einer schlecht ausgerüsteten Truppe eine wehrfähige zu machen. Und wenn wir jetzt auf die Zukunft der chemischen Industrie in Deutschland gucken, dann steht die brutal unter Druck.
Das heißt also, hier ist nicht nur Wohlstand, hier ist nicht nur Wachstum für Deutschland gefährdet, sondern hier ist auch der Sozialstaat, unser Gemeinwesen gefährdet, weil durch wirtschaftliche Verluste wir eben auch erhebliche Einbußen bei den Steuereinnahmen verzeichnen werden, die für die Finanzierung des Sozialstaates, die für die Finanzierung unseres Gemeinwesens so wichtig sind.
Küpper: Aber wenn Sie das so skizzieren, fürchten Sie dann – das klingt so abstrakt – gesellschaftliche Verwerfungen?
"Bedrohung unserer liberalen, toleranten Demokratie"
Kullmann: Nun, also wenn ich auf die jüngsten Umfragen gucke, dann sehe ich, dass die AfD bundesweit mittlerweile bei annähernd 20 Prozent liegt. Und das ist nicht abstrakt, sondern das betrachte ich als eine sehr konkrete Bedrohung unserer liberalen, unserer toleranten Demokratie hier in unserem Land.
Küpper: Das heißt, kann es sein, dass Deutschland … Sie haben es gerade eben wirtschaftlich skizziert, jetzt skizzieren wir hier einen gesellschaftlichen Trend, aber das alles spielt ja hinein in eine Art Standortdebatte?
Kullmann: Der Standort Deutschland steht unter Druck. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten eine Energiepolitik in Deutschland gemacht – nicht „wir“, entschuldigen Sie bitte, die Bundesregierungen –, die den Interessen der deutschen Volkswirtschaft und die den Interessen des Nationalstaates nicht genügt hat.
Küpper: Aber die Bundesregierungen wurden ja jeweils – das müssen wir auch sagen – gewählt von den Bürgerinnen und Bürgern?
Kullmann: Ich stelle ja die Entscheidung als solche nicht infrage, sondern ich beschreibe die Konsequenzen und Auswirkungen, und die sind verheerend. Um das mit einem konkreten Beispiel zu illustrieren: Wir zahlen in Deutschland die weltweit höchsten Preise für Strom und für Energie, und jede Industrie, jede Volkswirtschaft lebt und hängt gerade an einer vernünftigen, heißt also kostengünstigen, heißt also verfügbaren Energieversorgung. Und wenn wir die riskieren – und die steht im Risiko –, dann drohen Folgen, und zwar nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche.
"Eine gute Leistung der Bundesregierung" im vergangenen Winter
Küpper: Diese historische Fehlentscheidung ist passiert, die Ampel-Regierung in Berlin, konkret Robert Habeck, sein Ministerium musste damit umgehen im vergangenen Winter. Es gibt dafür allgemein Lob, dass man es geschafft hat, durch den Winter zu kommen ohne – ja – kalte Wohnungen, ohne stillgelegte Werke. Schließen Sie sich diesem Lob an?
Kullmann: Ja. Dass das gelungen ist, war eine gute Leistung der Bundesregierung insgesamt. Hier wurde gehandelt, hier wurde nicht räsoniert, hier wurde nicht deklamiert, hier wurde nicht palavert, hier wurde gehandelt. Das haben wir in dieser Form in Deutschland schon lange nicht mehr gesehen. Das verdient Respekt und Anerkennung – keine Frage –, die Probleme löst es nicht.
Küpper: Konkret, kurzfristig, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an den nächsten Winter denken?
Kullmann: Wir werden den nächsten Winter genügend Energie zur Verfügung stehen haben – doch das ist nicht mein zentraler Punkt. Das ist so ein bisschen wie in der ehemaligen DDR: Hauptsache wir haben genügend von diesem oder von jenem Produkt. Wir leben in einer Gesellschaft, die im weltweiten Wettbewerb steht, und da kommt es nicht nur darauf an, dass wir über genügend Energieressourcen verfügen, sondern auch zu welchem Preis. Und da fallen wir im internationalen Wettbewerb leider immer weiter zurück.
"Energiepolitisches Desaster" statt "Energiewende"
Küpper: Verlieren wir das aus dem Auge im Zuge dessen, dass wir uns eben kurzfristig mit diesen Problemen beschäftigen mussten, dass wir auch – Sie haben es ja beschrieben, und das meinten Sie, glaube ich, auch ein Stück weit mit „transformatorisch“ –, dass wir natürlich auch vor einer – ja – Energiewende stehen, in der sich ja auch gerade die Bundesregierung selbst innerkoalitionär verkämpft?
Kullmann: Wir stehen weniger vor einer Energiewende, als dass wir vor dem Risiko stehen, dass wir in ein energiepolitisches Desaster hineinlaufen. Sehen Sie bitte, in der Bundesregierung wird jetzt die Frage diskutiert, ob wir einen Industriestrompreis von 6 Eurocent für die energieintensiven deutschen Industrien brauchen. Dabei wird vergessen, dass diese 6 Eurocent ja eine Nettobetrachtung sind, denn die Steuern, die Abgaben, die kommen ja noch dazu. Das heißt also, wir reden hier nicht von 6 Eurocent, sondern wir reden von 20 Eurocent.
Küpper: Aber nochmal, bei diesen 6 Eurocent, bei dieser Industriestrompreisbremse bleibend, braucht es die aus Ihrer Sicht?
Kullmann: Das ist zu wenig.
Küpper: Es braucht noch mehr?
Kullmann: Ja, natürlich braucht es mehr. Denn, bitte sehen Sie doch, die 6 Eurocent sind nicht das, was wir mit der Bundesregierung besprochen hatten, die Vorstellung eines Industriestrompreises von Herrn Bundeskanzler Scholz lag dermal einst bei 4 Eurocent. Das ist eine gute Gelegenheit, ihn heute in Ihrer Sendung nochmal daran zu erinnern. Das macht schon einen Riesenunterschied.
Zum Zweiten, bitte sehen Sie, diese 4 oder 6 Cent, dazu kommen ja dann noch die Abgaben, die Gebühren, die Stromsteuer. Und solange die dabeibleiben, sind diese 4 Cent oder 6 Cent ja gar nicht der Preis, den wir zahlen, sondern wir zahlen ja dann tatsächlich 20 Cent. Und das ist im Vergleich zum Beispiel mit Investitionen, die wir in Houston/Texas in den USA tätigen würden, das Zehnfache, denn dort bekommen wir von der Landesregierung angebotenen Strom für zwei Cent. Und wenn wir weltweit wettbewerbsfähig bleiben wollen, dann ist das ein Riesenloch, das ausgefüllt werden muss.
Konsequenzen des Ausstiegs aus der Kernenergie
Küpper: Jetzt sind Sie ein globales Unternehmen, aber Sie haben Ihren Hauptsitz in Deutschland, und wir sprechen die ganze Zeit über den Standort Deutschland, jetzt konkret über die Energie, über den Strom. Es gibt aus dem politischen Lager, Michael Kretschmer aus Sachsen beispielsweise, der kürzlich den Industriestrompreis komplett infrage gestellt hat, er hat gesagt, das ist falsch. Es gibt auch auf Expertenebene welche, die sagen das ist falsch. Was machen Sie, wenn das nicht kommt?
Kullmann: Na ja, lieber Herr Dr. Küpper, diese sogenannten Experten, die haben das Weiße im Auge eines Kunden noch nicht gesehen, das sind ja in der Regel doch Beamte an deutschen Universitäten, die meinen, uns die Welt und den Wettbewerb und die Märkte besser erklären zu können als wir, die wir Verantwortung tragen für viele Hunderttausend Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Bitte verstehen Sie, dass ich mir das gerne anhöre, dass ich da auch gerne zuhöre, aber dass ich das wirklich nicht so ganz teilen kann. Das ist das eine. Das andere ist – wenn wir in der akademischen Welt der Universität bleiben –, bei der Volkswirtschaft lernt man im ersten Semester Makro eins, dass je mehr Angebot da ist für ein Produkt, desto günstiger wird der Preis sein.
Und wenn wir hier aus der weiteren Nutzung der Kernenergie aussteigen und damit das Klima zusätzlich enorm belasten, wenn wir hier damit auch das Angebot für Industrie, genauso aber auch für die Menschen, die hier leben, was den Energie-, was den Strompreis anbelangt, deutlich verknappen und damit den Preis nach oben treiben, dann dürfen wir uns über die Konsequenzen nicht wundern – und die bekommen wir in den nächsten Jahren deutlich zu spüren.
Küpper: Sind diese Konsequenzen nicht allen im politischen und - Sie sagen auch - im akademischen Lager bewusst?
Kullmann: Das sollte jedenfalls so sein.
Küpper: Ist es aber so oder ist es das nicht? Ich habe den Eindruck, dass Sie denken, dass es dort noch nicht angekommen ist?
Kullmann: Es ist bestimmt angekommen, nur die Frage, die ich mir dabei stelle, ist, wie geht Politik damit um? Und wenn Herr Trittin die Grünen auf einem Parteitag in Geiselhaft nimmt, indem er erklärt, sein Lebenswerk sei in Gefahr und deshalb müsse man jetzt aus der weiteren Nutzung der Kernenergie aussteigen, dann ist das eine politische Haltung, die ich nachvollziehen kann, die Auswirkungen für unsere Volkswirtschaft, die Auswirkungen für die Gesellschaft in Deutschland, die sind aus meiner Sicht allerdings fatal. Da ist der Unterschied zwischen Politik und Wirtschaft.
"Jobs, die in Deutschland entstehen, sind schlecht bezahlte"
Küpper: Herr Kullmann, wir haben über den Standort gesprochen, über – ja – eher düstere Perspektiven. Was auffällt ist, dass trotz einer – ja – wirtschaftlichen Rezession sich der Arbeitsmarkt nicht in der Krise befindet, die Arbeitslosenquote steigt nicht. Es gibt schon seit längerem aus der Politik besorgte Stimmen, dass die Arbeitslosenquote als Indikator, als Druckmittel wegfällt. Das Ganze ist natürlich auch geschuldet einem gewissen Fachkräftemangel. Aber dennoch, in der Vergangenheit, in den letzten Jahrzehnten – Sie sind Wirtschaftshistoriker – war es ja schon auch immer so, dass eine hohe Arbeitslosenquote zu politischen Reformen geführt hat.
Kullmann: Die Betrachtung halte ich für eine naive. Die Jobs, die in Deutschland entstehen, sind sehr schlecht bezahlte in der Gastronomie, sind sehr schlecht bezahlte in Servicefunktionen. Das sind Jobs, die beispielsweise keinen Beitrag leisten, weil dort nur wenig Steuern und Abgaben erhoben werden können aufgrund der niedrigen Einkommen, die unseren Sozialstaat, die unser Gemeinwesen finanzieren.
Die guten, die attraktiven Jobs, die diese Gesellschaft, diesen Sozialstaat tragen, die gibt es in der Industrie und die sind gefährdet. Die Hälfte, lieber Dr. Küpper, die Hälfte aller Rentenzahlungen in Deutschland – etwa 50 Milliarden Euro – werden alleine geleistet durch die Steuern und Abgaben, die die chemische Industrie und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier zahlen.
Und diese Jobs sind aufgrund der Wirtschaftskrise, sind aufgrund politisch ausstehender Entscheidungen, sind aufgrund des politischen Mehrheitsklimas in Berlin gefährdet. Kommt hinzu, in der Perspektive fehlen uns Facharbeiter. Deshalb ist es dringend wichtig, dass wir ein Einwanderungsgesetz benötigen, was genau darauf Rücksicht nimmt. Dass wir hier gezielt Einwanderung in Deutschland ermöglichen, nicht in unsere Sozialsysteme, sondern in unsere Unternehmen hinein.
Geflüchtete müssen arbeiten können
Und wir müssen uns hier sehr klar mit der Politik darauf verstehen und verständigen, dass wir gezielte Zuwanderung brauchen, dass wir Fachkräfte brauchen, die wir hier auch in unseren Unternehmen einsetzen können, damit wir weiter unternehmerisch, wirtschaftlich erfolgreich sind, wachsen können, um den Wohlstand in diesem Land zu sichern. Das alles ist dringend zu erledigen – da passiert viel zu wenig.
Küpper: Woran liegt das?
Kullmann: Ich denke, dass die Bundesregierung, dass diese Koalition in sich bei diesen Fragen so uneins ist, dass sie sich gegenseitig paralysiert, gegenseitig lähmt und einschränkt. Und deshalb werden diese Entscheidungen auf die lange Bank geschoben. Sehen Sie bitte, die vielen Flüchtlinge, die aus Syrien, die aus Afghanistan zu uns gekommen sind, von denen dürfen seit über zehn Jahren 50 Prozent in Deutschland nicht arbeiten.
Ja, Herr du meines Lebens, das Entgegengesetzte ist richtig! Wer zu uns kommt, wer flüchtet, aus Angst vor Krieg und Terror zu kommt, der ist hier sehr willkommen, aber ihm dann auch die Möglichkeit zu geben, hier zu arbeiten, hier Geld zu verdienen, einen Beitrag zu leisten, dass es diesem Land auch in Zukunft gut geht, das halte ich für selbstverständlich. Und es ist für mich völlig unerklärlich, warum das politisch nicht ermöglicht wird.
Küpper: Die CDU, die Union, gibt sich ja jetzt ein neues Programm und hat im Zuge dessen – weil wir gerade über den Fachkräftemangel sprechen – auch einen Vorstoß gemacht, die Rente mit 63 abzuschaffen, um dort eben Abhilfe zu schaffen, sozusagen vom anderen Ende her. Ein guter Vorstoß?
Kullmann: Ein bedenkenswerter Vorstoß. Klar ist, unser Rentensystem werden wir in der Perspektive nur dann sichern können, wenn wir a) mehr arbeiten, wenn wir b) länger arbeiten, wenn wir c) auch die Rentenhöhen jeweils anpassen. Das sind ganz heiße Eisen und deshalb denke ich, dass wir diese drei Punkte zusammen denken müssen.
Und wir müssen bitte auch an dieser Stelle damit aufhören, der Bevölkerung weismachen zu wollen, dass die Rente, wenn wir nur so weiter machen, sicher bleiben wird. Das wird dann nicht geschehen. Deshalb ist der Vorstoß der CDU in diesem Zusammenhang sehr überlegenswert.
Küpper: Würde das bei Ihnen im Unternehmen – Sie haben Tausende von Mitarbeitern –, jetzt können Sie das so nicht regeln, aber wenn Sie da so einen Vorstoß machen würden, würde das auf Applaus treffen?
Kullmann: Ich bin ein großer Anhänger der sozialen Marktwirtschaft und die soziale Marktwirtschaft bildet sich in unseren Unternehmen ab durch die Sozialpartnerschaft. Das heißt, gemeinsam mit der Gewerkschaft, gemeinsam mit den Betriebsräten treffen wir solche Entscheidungen. Uns allen ist klar, dass wir hier zu Veränderungen kommen müssen – das liegt auf der Hand. Und hierüber in der Perspektive Gespräche zu führen ist sinnvoll.
Würde ich dafür Applaus bekommen – ich glaube nicht. Würde ich dafür Einsicht finden, dass wir darüber reden müssen, um vernünftige gute Lösungen zu finden – das denke ich schon. Also bitte jetzt nicht diese Diskussion auf die Frage reduzieren: „Rente mit 63 – ja oder nein“ – es gehört mehr dazu. Solche Diskussionen werden wir in Zukunft führen müssen. Der, der diese Diskussionen führt, darf nicht auf Applaus hoffen, aber auf Einsicht in die Notwendigkeit, dass wir hier mehr machen müssen, als wir es gegenwärtig tun, denn gegenwärtig tun wir quasi nichts.
Küpper: Herr Kullmann, wir haben eingangs schon über die globale Lage, über den Standort Deutschland gesprochen. Machen wir es mal ein wenig konkret in dieser globalen Situation. In den USA gibt es den Inflation Reduction Act, das sind mehr als 300 Milliarden, die da perspektivisch investiert werden in die Industrie. Ist Deutschland, ist Europa da wettbewerbsfähig?
Kullmann: Gegenwärtig nicht.
Küpper: Sehen Sie Mühen, sehen Sie Schritte, dass sich das kurzfristig ändern könnte?
Kullmann: Wir haben in Deutschland und in Europa ein anderes Verständnis als es die Amerikaner haben. Die Amerikaner sind in diesen Dingen sehr pragmatisch. Sie haben erkannt, dass sie eine starke Industrie brauchen und deshalb treten sie an, um die Top-Technologien überall auf der Welt in ihr Land zu locken, damit dort mit Zukunftsindustrien Perspektiven eröffnet werden.
Dabei geben sie den Unternehmen sehr viele Möglichkeiten, sehr viel Freiheit und unterstützen das mit hochattraktiven Subventionsprogrammen. Wir in Deutschland, wir in Europa sind mehr auf dem Weg, dass die Ministerialadministration der Wirtschaft erklären will, wie sie und wo sie zu investieren hat und sich dann um entsprechende Unterstützung bewerben darf.
Es gibt also hier ein ganz anderes Verständnis. Das eine ist mehr planwirtschaftlich orientiert, wohingegen das andere sehr unternehmensnah, sehr marktwirtschaftlich, sehr wettbewerbsorientiert ausgerichtet ist. Und wir von Evonik profitieren gegenwärtig sehr von den amerikanischen Angeboten.
Küpper: Gibt es dennoch – weil Sie es so formulieren – irgendwelche Hoffnungen für Europa in diesem Wettbewerb?
Kullmann: Aber ja.
Küpper: Warum?
Kullmann: Weil das Geld da ist und weil die Chance besteht, aus diesem ministerialbürokratischen Dickicht an Genehmigungsauflagen und Bewilligungsvorschriften einfach auszubrechen. Was braucht es dazu? Den Mut einer klaren politischen Richtungsentscheidung. Das ist Hoffnung.
Küpper: Aber wo sehen Sie das? An welcher Person machen Sie das fest? Wenn wir über Europa sprechen, über die Europäische Union sprechen, dann sprechen wir eher über – ja – gegenseitige Blockade, Einstimmigkeitsprinzip, auch – ich will das jetzt dann doch sagen – über Bürokratie, über viel Bürokratie?
Kullmann: Ja, über zu viel Bürokratie. Und weil das ja nun …
Küpper: Aber seit Jahrzehnten sprechen wir darüber. Was macht Ihnen jetzt Hoffnung?
Kullmann: Dass wir seit Jahrzehnten darüber sprechen und mittlerweile alle verstanden haben, dass es so nicht bleiben kann und gerade deshalb wir die Chance haben, etwas zu verändern. Oder lassen Sie es mich härter formulieren: Wir sehen ja, dass die Amerikaner mit ihrem Modell weltweit wahnsinnig viel Erfolg haben, und wenn wir dieses Modell für uns kopieren wollen, müssen wir uns verändern. Und das wiederum macht mir Hoffnung – ich bin da nicht so faustisch.
Küpper: Aber am Ende muss es ja jemand machen. Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, stellen Sie der Bundesregierung, der aktuellen Ampel-Koalition auch kein gutes Zeugnis aus – wie im Übrigen die Mehrheit der Deutschen ja auch, Sie haben den Deutschlandtrend angesprochen.
Kullmann: Wir haben keine Präsidialdemokratie, und deshalb haben wir mit vielen guten Vorteilen eine Koalitionsregierung, und das kann man nicht an einer Person festmachen. Der Bundeskanzler hat die Richtlinienkompetenz, aber die Koalition insgesamt muss handeln. Und in der Koalition selbst erkenne ich doch, dass viele erkannt haben, dass es so nicht bleiben kann wie es ist, wenn wir unsere Zukunft nicht verspielen wollen.
Deshalb bin ich – und da können Sie mich gerne noch häufiger fragen, lieber Herr Dr. Küpper – jetzt nicht völlig verzweifelt und faustisch. Ich sehe durchaus, dass es Bewegung gibt. Die reicht nicht aus und deshalb habe ich Hoffnung, dass es mehr wird.
Der BVB als Jäger der Bayern
Küpper: Herr Kullmann, zum Abschluss, sie – also klein geschrieben –, Ihr Konzern ist auch Großaktionär von Borussia Dortmund. Der BVB hat ja – ich kann Ihnen das nicht ersparen – sehr knapp die Meisterschaft verpasst. War das – mit etwas Abstand – eine historische Chance, die da verpasst wurde?
Kullmann: Aber nein. Wir haben eine junge Mannschaft und nach der Hinrunde hat niemand auch nur einen Pfifferling darauf gewettet, dass wir die Bayern nochmal richtig fordern und ihnen alles abverlangen könnten. Das ist mit einer grandiosen Rückrunde gelungen. Im letzten Spiel hat diese junge Mannschaft die Nerven nicht unter Kontrolle gehabt, deshalb haben wir diese Chance leider verloren.
Und lieber Dr. Küpper, in der Jägerposition für die kommende Saison sind wir sehr gut aufgestellt und dann werden wir wieder angreifen und dann werden wir besser sein und dann werden wir wieder unsere Chance suchen. Weil, wir sehen ja, Bayern München ist gegenwärtig in einer wirklich maladen Situation, und da wittern wir für die neue Saison neue Chancen.