Donnerstag, 25. April 2024

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Ehemaliger Botschafter in Moskau
Von Fritsch: Wir dürfen nicht in Putins Angstfalle laufen

Die Ukraine müsse weiterhin so unterstützt werden, dass sie ihre Interessen bei einem möglichen Frieden gegenüber Russland durchsetzen könne, sagt Rüdiger von Fritsch im Dlf. Gleichzeitig, so der ehemalige deutsche Botschafter in Moskau, sei schon jetzt der Blick auf die Gestaltung einer künftigen Ordnung notwendig.

Rüdiger von Fritsch im Gespräch mit Stephan Detjen | 03.07.2022
Porträt von Rüdiger von Fritsch, der eine Handbewegung macht, um etwas zu betonen.
Putin kämpfe in der Ukraine inzwischen auch um seine eigene Macht zu Hause, sagt der ehemalige Diplomat Rüdiger von Fritsch (picture alliance / Mikhail Japaridze / tass / dpa)
Im russischen Krieg gegen die Ukraine sollten sich die westlichen Verbündeten schon jetzt um eine Nachkriegsordnung in Europa bemühen, fordert Rüdiger von Fritsch, ehemaliger deutscher Botschafter in Moskau. Er rät im Deutschlandfunk zu einem doppelten Ansatz mit einer „dauerhaft entschlossene Reaktion des Westens auf Wladimir Putins Aggression, verbunden mit dem Blick auf die Gestaltung einer künftigen Ordnung.“
Damit die Konfrontation nicht in eine unkontrollierte Eskalation münde, brauche man eines Tages Verabredungen über Sicherheit und Rüstungskontrolle, so von Fritsch: „Dazu müssen wir in der Lage sein, mit jenem Russland zu reden, mit dem wir es zu tun haben.“ Man könne sich dessen Führung nicht wegwünschen, und wenn man Verabredungen treffen wollen, müsse man für Gespräche mit ihr bereit sein. Putin habe außerdem klargemacht, dass Russland beispielsweise weiter interessiert an Rüstungskontrollverhandlungen bleibe. Ein Ende des Krieges durch einen Friedensschluss müsse aber allein von der Ukraine bestimmt werden, sagte von Fritsch.

"Putin hat sich grandios verrechnet"

Die westliche Geschlossenheit der G7, der EU und der NATO zeige erneut, dass sich Wladimir Putin grandios verrechnet habe, glaubt der ehemalige Diplomat. Putin habe vor Beginn des Krieges deutlich gemacht, nicht nur die Ukraine unterjochen zu wollen, sondern weitreichende geopolitische Forderungen erhoben. Dazu habe gehört, dass die NATO sich nicht erweitern und sich die USA aus Europa zurückziehen solle. „Im Ergebnis seines Krieges tritt nun genau das Gegenteil ein“, so von Fritsch.
Wladimir Putin kämpfe in der Ukraine um drei Ziele: Er wolle nicht nur das Land unterjochen und die Friedensordnung zu Lasten des Westens ändern, so von Fritsch. Weil der Krieg für ihn so schlecht gelaufen sei, kämpfe Putin in der Ukraine inzwischen auch um seine eigene Macht zu Hause.
Von Fritsch wies außerdem auf die Kommunikationsstrategien der russischen Führung hin. Es müsse unterschieden werden zwischen dem, was offiziell von politisch Verantwortlichen gesagt werde und dem, was in „rhetorischen Angriffswellen“ verbreitet werde, um Angst zu erzeugen. In diese Angstfalle dürfe man nicht laufen, warnt von Fritsch.

Das Interview im Wortlaut:

Stephan Detjen:  Herr von Fritsch, Bundeskanzler Olaf Scholz hatte in dieser Woche gesagt, dass die Demonstrationen westlicher Geschlossenheit, die wir bei der Reihe der Gipfel in Brüssel, Elmau und Madrid erlebt haben, Putin ‚Kopfschmerzen‘ bereiteten. Glauben Sie, dass Putin tatsächlich gerade im Kreml sitzt und Aspirin oder russische Tabletten zu sich nimmt, weil die EU, die G7, die NATO ihn so beeindruckt haben?
Rüdiger von Fritsch:  Die westliche Geschlossenheit, die Entscheidung des Westens dieser Woche müssen Wladimir Putin in der Tat sehr großen Eindruck machen, weil sie im Gegensatz zu dem stehen, was sein eigenes Kalkül war. Und wir sehen einmal mehr, dass er sich grandios verrechnet hat, dass er ein falsches Bild der Wirklichkeit gehabt hat, und dazu gehört auch ein falsches Bild unserer Geschlossenheit und unserer Bereitschaft zu reagieren auf die Konfrontation, die er aufgebaut hat.
Er hatte ja vor Beginn dieses schrecklichen Angriffskrieges deutlich gemacht, dass es ihm nicht nur darum geht, die Ukraine zu unterjochen, sondern weiterreichende geopolitische Forderungen erhoben, quasi ultimativ dem Westen auf den Tisch gelegt. Und dazu gehörte, dass die NATO sich quasi selbst entblößen sollte, dass die NATO sich auf keinen Fall erweitern sollte, dass die Amerikaner sich zurückziehen aus Europa und aufgrund seines Krieges. Im Ergebnis seines Krieges tritt nun genau das Gegenteil ein.

"Putin kämpft inzwischen auch um seine eigene Macht zu Hause"

Detjen:  Es gibt doch bisher überhaupt keine Anzeichen dafür, dass sich Putin durch Sanktionen, durch die EU, durch die NATO-Erweiterung, militärische Stärke zu irgendeinem Einhalt bewegen ließe. Die Angriffe auf die Ukraine werden immer brutaler, kurz vor unserem Gespräch jetzt die Nachrichten aus Odessa. Die Rhetorik gegenüber der NATO wird immer schärfer. Die westlichen Reaktionen und Sanktionen zeigen bisher faktisch eigentlich kaum eine Wirkung.
von Fritsch:  Wir dürfen nicht erwarten, dass Wladimir Putin sich öffentlich hinstellt und sagt, ‚das ist jetzt aber dumm gelaufen‘. Gleichwohl in der Tatsache ist es so, dass all das, was passiert, im Gegensatz zu seinen Kriegszielen steht, im Gegensatz zu seinen weitreichenden geopolitischen Ambitionen. Und auch deshalb muss er diesen Krieg weiterführen. Denn da er sich so verrechnet hat als autoritärer Führer, nicht kontrolliert, von niemandem beraten, alleine der weitreichende Forderungen erhebt, darf er diesen Krieg nicht verlieren.
Wladimir Putin kämpft inzwischen in der Ukraine um drei Ziele: Erstens, er will die Ukraine unterjochen. Zweitens, er will uns massiv schwächen, unsere Friedensordnung zu unseren Lasten ändern. Und drittens, weil dieser Krieg für ihn so schlecht gelaufen ist, vier Monate in denen es den russischen Streitkräften nicht gelungen ist, die ukrainischen zu besiegen, kämpft er in der Ukraine inzwischen auch um seine eigene Macht zu Hause.
Detjen:  Aber da zeichnen Sie ja das Bild eines Putins, eines Russlands, das unter wachsendem Druck eigentlich immer aggressiver wird. Das entspricht ja auch der Kriegstaktik, die wir vor Ort sehen. Was bedeutet das für den Westen? Wie geht man mit diesem Aggressor um?
von Fritsch:  Drei Bemerkungen dazu: Erstens, wir sehen, dass Wladimir Putin den Krieg um die Ukraine eskaliert mit immer brutaleren Angriffen, mit einer Walze der Militärmaschinerie, mit rücksichtslosen Angriffen auf zivile Ziele, auf die Zivilbevölkerung. Zweitens sehen wir, dass er eine Grenze sehr deutlich bislang respektiert, nämlich die Konfrontation mit der NATO. Das wird immer wieder deutlich aus seinen Äußerungen. Zuletzt hat er gestern klargemacht, und das ist, finde ich, mittelfristig, langfristig sehr interessant, dass Russland weiter interessiert bleibt beispielsweise an Rüstungskontrollverhandlungen und anderem mehr. Und drittens sehen wir, dass im Ergebnis der Konfrontation, die er an die Stelle des erfolgreichen Bemühens der vergangenen Jahrzehnte, Sicherheit gemeinsam in Europa zu bauen, erleben muss, dass wir auf diese Konfrontation reagieren, dass wir als Deutschland uns darauf einstellen, mit der Wende unserer Politik, hin zu höheren Ausgaben, um uns selber und unsere Partner zu schützen, mit der Bereitschaft, einem angegriffenen Land auch mit Waffen zu helfen.
Er muss erleben, dass andere Länder gleichermaßen reagieren, entschlossen, die gesamte westliche Gemeinschaft, und dass jene Länder, die er versucht hatte, aus der NATO herauszuhalten, nämlich Schweden und Finnland, jetzt den Schutz des westlichen Bündnisses suchen in einer radikalen Abkehr ihrer Politik der zurückliegenden Jahrzehnte seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

"Putin folgt einer anderen Rationalität"

Detjen:  Aber Sie sagen, Herr von Fritsch, dass die Eskalationsbereitschaft Putins Grenzen hat, dass er es nicht zu weit treibt, möglicherweise nicht zu einem nuklearen Krieg. Und gleichzeitig hören wir in den russischen, aus dem Kreml kontrollierten Staatsmedien, eine Rhetorik, die ein Bild zeichnet, in dem Russland sich längst in einen neuen vaterländischen Krieg gegen einen imperialen Westen befindet, und erleben Diskussionen, in denen ganz offen Szenarien von nuklearer Eskalation, Atomangriffen auf den Westen durchgespielt werden. Muss man das nicht doch sehr ernst nehmen?
von Fritsch:  Wir müssen zum einen sehr genau schauen, was sagen jene, die Verantwortung tragen, selber. Und ist es nicht so, dass Wladimir Putin bisher jene Grenze der Konfrontation mit der NATO sehr genau einhält, im Moment. Angesichts dessen, was passiert ist, können wir schlecht vorhersagen, was passieren wird, aber wir sehen eine gewisse Rationalität hier auch noch. Wir dürfen nicht annehmen, Wladimir Putin sei irrational, er sei verrückt geworden oder Ähnliches. Er folgt einer anderen Rationalität.
Detjen:  Welcher Rationalität folgt er? Das ist eine neoimperiale Agenda, und wenn wir auf die Politik, auf Diplomaten, auf Staats- und Regierungschefs aus den osteuropäischen Ländern hören, dann ist das nach wie vor eine Agenda, die darauf abzieht, als Nächstes das Baltikum, Georgien, Moldau ins Visier zu nehmen oder zu erobern.
von Fritsch:  Noch einmal, wir müssen unterscheiden zwischen dem, was offiziell von den Verantwortlichen gesagt wird, und jener klassischen, russischen, rhetorischen Angriffswelle gegen uns, um Angst bei uns zu erzeugen. Und in diese Angstfalle dürfen wir nicht laufen. Dieses wolkig Raunende, es könnte vielleicht sein, dass… und Folgendes könnte passieren. Das dient dazu, uns Angst zu machen, uns zu zerteilen, bei uns für Diskussionen zu sorgen zu seinen Gunsten.
Detjen:  Aber das ist das, was der Bundeskanzler auch getan hat, indem er am Anfang vor einer nuklearen Eskalation gewarnt hat.
von Fritsch:  Es ist richtig, darauf hinzuweisen und zugleich zu sagen, dass wir bereit sind, dem entschlossen entgegenzutreten.

"Wir müssen die Empfindlichkeit unserer ostmitteleuropäischen Partner sehr ernst nehmen"

Detjen:  Der französische Staatspräsident Macron hat jetzt kurz vor den Gipfeln gesagt, man dürfe Putin nicht demütigen. Man müsse eine diplomatische Startrampe für Verhandlungen bauen, die dann irgendwann kommen müssen. Das hat erwartungsgemäß natürlich vor allem in Kiew für zornige Reaktionen, für wirklich starke Verbitterungen noch mal gegenüber dem Westen gesorgt. Würden Sie sagen, das ist ein Signal, das in Moskau in irgendeiner Weise wahrgenommen wird, irgendwelche Wirkungen zeigt?
von Fritsch:  Zum einen müssen wir die berechtigte hohe Empfindlichkeit bei unseren ostmitteleuropäischen Partnern, die viel unmittelbarer sich von Russland bedroht fühlen, realisieren und sehr ernst nehmen. Das ist das eine. Das andere aber ist, dass es uns gelingen muss, die von Wladimir Putin gewählte Konfrontation in Zukunft zu gestalten, und zwar in dem Sinne, wie interessanterweise er selber es jetzt gesagt hat, ‚lass uns in Zukunft versuchen, auch in einer Situation solcher Konfrontation zu Verabredungen zu kommen‘, wie es uns seit der zweiten Hälfte des Kalten Krieges erfolgreich gelungen ist, die sicherstellen, dass diese Konfrontation nicht in eine unkontrollierte Eskalation mündet. Und dazu brauchen wir eines Tages Verabredungen über Rüstungskontrolle, über Sicherheit.
Damals ist uns sogar die KSZE gelungen, und dazu müssen wir in der Lage sein, mit jenem Russland zu reden, mit dem wir es zu tun haben. Wir können uns dieses Land nicht weg wünschen, wir können uns seine Führung nicht weg wünschen, und wenn wir Verabredungen treffen wollen, müssen wir grundsätzlich bereit sein, auch das Gespräch mit jener Führung über diese Fragen zu liefern.
Detjen:  Was Sie jetzt sagen, liegt in etwa, wenn ich das richtig verstehe, auf der Linie des außenpolitischen Beraters des Bundeskanzlers, Jens Plötner, der in einer öffentlichen Veranstaltung vor den Gipfeln gesagt hat, in Deutschland wird zu viel faktisch über Panzer geredet und zu wenig über ein künftiges Verhältnis zu Russland nach dem Krieg. Ist das jetzt die Zeit? Während diese Aggression noch so läuft, ist das eine Zeit, in irgendeiner Weise sinnvoll darüber nachdenken zu können, wie künftig ein Verhältnis zu Russland, eine Nachkriegsordnung aussehen kann?
von Fritsch:  Lassen Sie mich erstens sagen, dass ich bedaure, dass die Äußerungen meines Kollegen, Jens Plötner, so aus dem Zusammenhang gerissen worden sind …

"Wir müssen zur Verabredung über Fragen kommen, die auch im russischen Interesse sind"

Detjen:  … Ich habe sie gehört, man kann das auch im Internet nachhören, eine Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, und da hat er das ja sehr klar gesagt. Wir reden zu viel über Marder-Panzer …
von Fritsch:  … er hat es in einem Zusammenhang gesagt, aber richtig bleibt ja, dass es uns gelingen muss, an eine Zeit jenseits eines hoffentlich für die Ukraine erfolgreichen Friedensschlusses darüber nachzudenken. Wie können wir diese neue Situation, die Wladimir Putin so entschieden hat, der Konfrontation gegen uns erfolgreich gestalten? Es ist richtig, darauf jetzt bereits Gedanken zu verwenden. Das heißt auf überhaupt keinen Fall, dass man Russland irgendwelche Konzessionen irgendeiner Art machen darf, aber wir müssen zur Verabredung über Fragen kommen, die auch im russischen Interesse sind. Wir müssen aus Konfrontation geordnete Konfrontation machen.
Detjen:  Ist das nicht eine Diskussion, die zwangsläufig dazu führt, in Kiew bei Selenskyj und der ukrainischen Staatsführung, dass der Westen dabei ist, sich trotz aller Beteuerung der Solidarität und auch militärischen Unterstützung schon abzukehren und eine Diskussion, die auch bei Putin die Hoffnung wecken kann, der lange Atem des Westens bei der Unterstützung der Ukraine ist eigentlich gar nicht so lang? Spätestens im Herbst lässt die Bereitschaft, militärisch zu unterstützen, nach, und dann drängt auch der Westen darauf, irgendeinen Friedensschluss, irgendeinen Weg in die Diplomatie zu finden?
von Fritsch:  Es ist überhaupt nicht falsch, im Gegenteil. Wenn wir dieses Gespräch vernünftig führen, wenn wir einerseits klar machen…
Detjen:  Ist es falsch, wenn es interpretiert wird als Abkehr, wenn da in der Ukraine die Sorge entsteht, der Westen bereitet eigentlich das Ende der militärischen Unterstützung, die er zusagt, vor? Ist dieser Eindruck falsch in Kiew?
von Fritsch:  Das ist eine weitest hergeholte Interpretation einer Situation, die doch dadurch gekennzeichnet ist, dass wir, wie wir in dieser Woche wieder deutlich gemacht haben, in vielfältiger Form bereit sind und bleiben, der Ukraine zur Seite zu stehen. Und das wird von allein verantwortlichen Staatslenkern im Westen ja immer wieder gesagt, dass wir auch langfristig bereit sind, der Ukraine auch mit militärischer Unterstützung zur Seite zu stehen, dass es ausschließlich an der Ukraine sein kann und niemand sonst, wie die Ukraine ihre Zukunft bestimmt, dass wir aber jenseits eines möglichen Friedensschlusses, eines denkbaren Endes dieses Krieges, wie gesagt, der von der Ukraine bestimmt werden muss, darüber nachdenken müssen, wie gestalten wir eine neue Ordnung.
Dazu gehört beispielsweise, und das ist ja im Interesse der Ukraine, welche Sicherheit können wir der Ukraine jenseits dieses Punktes gewährleisten, und das ist etwas, was in der Ukraine von Interesse sein muss. Denn auch die Ukraine hat ja selbst formuliert, Präsident Selenskyj hat das immer wieder deutlich gemacht, ein Interesse daran, wie sieht eine künftige Ordnung aus, in der die Ukraine sich gut aufgehoben fühlt. Insofern ist dieser doppelte Ansatz, die entschlossene Reaktion, die dauerhaft entschlossene Reaktion des Westens auf Wladimir Putins Aggression, verbunden mit dem Blick auf die großen Zusammenhänge, auf eine Gestaltung einer zukünftigen Ordnung richtig.
Detjen:  Dann reden wir mal darüber, welche Vorstellungen, welche Szenarien kann man da überhaupt entwickeln und fangen wir an mit der ersten Stufe: Wie kann das überhaupt aussehen in einer Situation, wo uns alle Quellen, die mit Moskau, die mit Putin reden, sagen, da ist überhaupt keine Bereitschaft erkennbar, sich auf diplomatische Lösungen einzulassen, keine Ansätze in irgendeiner Weise dafür, sofern überhaupt noch diplomatische Gesprächskanäle bestehen?

"Wladimir Putin hat Schwarz und Weiß gewählt"

von Fritsch:  Zum einen, noch einmal, Wladimir Putin darf aus den genannten Gründen aus seiner Sicht diesen Krieg nicht verlieren. Deswegen wird er versuchen, ihn weiterzutragen. Deswegen ist es richtig, die Ukraine so zu unterstützen, so zu ertüchtigen, dass sie in der Lage ist, an einem Punkt mit Russland zu Verabredungen zu kommen, in denen die Ukraine ihre Vorstellungen durchsetzen kann. Das bleibt richtig.
Zugleich bleibt es ebenfalls richtig, dass wir in einer Situation, wo Wladimir Putin den erfolgreichen Versuch, Sicherheit in Europa gemeinsam zu gestalten, und das ist uns auch mit Russland vielfältig gelungen, zerstört hat, darüber nachzudenken, wie gehen wir mit dieser Zerstörung um, wie gehen wir damit um, dass er einen Graben quer durch Europa gerissen hat. Das muss bedeuten, dass wir jene, die jenseits dieses Grabens sitzen und nicht Mitglied unserer Bündnisse sind, eine klare Perspektive vermitteln, wie es mit dem Beitrittsangebot jetzt an die Ukraine, die Republik Moldau beispielweise erfolgt ist, die gewährleistet ist, dass sie nicht quasi im Schneematsch der Geschichte sitzenbleiben, dass sie nicht wieder zur Pufferzone, wie Wladimir Putin sich das vorstellt, zwischen uns und Russland werden, sondern dass wir diese Ordnung klar gestalten.
Wladimir Putin hat Schwarz und Weiß gewählt, und dann müssen wir damit umgehen, und das heißt auch noch einmal, dass wir auch mit einem Russland, so wie Wladimir Putin das gestern interessanterweise selber gesagt hat, zu Verabredungen kommen müssen, wie verhindern wir, dass diese Konfrontation eskaliert.
Detjen:  Wo erkennen wir, wo ist der Punkt, überhaupt den Einstieg in irgendwelche Gespräche über Verabredungen zu finden? Sie haben eben gesagt, es liegt an der Ukraine, ganz alleine an der Ukraine, wie lange sie kämpfen, wie lange sie diesen Kampf führen kann und will. Aber faktisch ist es doch so, dass die Ukraine vollkommen abhängig ist von der Unterstützung des Westens. Es ist der Westen, der bestimmt, wann Selenskyj sagt, ‚jetzt ist allmählich Schluss, wir müssen anfangen zu reden.‘
von Fritsch:  Das ist eine völlig spekulative Frage, weil sie unterstellt, dass der Westen sozusagen die Geschicke der Ukraine dadurch lenken wolle, dass er irgendwann die Unterstützung einstellt.

"Geschlossenheit des Bündnisses existiert zu 100 Prozent"

Detjen:  Aber das ist doch auch das Bild, das Selenskyj zeichnet, den Sie eben auch zitiert haben, der sagt, ‚wir brauchen die Unterstützung, ohne die Unterstützung des Westen können wir diesen Krieg gar nicht weiterführen‘. Insofern liegt es am Westen, zu definieren, wann und wie ein Einstieg in andere…
von Fritsch:  … aber diese Entscheidung hat der Westen doch getroffen, diese Entscheidung hat der Westen doch klar getroffen. Schauen Sie auf die Äußerungen auf den Gipfeln des amerikanischen Präsidenten, des Generalsekretärs der NATO, des Bundeskanzlers, des französischen Präsidenten, zuletzt des türkischen Präsidenten interessanterweise, der gesagt hat, die Position und Geschlossenheit des Bündnisses existiert zu 100 Prozent.
Wir haben die Entscheidung getroffen, die Ukraine dauerhaft zu unterstützen, um ihr die selbstbestimmte Entscheidung zu überlassen, an welchem Punkt und wie es ihr gelingen kann, aus einer Situation eigener Stärke heraus mit Russland zu Verabredungen zu kommen, die die Unabhängigkeit, Souveränität und selbstbestimmte Zukunft der Ukraine ermöglichen.
Detjen:  Aber die Signale, die der Westen aussendet, die sind doch schillernd. Es ist gerade ein Monat her, da hat auch die Bundesaußenministerin gesagt, das Ziel des Westens muss es sein, der Ukraine zu einem Sieg zu verhelfen. Jetzt hören wir vom Berater des Bundeskanzlers, vom außenpolitischen Berater, wir müssen über eine Nachkriegsordnung reden. Der französische Staatspräsident bietet Frankreich als Vermittler an. Dadurch entsteht doch eigentlich der Eindruck, dass die Haltung des Westens sich wandelt, dass die Euphorie, dass man der Ukraine zu einem Sieg verhelfen kann, dass die Ukraine weiterhin erfolgreich dabei ist, die russische Offensive zurückzudrängen, dass diese Euphorie verflogen ist und als Nächstes dann die Müdigkeit bei der Unterstützung der Ukraine kommen wird.
von Fritsch:  Das ist mal wieder so eine sehr deutsche Hölzchen-Stöckchen-Debatte. Ich halte dir ein Stöckchen hin, sagst du dieses oder jenes, springst du drüber oder nicht. Wir sind uns doch in einem Ziel im Westen alle einig, Wladimir Putin darf seine weitreichenden Ziele der Unterwerfung der Ukraine, der Zerstörung der europäischen Friedensordnung nicht erreichen. Da sind sich alle einig, und dafür unterstützen wir die Ukraine, dafür ertüchtigen wir unsere eigene Fähigkeit, uns und unsere Partner zu schützen. Dafür sind wir bereit, neue Mitglieder in die NATO aufzunehmen. Dafür bieten wir anderen Ländern in jenem Zwischeneuropa klare Perspektiven an. Insofern ist diese Debatte über hast du dieses oder jenes gesagt, wirklich eine müßige, weil wir uns im Kern einig sind. Wladimir Putin darf seine weitreichenden Ziele nicht erreichen.

"Die internationale Ordnung wird sich nicht fundamental ändern"

Detjen:  Lassen Sie uns den Blick mal etwas weiten an dieser Stelle in die Zukunft. Wir haben über mögliche Nachkriegsordnungen im Verhältnis zu Russland gesprochen, aber diese Zukunft wird ja dadurch gekennzeichnet sein, dass sich die geopolitische Ordnung der Welt insgesamt viel weitreichender verändert. Wir haben jetzt die Gipfel gesehen in Elmau, das Treffen der G7 mit Partnerländern aus dem sogenannten Globalen Süden, Indien, Indonesien, Südafrika, Senegal, Argentinien waren da dabei. Da hat man es mit Ländern zu tun, die heftig umworben sind bei der globalen Neuverteilung der Macht. Das sind Länder, die sitzen an einem Tag mit Putin und Xi Jinping in Peking in der Gruppe der BRICS-Staaten zusammen, und dann sind sie am nächsten Tag bei den G7 und gucken einfach, wer hat uns in der Zukunft mehr zu bieten. Da geht es um viel Geld. Was bedeutet das für künftige Machtverteilung in der Welt, für eine künftige Ordnung und für die Rolle Deutschlands in dieser Weltordnung?
von Fritsch:  Die internationale Ordnung wird sich, Stand heute, nicht fundamental ändern. Die Dynamiken und Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte werden bleiben. Was heißt das? Der Westen steht in seltener Geschlossenheit zusammen, Klammer auf, Weckruf an die Europäer: wir können uns nicht dauerhaft sicher sein, wer im Weißen Haus sitzt, also sollten wir uns selber außen- und sicherheitspolitisch ertüchtigen, Klammer zu. Der Globale Süden wird weiter versuchen, den Anschluss zu halten mit allen Vorteilen, die die Globalisierung ihm ja auch geboten hat, und da müssen wir ihn unterstützen. China wird machtvoll versuchen, seinen Weg weiterzugehen, wenngleich das, was jetzt geschieht, nicht in Chinas Interesse ist. Russland zertrampelt gerade einen Pfad der Seidenstraße. Russland sorgt dafür, dass es international zur Rezession, Inflation, zu Schwierigkeiten bei Lieferketten kommt. China ist darauf angewiesen, ein verlässliches, stabiles Umfeld für die Ausweitung seiner wirtschaftlichen Macht zu haben.
Was sich an der internationalen Ordnung ändert, ist, dass ein Mann beschlossen hat, sein Land herauszunehmen und in die Isolation zu führen, in den wirtschaftlichen Niedergang. Das ist Wladimir Putin. Und dann haben wir die von Ihnen genannten Zwischenländer quasi, die dem Globalen Süden angehören und zum Teil in sehr besonderer Position sind. Und das müssen wir sehen und respektieren.
Nehmen wir ein großes Land wie Indien. Wovon ist seine Position bestimmt? Es steht in einer starken, zum Teil angstvollen Rivalität mit China. China ist gleichzeitig der Partner Russlands. Indien ist der größte Abnehmer russischer Rüstungsgüter in großem Umfang. Indien hat Schwierigkeit mit Pakistan. Das heißt, Indien muss versuchen, mit dieser Situation zurechtzukommen, und auf die müssen auch wir eingehen. Das Gleiche gilt für andere Länder auch. Man kann eine ganze Reihe nennen.

"China zu einem verantwortlichen Akteur der internationalen Ordnung machen"

Es ist nicht so, dass, wie manchmal rein arithmetisch und völlig unpolitisch gesagt wird, quasi die Mehrheit der Weltbevölkerung gegen die Position des Westens steht. So ist dem nicht. Unser Bestreben muss es sein, zu versuchen, China zu einem verantwortlichen Akteur der internationalen Ordnung zu machen, zu einem Akteur, der sich im eigenen Interesse an Regeln hält. Und insofern ist dies eine Aufgabe der Gestaltung. Das sind die Aufgaben der Zukunft.
Detjen:  Das hat uns auch gerade die deutsche Delegation berichtet, die haben gesagt, wie vehement diese Gastländer aus dem Globalen Süden sagen, was Putin angeht, was Putins Verhalten angeht, ist das kein globales Problem, ‚das ist ausschließlich ein Problem des Westens, das müsst ihr alleine lösen, das ist nicht unser Problem‘.
von Fritsch:  Noch einmal, viele dieser Länder haben ihre sehr spezifischen Interessenlagen. Das müssen wir akzeptieren, versuchen, damit umzugehen, aber in einem sind wir uns doch einig: Schauen wir auf die Abstimmungen der Vereinten Nationen, wo die Mehrheit der afrikanischen Staaten zugestimmt hat, dass es nicht angehen kann, dass der Einzelne gewalttätig das Recht in seine Hand nimmt und einseitig Teile des Nachbarlandes annektiert, es überfällt, das ist in niemandes Interesse. In dieser Frage sind wir uns alle einig.
Jenseits davon gibt es unterschiedliche Interessenlage. Das gilt ja auch schon für die Europäische Union. Unser gemeinsames Handeln ist immer Ausdruck eines Kompromisses. Das ist ein Stück weit unsere Schwäche, aber natürlich auch unsere Stärke, weil wir zur Geschlossenheit finden. Und das ist Aufgabe von Diplomatie, hier ständig daran zu arbeiten, dass wir möglichst alle gut beieinander haben.
Detjen:  Wie groß ist Ihre Sorge, dass diese Schwäche, diese Risse, diese Spaltung, die wir auf allen Ebenen sehen, wenn es in der EU um Rechtsstaatlichkeit geht, wenn es in den G7 um Klimapolitik geht, wenn es in der NATO um das Verhältnis zur Türkei geht, dass diese Risse sich eben nicht mehr, so wie in der Vergangenheit durch Diplomatie heilen lassen, und dass es nur der akute, der augenblickliche Druck durch Putins Aggression ist, der den Westen so zusammenschweißt, dass das auf Dauer nicht nachhaltig sein wird?
von Fritsch:  Es ist charakteristisch für die politische Analyse, dass sie die Probleme von heute kennt, aber nicht die denkbaren Lösungen von morgen. Da lohnt es manchmal, den Blick zurückzuwerfen und zu erkennen, dass es uns unter schwierigsten Umständen in der Vergangenheit gelungen ist, Lösungen zu finden.
Wir dürfen gerade angesichts einer Propaganda aus Russland, die auf die Erzeugung von Angst zielt, nie die Zuversicht verlieren und die Hoffnung darauf, dass uns Lösungen morgen gelingen können. Diplomatie heißt, 19-mal die Mauer hochklettern, 19-mal runterfallen, aber es vielleicht beim 20. Mal zu schaffen. Nehmen Sie das Beispiel der Türkei. Wie schwierig hat sich der Beitritt Schwedens und Finnlands gezeigt. Viele waren der Auffassung, das wird gar nicht gelingen aufgrund des türkischen Vetos. Die haben bei der Gelegenheit versucht, Interessen zu wahren. Am Ende ist es doch gelungen.
Es kann uns immer wieder gelingen, Lösungen zu finden, und wir haben ja auch Übung darin, beispielsweise in der Europäischen Union immer wieder zu Kompromissen zu kommen. Die sind manchmal nicht genial, aber in Summe kommen wir vorwärts, und wenn wir zurückblicken, ist die Europäische Union, ist die NATO, sind beides grandios gelungene Projekte.

"Paternalismus ist völlig fehl am Platze"

Detjen:  Wie weit wird der Wendezirkel der Zeitenwende, die der Bundeskanzler auch ausgerufen hat, vor diesem Hintergrund noch reichen müssen? Wenn wir uns anschauen, was die NATO sich jetzt vorgenommen hat, massive Truppenaufstockungen, die Präsenz an der östlichen Flanke verstärken, wird das 100 Milliarden-Paket für die Bundeswehr, das der Bundestag jetzt beschlossen hat, da ausreichen oder ist das nur der Anfang und die Konsequenzen werden noch viel weiter reichen, ökonomisch, politisch, aber auch mental?
von Fritsch:  Also zum einen bin ich weder Haushalts- noch Militärexperte …
Detjen:  … ich sage deshalb auch ‚politisch und auch mental‘.
von Fritsch:  Zum einen hat die Bundesregierung das im Einzelnen zu entscheiden. Aber klar ist doch, dass unsere Politik einen fundamentalen Richtungswechsel vollzogen hat, dass wir ganz anders dauerhaft, solange diese Konfrontation fortbesteht, und das muss ja auch nicht für alle Ewigkeit sein, das kann auch einmal ein anderes Russland eines Tages geben, bereit sein müssen, dauerhaft uns, unsere Partner zu schützen, uns auf diese Konfrontation einzustellen. Die Zustimmung dazu ist ja überwältigend. Denken Sie an die Rede des Bundeskanzlers drei Tage nach Kriegsausbruch im Bundestag. Denken Sie an die Haltung in der Bevölkerung. Denken Sie daran, wie die Haltung dauerhaft in unserem Land dazu zu Zeiten des Kalten Krieges war, dass wir in Zeiten der Konfrontation bereit gewesen sind, dauerhaft uns entschlossen zu zeigen. Denken Sie daran zurück, dass Willy Brandt in der Zeit, als er die Ostpolitik gestaltete, zugleich, ich glaube, 5,3 Prozent des Bundeshaushaltes damals für Verteidigung ausgegeben hat.
Das heißt, eine solche Politik, die versucht, auf die Zukunft zu schauen, Gestaltungslösungen zu finden, muss gleichzeitig zur Entschlossenheit bereit sein. Wir dürfen keine Nachlässigkeit zeigen. Wir dürfen keine Zugeständnisse machen, nur damit irgendeiner vielleicht Frieden gibt, und am besten auch noch der Ukraine, wie im jüngsten Aufruf jetzt wieder, vorzuschlagen, was sie am besten zu tun habe. Dieser Paternalismus ist völlig fehl am Platze. Das ist Aufgabe der Ukraine, aber wir müssen bereit sein, zur Gestaltung beizutragen.
Detjen:  Herr von Fritsch, vielen Dank für dieses Gespräch.
von Fritsch:  Sehr gerne, Herr Detjen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.