Mittwoch, 24. April 2024

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Martin Wansleben (DIHK)
"Ohne China wird Deutschland zusätzlich ärmer werden"

Die Welt sei auf China angewiesen, sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben im Interview der Woche. Mehr Unabhängigkeit von China werde zu Wohlstandverlusten bei uns führen. Erreicht werden müssten wechselseitig gültige Wirtschaftsregeln.

Martin Wansleben im Gespräch mit Sina Fröhndrich | 30.10.2022
Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK)
Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) (imago images / Jens Schicke )
Nach Ansicht des Hauptgeschäftsführers des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Martin Wansleben, ist es richtig, dass Bundeskanzler Olaf Scholz nach China reist. Auch wenn dort Präsident Xi Jinping gerade wieder beim Parteitag der Kommunistischen Partei gezeigt hat, wie er unliebsame Stimmen selbst in der höchsten Führungsebene ausschaltet. „Das ist ein Antrittsbesuch bei einem der wichtigsten Länder der Welt. Deswegen ist das völlig entkoppelt von aktuellen Themen", sagte Wansleben im Interview der Woche im Deutschlandfunk. "Es gibt keine bessere Alternative für den Bundeskanzler als mit Herrn Xi Jinping auch persönlich zu sprechen.“

„Das Thema COSCO ist eine Symboldiskussion“

Wansleben verwies darauf, dass Deutschland, Europa und die Welt auf vielfältige Weise von China abhängig und zur Lösung dringender Probleme auf China angewiesen sei. Das gelte etwa für den Klimawandel und die Ernährungssicherheit. „Diese Fragen werden wir ohne China nie wirklich lösen können.“ Er verwies auch darauf, dass es keine Unabhängigkeit von China geben könne, "die nicht bei uns zu Wohlstandverlusten führt". Zugleich betonte Wansleben, dass es im wirtschaftlichen Verhältnis mit China wechselseitig gültige Regeln, also Reziprozität, erreicht werden müsse. Das habe man dem Kanzler für seine Reise mitgegeben.
Wichtig sei auch, dass Europa bei diesem Thema zusammenstehe. "Denn als Europa sind wir nach wie vor einer der größten weltweiten Investoren. Das heißt, die Stimme von Europa insgesamt hat ein ganz anderes Gewicht als die Stimme des Bundeskanzlers oder die Stimme Deutschlands", so Wansleben. Die Debatte über den Einstieg der chinesischen staatlichen Reederei COSCO beim Hamburger Hafen bezeichnete Wansleben als eine Symboldiskussion. „Letztlich entscheidet sich an der Minderheitsbeteiligung von COSCO nicht wirklich die wirtschaftliche Unabhängigkeit oder Zukunft Deutschlands oder Europas.“

Wirtschaftliche Erwartungen "sind hundsmiserabel schlecht"

Die angekündigten Wirtschaftshilfen für Unternehmen angesichts hoher Gas- und Strompreise verteidigte Wansleben. Auch mit einer Gaspreisbremse habe „der Standort Deutschland nach wie vor erheblich an Wettbewerbsfähigkeit, zum Beispiel gegenüber den USA, eingebüßt.“ Dass im Falle von Wirtschaftshilfen Unternehmen auf Boni oder Dividenden verzichten sollten, wies Wansleben zurück: „Wenn ich jetzt in die Unternehmen eingreife, dann mache ich sie zusätzlich unattraktiv - in diesem Falle für den Kapitalmarkt.“
Die wirtschaftlichen Aussichten bewerteten zunehmend mehr Unternehmen eher schlecht, sagte Wansleben. „Die Anzahl der Optimisten wird weniger. Die Erwartungen sind hundsmiserabel schlecht. Die Unternehmen haben das Gefühl, das Schlimmste wartet noch auf uns.“ Es könne aber noch immer sein, dass diese schlechten Erwartungen auf eine bessere Zukunft stoßen. Denn dieses Jahr sei bislang besser ausgefallen als man es erwartet habe.

Das komplette Interview im Wortlaut:

Sina Fröhndrich: Herr Wansleben, wir sprechen miteinander, am Ende einer Woche, in der jetzt viel über China diskutiert wurde. Wie eng wird Deutschland mit China wirtschaftlich verbunden sein? Wie abhängig sind wir? Wie lassen wir chinesische Unternehmen hier in Deutschland agieren? Hintergrund ist: Die chinesische, staatliche Reederei COSCO darf bei einem Terminal am Hamburger Hafen einsteigen mit 24,9 Prozent. So will es Kanzler Olaf Scholz. Einige sagen, wirtschaftlich ist der Deal eigentlich völlig irrelevant, aber politisch ein Fiasko. Herr Wansleben, wie fällt denn Ihr Urteil aus?
Martin Wansleben: Es gibt keine Welt ohne China. Und es gibt auch keine Welt ohne Abhängigkeit von China. Genauso wenig wie es eine Welt gibt, wo China nicht abhängig vom Rest der Welt ist. Und ich glaube, dass das Thema COSCO und Hamburger Hafen jetzt eine Symboldiskussion geworden ist. Letztlich entscheidet sich an der Beteiligung, an der Minderheitsbeteiligung von COSCO an einem einzigen Kai nicht wirklich die wirtschaftliche Unabhängigkeit oder Zukunft Deutschlands oder Europas. Es macht allerdings deutlich, dass das Thema wichtig ist und es macht deutlich, dass sich Europa auch insgesamt bei dem Thema aufstellen muss. Denn COSCO wäre ja nicht nur am Hamburger Hafen beteiligt, sondern auch an vielen anderen europäischen Häfen, sogar am Hafen in Seattle.

„Wir können uns nicht entkoppeln“

Fröhndrich: Aber gerade, wenn Sie sagen, das ist ein Symbol, wäre es dann nicht auch ein Signal auch gewesen, wenn Olaf Scholz den Einstieg abgelehnt hätte und mit dieser deutlichen Botschaft dann auch nach China gereist wäre Ende nächster Woche?
Wansleben: Frau Fröhndrich, ich mache es mal schwarz-weiß. Wir tun jetzt mal so, als ob das, was bisher gewesen wäre, blauäugig gewesen wäre, an Politik jetzt mit China. Ich glaube, dass es nicht die Antwort auf diese Blauäugigkeit wäre, wenn wir jetzt einseitig werden. Sondern das ganze Thema China hat mindestens aus Sicht der Wirtschaft fünf Aspekte. Das ist die Frage der wirtschaftlichen Bedeutung. Das ist der Frage in der Tat der Diversifizierung von Lieferketten. Also, in welcher Form ist das einzelne Unternehmen und damit Deutschland insgesamt von China abhängig? Das sind natürlich sicherheitspolitische Fragen - entzieht sich also der Wirtschaft, ist ein politisches Thema. Das sind Fragen von Menschenrechten vor Ort, ein wichtiges, politisches Thema. Und ein letztes ist: Wir haben natürlich auch den Aspekt: Wofür brauchen wir China dringend, um welche Herausforderungen in der Welt zu lösen? Nehmen Sie alleine nur mal das Thema Klima oder auch Weltbevölkerungsentwicklung, Ernährungssicherheit. Diese Fragen werden wir ohne China nie wirklich lösen können.
Das heißt, wir können uns nicht entkoppeln, sondern wir brauchen einen Umgang mit China. Und deswegen ist die deutsche Wirtschaft froh, dass der Bundeskanzler bereit ist, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Wir halten es für richtig, die Wirtschaft in Hamburg kämpft sehr dafür, dass COSCO sich in dieser Form an dem Hafen beteiligen kann. Aber ich sage deutlich, ich halte es auch für richtig, dass wir die Diskussion sorgfältig führen, und zwar nicht nur als Deutschland, sondern mindestens als Europa insgesamt.

Mit der chinesischen Staatsführung im Gespräch bleiben

Fröhndrich: Aber fehlen uns da nicht noch insgesamt die Antworten? Sie haben jetzt die verschiedenen Aspekte aufgelistet. Die Bundesregierung feilt ja noch an einer China-Strategie, aber die gibt es immer noch nicht. Und trotzdem reist der Kanzler jetzt nach China, auch, nachdem wir den Parteitag gesehen haben, gesehen haben, wie Xi Jinping dort mit unliebsamen Stimmen umgeht. Ist das jetzt der richtige Zeitpunkt?
Wansleben: Also, ich habe die fünf Punkte in der Hoffnung genannt, dass wir zumindest die Punkte, die aus Sicht von Wirtschaft relevant sind, nachher noch mal durchgehen. Das Zweite ist: Ich kenne persönlich China seit 1987, also, sagen wir mal, viele Höhen und Tiefen. Ich sehe es persönlich auch so, dass sich da vieles zum Negativen geändert hat. Das sehen auch viele Unternehmen so und agieren entsprechend. Der Bundeskanzler ist relativ neu im Amt. Das ist ein Antrittsbesuch bei einem der wichtigsten Länder der Welt. Deswegen ist das völlig entkoppelt von aktuellen Themen. Es gibt keine bessere Alternative für den Bundeskanzler als mit Herrn Xi Jinping auch persönlich zu sprechen.
Fröhndrich: Das heißt, Sie sehen da gar kein Problem darin, dass der Kanzler da jetzt reist nächste Woche?
Wansleben: Also, „gar kein Problem“ wäre sicherlich nicht richtig, weil das eine Verharmlosung wäre. Aus Sicht der Wirtschaft ist es wichtig, mit Herrn Xi Jinping und mit der chinesischen Staatsführung im Gespräch zu sein. Auch, wenn wir sehen, was Sie eben gesagt haben und was einen ja auch persönlich sehr beunruhigen muss.

China: Fitness-Center für deutsche Unternehmen

Fröhndrich: Und noch mal zur Chinastrategie der Bundesregierung nachgefragt: Braucht es die jetzt nicht auch ganz schnell, um auch klarzumachen, mit wem wir es an der Stelle zu tun haben? Also, braucht es vielleicht auch eine weniger kommerziell getriebene Strategie und eine echte geopolitische?
Wansleben: Also, wir brauchen sicherlich eine europäische Strategie. Deutschland muss sicherlich für sich seine Position definieren. Aber als Deutschland sind wir, ich will jetzt nicht sagen irrelevant, aber doch am Ende zu klein. 80 Millionen zu 1,4 Milliarden. Aber ich würde gerne mit Ihnen die Punkte durchgehen. Fangen wir mit Wirtschaft an. Also, China ist eines der wichtigsten Absatzmärkte, auch für die deutsche Industrie. Es ist eines der wichtigsten Rohstofflieferanten. Und was wichtig ist: Inzwischen sind chinesische Unternehmen weltweit mit die wichtigsten oder bedeutendsten Wettbewerber für die deutschen Unternehmen. Deswegen ist es in China zu sein, mit China Geschäfte zu machen, auch so was wie ein Fitness-Center. Ich muss vor Ort meine Wettbewerber beobachten und kennenlernen, um zu wissen, wie sie weltweit agieren. Außerdem gibt es viele Einzelmärkte. Chemie, Automobil, Blechbearbeitung, um nur die drei Beispiele zu nennen, wo China einer der bedeutendsten Märkte ist, und zwar vom Volumen her und auch von der Innovation. Das heißt, wir können nicht einfach China ausblenden. Wirtschaft ist ein wichtiger Aspekt, aber Sie haben recht, nicht nur der einzige.

Keine Unabhängigkeit von China ohne Wohlstandverluste

Fröhndrich: Aber müsste nicht noch mehr nach den Lehren, den Erfahrungen aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auch immer ein geopolitisches Risiko mitbetrachtet werden? Also, es gibt in den USA Stimmen, die rechnen noch in diesem Jahr, vielleicht im nächsten Jahr schon mit einem Angriff gegen Taiwan. Das würde Sanktionen vonseiten der USA nach sich ziehen. Sind das Risiken, die eingepreist sind, wenn wir dann auf der anderen Seite in dieser Woche hören, dass BASF sagt, wir setzen noch viel stärker auf China?
Wansleben: Ja, also, Sie sprechen natürlich da ein absolutes Supergau-Thema an. Ich glaube, die Wirtschaft hat jetzt gerade im Fall des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine bewiesen, wie schnell und wie klar eindeutig Wirtschaft dann hinter der Politik, auch hinter Sanktionen steht. Aber recht haben Sie, die Erfahrung jetzt mit Russland zeigt, dass ein einseitiger Vertrauensvorschuss nicht mehr so gerechtfertigt ist. Ich könnte auch sagen, Misstrauen ist jetzt eingekehrt in die Welt. Der Bundespräsident hat das ja am vergangenen Freitag sehr ausführlich und sehr eindrücklich dargestellt. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns überlegen: Wie können wir Alternativen aufbauen? Bevor wir dazu kommen, ist aber eines wichtig: Es gibt keine Unabhängigkeit von China, die nicht bei uns zu Wohlstandsverlusten führt. Das muss allen klar sein. Also, wir werden nie in die Situation kommen, wo wir sagen: China, okay, egal, haken wir ab. Wir können auch ohne. Also, ohne China wird es schwieriger. Ohne China wird Deutschland zusätzlich zu dem, was wir jetzt alleine schon durch die Energiepreise erleben, zusätzlich ärmer werden.
Aber Ihre Frage ist richtig. Und es ist ganz interessant, sich mal in der Welt umzugucken, wie andere Länder damit umgehen. Das ist nicht nur die USA, sondern das ist auch Japan. Die machen eine ganz konsequente China-plus-eins-Strategie. Die sagen, die Unternehmen sind gut beraten, nach China zu gehen. Je nachdem, wie wichtig - ich habe das eben dargestellt - China insgesamt für das einzelne Unternehmen ist. Aber das einzelne Unternehmen muss darauf achten, dass es nicht so eine Null-eins-Situation bekommt, wenn China weg ist, dass nichts mehr läuft. Also, BASF wird - davon können Sie ausgehen - darauf achten, wenn das Investment nicht funktioniert, dass BASF nicht insgesamt zum Stillstand gerät. Das ist jetzt die Aufgabe. Aber das ist inzwischen sozusagen schon eingepreist in das Risikomanagement-System der Unternehmen. Denn alleine der Umgang mit COVID-19, also die Lockdowns haben ja gezeigt, dass China nicht immer zur Verfügung steht. Aber dennoch ist natürlich China einer der führenden Märkte im Chemiebereich. Das ist die Ratio des Investments von BASF.
Fröhndrich: Sie würden also sagen, da wird schon genug diversifiziert?
Wansleben: Ich würde sagen, das hat angefangen. Da ist noch Luft nach oben. Aber es hat schon mehr begonnen, als wir in der öffentlichen Diskussion wahrnehmen. Ich kenne Unternehmen, die sagen: Für mich ist China wahnsinnig wichtig. Ich muss da hin. Ich kenne Unternehmen, die sagen: Ich bin enttäuscht. Und ich habe letztens mit einem Mittelständler gesprochen, der gesagt hat: Ich habe doch investiert. Am liebsten würde ich die Fabrik wieder schließen. Das mit COVID-19 geht gar nicht. Ich komme gar nicht zu meinem Unternehmen. Das heißt also, da ist viel in Bewegung, möglicherweise mehr, als es in der politisch öffentlichen Diskussion wahrgenommen wird.

Europa muss neue entstandene Schwäche ausgleichen

Fröhndrich: Nehmen wir uns noch mal einen Bereich raus, die seltenen Erden. Die gibt es nicht nur in China, aber die Verarbeitung findet zum größten Teil in China statt. Warum holen wir so eine Produktion nicht nach Europa, also auch als nicht Reaktion, sondern um proaktiv zu sagen, da verringern wir die Abhängigkeit, sollte es irgendwie gestörte Lieferketten geben, Sanktionen, wie auch immer?
Wansleben: Sie stellen genau die richtige Frage. Vielen Dank. Der Bundespräsident hat ja auch am Freitag gesagt: nicht Defensive, sondern Offensive. Genauso ist es. Das heißt, wir müssen jetzt uns angucken: Wo bekommen wir seltene Erden her? Wo bekommen wir Kobalt her? Bislang haben wir uns danach gerichtet: Wo kriegen wir es am billigsten? Und nehmen Sie jetzt mal Schiefergas, Fracking. Wir haben auch gesagt: Wer macht für uns - ich überziehe jetzt -, sagen wir mal, die nicht so schöne, vielleicht auch umweltverdreckende Tätigkeit? Und wir können diese Umweltschädigung hier in Europa, in Deutschland außen vorhalten. Also, wir werden darüber nachdenken müssen, was wir hier, wie betreiben können. Und wenn wir uns unabhängiger machen wollen von einem großen Kunden, von einem großen Zulieferanten, dann müssen wir insgesamt attraktiver werden.
Ich könnte es auch anders herum formulieren. Ich hatte mal, glaube ich, in Klasse acht eine Fünf in Deutsch und ich musste das kompensieren, in diesem Falle durch eine Drei in Mathematik. Also, je schlechter ich auf der einen Seite werde, das ist im Moment Energie, desto besser muss ich woanders werden. Und das ist jetzt genau das, was anliegt. Und da kommen diese Fragen, die Sie stellen, also, was können wir hier in Europa erstellen, was können wir mit anderen Ländern machen, voll auf den Tisch. Da kann man von den Japanern sich ein bisschen was abgucken, die sehr offensiv genau diese Frage der internationalen Allianzen angehen. So, wie das ja der Bundeskanzler auch im Rahmen von G7 versucht umzusetzen.

Wechselseitig gültige Regeln mit China müssen sein

Fröhndrich: Nun werden solche Diskussionen ja auf politischer Ebene geführt, in Brüssel und in Berlin. Wo ist da denn Ihre Verantwortung, die Verantwortung der Unternehmen?
Wansleben: Also, die Verantwortung der Unternehmen ist natürlich einmal, als Unternehmen selber, den eigenen Fortbestand zu sichern. Das heißt, für die Unternehmen sind diese Fragen sehr konkret. Sie müssen sich genau angucken: Kann ich das angesichts der Existenz meines Unternehmens zumuten? Die müssen aber auch fragen: Kann ich mir leisten, nicht in China zu sein? Die Frage gehört mit dazu. Das Zweite ist, was wichtig ist und da haben wir noch eine Menge Aufgaben: Wir müssen in der öffentlichen Diskussion, gerade auch im Hinblick auf Europa, deutlich machen, wie konkret die Situation ist. Also, wir haben gerade in der vergangenen Woche erlebt, dass in Brüssel nicht wirklich richtig bekannt ist, wie konkret und wie dramatisch die Situation jetzt beim Thema Energiepreise in deutschen, insbesondere industriellen mittelständischen oder auch Großindustrien ist. Also, wir haben ein Transport-, ein Informationsproblem. Und deswegen müssen wir aktiver Teil dieser Diskussion sein.
Fröhndrich: Ein Teil dieser Diskussion. Bevor wir gleich zu den Energiepreisen kommen, bleiben wir noch mal kurz beim Thema Wechselseitigkeit, also das, was China deutschen Unternehmen verwehrt. Ist die Frage: Sollten wir da nicht auf Augenhöhe handeln und sagen, wenn deutsche Unternehmen es in China so schwer haben, dann sollten die auch nicht hier in Deutschland einsteigen, übernehmen können?
Wansleben: Exakt. Also, das ist genau der Punkt. Wir sind gefragt worden, was würden wir dem Bundeskanzler mit ins Gepäck geben. Und ich habe dann gesagt, dass er sagt: Reziprozität. Also, wechselseitig gültige Regeln, das muss schon sein. Aber es ist wichtig, dass Europa hier zusammensteht. Denn als Europa sind wir nach wie vor einer der größten weltweiten Investoren. Das heißt, die Stimme von Europa insgesamt hat ein ganz anderes Gewicht als die Stimme des Bundeskanzlers oder die Stimme Deutschlands.

Hohe Energiepreise schaden Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands

Fröhndrich: Herr Wansleben, Sie haben gerade schon die Energieversorgung angesprochen. Gas und Strom kosten mehr. Die Versorgungslage ist angespannt. Und Sie weisen ja seit Monaten darauf hin, dass einige Unternehmen keine neuen Strom- oder Gasverträge mehr bekommen oder dann eben nur noch Versorger finden mit extrem hohen Preisen. Wie ist denn da die Lage im Moment?
Wansleben: Ja, im Moment ist die Lage ja ganz interessant. Der aktuelle Preis von Gas ist relativ niedrig. Liegt immer noch etwa dreimal höher als ehedem. Aber im Vergleich zu den 300, 350 pro Megawattstunde, die wir mal hatten, liegt es jetzt bei 100, also, auf einem Drittel. Aber das Problem ist natürlich, Gas fließt. Und wenn alle Speicher voll sind, wenn die Industrie spart, und wenn die Temperaturen hoch sind, also wir auch nicht heizen mit Gas, dann müssen die Gaslieferanten gucken, wohin mit dem Gas. Dann sinkt der Preis. Deswegen habe ich mir eben noch mal angeguckt: Wie ist eigentlich der Gaspreis fürs nächste Jahr? Da liegt er bei etwa 150, 140, also halb so hoch wie im Peak. Aber immer noch – und das ist jetzt wichtig – siebenmal höher als zum Beispiel in den USA.
Das heißt also, wenn wir jetzt darüber diskutieren, Gaspreisbremse, die Unternehmen bekommen aber viel Geld vom Staat, ja, sie bekommen viel Geld vom Staat, aber der Standort Deutschland hat nach wie vor erheblich an Wettbewerbsfähigkeit zum Beispiel gegenüber USA eingebüßt. Und das ist nicht nur ein theoretischer Wert, sondern alle Unternehmen, die hier produzieren, energieintensiv mit diesen hohen Gaspreisen, haben ihrerseits ein Problem auf den Weltmärkten im Preis um die Kosten. Und nicht zuletzt auch wir Deutschen gehen dann hin und kaufen die jeweils billigere Ware. Und das ist im Zweifel nicht die deutsche.
Fröhndrich: Nun wird aber auch darüber diskutiert, dass sobald Staatshilfen fließen, Boni und Dividenden gestrichen werden sollten. Ist das ein Preis, den die Unternehmen dann auf der anderen Seite auch zahlen müssen?
Wansleben: Also, diese Diskussion hat in der Gaspreiskommission jetzt sehr intensiv stattgefunden und man hat sich für eine andere Vorgehensweise entschieden, nämlich gerade für größere Unternehmen das Thema Standortsicherung. Noch mal einmal kurz zurück: Man muss jetzt darauf achten: Was wollen wir? Wollen wir das Gasproblem lösen? Oder wollen wir ein anderes, politisches Problem, zum Beispiel Verteilungsfragen lösen? Die Gaspreisbremse - und das ist wichtig - versetzt die Unternehmen nicht in eine bessere Situation als zum Beispiel 2019, sondern selbst mit Gaspreisbremse sind die Gaspreise, die die Unternehmen in Deutschland bezahlen müssen, fünf- bis siebenmal höher als in den USA.
Wenn wir also als Deutschland attraktiv sein wollen als Industriestandort, wenn wir haben wollen, dass unsere Unternehmen international wettbewerbsfähig sind, dann sollten wir uns darauf konzentrieren. Und jetzt bleiben wir mal bei den Dividenden. Wir beide kaufen meinetwegen Aktien. Wir kaufen aber keine Aktien von Unternehmen, die keine Dividenden ausschütten, denn wir müssen beide für unser Alter vorsorgen. Das heißt also, wenn ich jetzt in die Unternehmen eingreife, dann mache ich sie zusätzlich unattraktiv, in diesem Falle für den Kapitalmarkt. Also, das, was in der ersten Runde sehr einleuchtend klingt, kann in Wahrheit sehr tiefgreifende Veränderungen der Märkte mit sich bringen und in diesem Falle zu Lasten deutscher Unternehmen und damit auch zu Lasten Deutschlands insgesamt.

Produktion einzustellen ist „eine konsequente Schlussfolgerung“

Fröhndrich: Dann noch mal anders gefragt. Muss denn wirklich jedes Unternehmen jetzt bei den Gaspreisen entlastet werden? Es gibt ja auch die Möglichkeit, gestiegene Preise weiterzugeben. Nehmen wir jetzt mal die Bäckerei. Dann muss das Brot eben sieben, acht Euro kosten und dann muss man eben schauen, ob man die Kundschaft am Ende wieder entlastet.
Wansleben: Völlig richtig. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den Sie ansprechen. Nun haben wir leider die Situation, dass nicht nur die Gaspreise so exorbitant gestiegen sind, sondern ganz viele Zulieferpreise, ganz viele Rohstoffe. Und wir haben im Moment eine Inflationsrate von zehn Prozent. Und da sehen Sie, was insgesamt schon bei den Unternehmen hängenbleibt, wo sie verzichten müssen auf Gewinn, wo sie versuchen müssen, über Produktivitätssteigerungen diese Preisekonstellation auszugleichen. Also, die Unternehmen, die im weltweiten Wettbewerb sind, die Unternehmen, die viel Energie brauchen, auch der Bäcker, die stehen ganz schön unter Druck. Die werden alles tun - und unsere Umfragen zeigen das auch -, dass sie genau das versuchen, nämlich die Preise zu überwälzen. Problem ist nur, wenn sie einen Wettbewerber haben, der meinetwegen in den USA ist und nicht so einen Preisdruck hat, der muss die Preise nicht so anheben. Und dann gehen die Kunden zu ihm und der Deutsche bleibt auf seinen Kosten hängen.
Fröhndrich: Jetzt gibt es ja auch Unternehmen, die stellen ihre Gas- oder Teile ihrer Gaskontingente mittels Auktion zur Verfügung. Die IG Metall fürchtet, das könnte so lukrativ sein, dass Unternehmen dann Gasmengen abgeben und dafür die Produktion runterfahren.
Wansleben: Das ist ein zweischneidiges Schwert. Und, ja, die IG Metall hat recht. Diese Befürchtung kann man haben. Wenn ich das einfach mal „blutleer“ formulieren darf. Wenn es so ist, dass die Gaspreise oder die Energiepreise strukturell absehbar für die nächsten zwei Jahre so hoch bleiben, dass ein Unternehmen in Deutschland nicht mehr produzieren kann, wettbewerbsfähig, dann ist es am Ende, zumindest aus Sicht des Unternehmens, eine konsequente Schlussfolgerung, die Produktion hier einzustellen. Und wir müssen als Politik, als Gesellschaft uns überlegen: Müssen wir den Unternehmen helfen, mit den Gaspreisen besser klarzukommen? Oder müssen wir dies akzeptieren?
Am Ende wird es eine Mixtur bleiben und immer dieses Beispiel: Deutsch Fünf, Mathematik Drei. Wir müssen uns überlegen: Wo müssen wir jetzt viel besser werden, um möglicherweise andere Unternehmen, dass die hier gegründet werden oder anzuziehen? Was müssen wir tun, um für die besten Fach- und Führungskräfte, für die besten Forscherinnen und Forscher weltweit der attraktivste Standort zu sein? Was müssen wir tun, um der Standort für morgen zu sein?

Europa muss am schnellsten werden bei alternativen Energien

Fröhndrich: Hinter all dem liegt ja auch eine, finde ich, ganz grundsätzliche Frage. Die deutsche Wirtschaft ist eine Exportwirtschaft, die jahrelang mit Hilfe billiger Energie, über die wir nicht verfügen, die wir im Wesentlichen importieren müssen, ja aufbaut. Also, zwei Säulen, die wanken. Brauchen wir da insgesamt ein neues Modell für die deutsche Wirtschaft?
Wansleben: Also, sie sprechen gelassen aus, was bitterer Ernst ist. Ja, so ist das. Also, wir müssen uns angucken: Was können wir an dem, was wir an industriellem Kern haben, halten? Also, wenn Thyssenkrupp oder BASF oder Bayer Leverkusen, um mal die drei Firmen der Grundstoffindustrie zu nennen, weggehen, dann gehen natürlich ganz viele Wertschöpfungsketten, wie man das nennt, weg. Da hängt ganz viel dran. Das muss uns klar sein. Das heißt also, wir müssen eine Mixtur fahren aus zu kämpfen dafür, das dableibt. Wir werden akzeptieren müssen, dass wir teilweise verlieren. Und wir müssen verdammt Gas geben auf morgen. Das ist eine Frage, sagen wir mal zum Beispiel der Geschwindigkeit. Europa muss die Region werden, wo man Windräder am schnellsten aufstellen kann. Deutschland ist das zumindest bislang ganz und gar nicht. Wir müssen die Region sein, wo man am schnellsten Solarenergie hat.
Das heißt also, wir müssen jetzt, wenn Sie so wollen, die Rückschläge der Gegenwart als Investition in eine bessere Situation von morgen hineinbringen. Aber wir müssen uns natürlich auch fragen lassen - ich will mal das Beispiel setzen: Wir konzentrieren uns jetzt ausschließlich auf das Elektrofahrzeug. Das mag richtig sein. Aber ein muss uns klar sein: Mit dieser sehr einseitigen Entscheidung machen wir uns zusätzlich abhängig von China. Deswegen sind - bei solchen Themen ist die Forderung der Technologieoffenheit am Ende eine Forderung, wo es um viel mehr geht, nämlich um Freiraum für Innovation. Und da haben wir mit einem guten Bildungssystem, mit gut ausgebildeten Mitarbeitenden, mit guten Universitäten und Forschungsinstitutionen Pfunde, mit denen wir jetzt auch wuchern müssen und die wir sicherlich auch ausbauen müssen.

„Die Anzahl der Optimisten wird weniger“

Fröhndrich: Herr Wansleben, Sie fühlen ja den Unternehmen regelmäßig den Puls. Wie sind denn die Aussichten, wenn wir jetzt mal einen Strich drunter machen, auf die weitere Entwicklung, weitere wirtschaftliche Entwicklung?
Wansleben: Also, wir sind gerade dabei, Frau Fröhndrich, unsere Herbst-Konjunkturumfrage auszuwerten. Aber vielleicht folgendes Bild: Dieses Jahr ist zum großen Glück vom Ergebnis her bislang besser ausgefallen, als wir dies seit dem 24. Februar erwarten mussten. Also, wir sind mit richtig ordentlichem Rückenwind in dieses Jahr gestartet. Und dieser Rückenwind hat 0,8 Prozentpunkte gemacht. Das heißt, wenn wir bei 1 Prozent Wachstum landen, haben wir in diesem Jahr, im laufenden Jahr, 0,2 Prozentpunkte draufgepackt. Also, das ist jetzt noch keine Wachstumsdynamik. Das Zweite ist, was wir beobachten, die Anzahl der Optimisten wird weniger. Die Erwartungen sind hundsmiserabel schlecht. Also, die Unternehmen haben das Gefühl, das Schlimmste wartet noch auf uns. Es kann sein, dass diese ganz schlechten Erwartungen auf eine bessere Zukunft stoßen.
Das, was die jetzige Situation so sehr unterscheidet von bisherigen Konjunkturverläufen, ist, dass eben die mittlere Perspektive, wie entwickeln sich die Energiepreise, nicht die ist, wo man sagen kann: Okay, diesen Winter schaffen wir noch mal, vielleicht auch den Winter 2023/2024, dann sind wir über den Berg. Das wird so nicht sein. Und deswegen ist es so wahnsinnig wichtig, Europa muss sich konzentrieren. Jetzt geht es darum, die Krise zu bewältigen. Jetzt geht es darum, handelspolitisch offensiv zu sein. Da müssen vielleicht auch mal wichtige Themen, wie Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, zurückstecken, weil wir jetzt erst mal Handlungsfähigkeit wiedererlangen müssen, sprich neue Zulieferanten, neue Kunden brauchen und auch mehr Innovationskraft im Inland.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.