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Auslaufen vieler Corona-Maßnahmen
Lauterbach: Bürger sollten sich weiter individuell schützen

Deutschlandweit gebe es keine Gefährdung der Gesundheitsversorgung mehr, freiheitseinschränkende Corona-Maßnahmen seien rechtlich daher nur noch regional möglich, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im Dlf. Durch Impfungen oder Masketragen könne sich aber jeder individuell schützen.

Karl Lauterbach im Gespräch mit Christoph Heinemann |
Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister für Gesundheit
Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister für Gesundheit (picture alliance/dpa)
Künftig sollen nach den Plänen der Ampelkoalition deutschlandweit nur noch Basisregeln zum Schutz gegen das Coronavirus gelten. Die Neufassung des Infektionsschutzgesetz, die am 18.3.2022 im Bundestag abgestimmt wird, sieht nur noch wenige allgemeine Vorgaben zu Masken und Tests in Einrichtungen für gefährdete Gruppen vor. In Bussen und Bahnen soll weiterhin Maskenpflicht gelten können. Für regionale "Hotspots" kann es jedoch weitergehende Beschränkungen geben, wenn das Landesparlament für diese eine besonders kritische Corona-Lage feststellt. Aus vielen Bundesländern hatte es allerdings den Wunsch gegeben, mehr Maßnahmen für das ganze Bundesgebiet zu erhalten.
Strengere Beschlüsse seien für das ganze Bundesgebiet allerdings rechtlich nicht mehr möglich, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im Deutschlandfunk. Flächendeckende Einschränkungen der Freiheitsrechte seien nur dann möglich, wenn die Gesundheitsversorgung insgesamt bedroht sei – das sei aber nicht in ganz Deutschland der Fall. Daher könnten Maßnahmen nur dort ergriffen werden, wo das Gesundheitssystem lokal überlastet sei. Das sei der einzige Faktor - mit dem Gesundheitsschutz des Einzelnen ließen sich Maßnahmen auch nicht mehr begründen, weil sich jeder durch eine Impfung individuell schützen könne. Er empfehle aber allen Bürgern, das auch zu tun - etwa durch die Impfung und das Tragen einer Maske.

Lauterbach: Länder haben Maßnahmen zur Verfügung

Lauterbach appellierte an die Länder, das Infektionsschutzgesetz auch zu nutzen. Mecklenburg-Vorpommern zeige, wie viel damit möglich sei. Das Bundesland habe angekündigt, möglicherweise das gesamte Land zum Hotspot zu erklären. Das sei nachvollziehbar, denn dort müssten bereits Rehakliniken für die akute Gesundheitsversorgung genutzt werden. Das sei ein "unhaltbarer Zustand", auf den die Landesregierung reagieren könne.
Das Zurückfahren der Maßnahmen hängt nach Lauterbachs Einschätzung auch mit der Omikron-Variante zusammen, denn vorherige Varianten seien bis zu siebenmal gefährlicher gewesen. Für den Fall, dass wieder eine gefährlichere Variante das Infektionsgeschehen dominiere, müsste das Infektionsschutzgesetz voraussichtlich wieder geändert werden.

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Das Interview im Wortlaut:

Christoph Heinemann: Herr Minister, mit Markus Söder gefragt: Corona steigt an, die Politik steigt aus. Wie passt das zusammen?
Karl Lauterbach: Das ist erst mal nur eine Behauptung. Das ist natürlich nicht der Fall. Worum es hier geht ist: Die Länder müssen demnächst die Regeln über ihre Landtage beschließen, also nicht mehr die Ministerpräsidenten. Ich sage es mal einfach: In Bayern würde das dann nicht mehr Herr Söder machen, sondern der Landtag. Dass damit viele Ministerpräsidenten ein Problem haben, weil es dann erstens nicht mehr durch sie gemacht wird und zum zweiten etwas beschwerlicher ist, das ist ganz klar. Aber dann sind die Beschlüsse auch rechtssicherer und wir mussten solche Beschlüsse machen, die lokal gelten. Wir konnten sie nicht mehr für ganz Deutschland machen.

Lauterbach: Deutschlandweit keine Überlastung durch Omikron

Heinemann: Was soll das?
Lauterbach: Wenn wir es für ganz Deutschland gemacht hätten – die Beschlüsse sind ja immer nur geltend, wenn wir eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems haben –, dann hätten wir keine Beschlüsse mehr hinbekommen, weil in ganz Deutschland die Omikron-Welle nicht so schwer verläuft. Die Menschen müssen nicht so oft auf die Intensivstation, erkranken nicht so schwer. Dann hätten wir deutschlandweit keine Überlastung gehabt und dann hätte es auch keine Maßnahmen mehr gegeben. Maßnahmen können nur ergriffen werden, wo lokal die Gesundheitsversorgung überlastet sein könnte, wo das droht und wo die Inzidenz steigt. Eine Regel für alle hätte bedeutet, wir haben gar keine Regel.

"Wir können die Maßnahmen nicht begründen, um den Einzelnen zu schützen"

Heinemann: Herr Lauterbach, die Inzidenz ist heute 1706. Das ist absoluter Rekord. Warum gilt jetzt ein Basisschutz und nicht mehr der Premiumschutz?
Lauterbach: Weil der Premiumschutz nur geht, wo die Gesundheitsversorgung gefährdet ist, konkret gefährdet ist. Anders ausgedrückt: Wo es so ist, dass entweder die Intensivstationen überlaufen, oder zumindest die Krankenhäuser in ihrer Versorgung bedroht sind. Wir können die Maßnahmen nicht begründen, um den Einzelnen zu schützen, weil der Einzelne kann sich durch eine Impfung mittlerweile schützen. Somit hat sich da die Lage geändert. Jetzt geht es nur noch darum, ist das Gesundheitssystem gefährdet oder nicht.
Das ist übrigens eine rechtliche Vorgabe. Das ist noch nicht mal eine politische Vorgabe. Es ist rechtlich nicht darstellbar, dass man sagt, okay, jetzt kommen massive Einschränkungen der Freiheitsrechte, obwohl das Gesundheitssystem nicht überfordert ist. Das geht einfach nicht mehr. Der Einzelne kann sich schützen, kann sich schützen lassen durch eine Impfung oder durch Masken und Ähnliches.

Lauterbach: Vorherige Varianten waren etwa siebenmal so gefährlich

Heinemann: Nur wenn die Rücknahme vieler Schutzmaßnahmen jetzt gerechtfertigt ist, dann heißt das doch im Umkehrschluss, dass die bisherigen Regelungen übertrieben waren. Warum hat die Bundesregierung die Menschen gegängelt?
Lauterbach: Bisher war es ja so, dass die Varianten, die wir gehabt haben, sehr viel gefährlicher gewesen sind, etwa siebenmal so gefährlich, was zum Beispiel die Krankenhauseinweisung auf die Intensivstation betrifft. Von daher waren die Regeln da angemessen. Jetzt haben wir im Moment eine relativ harmlose Variante, die immer noch zu viele Menschen tötet.
Wenn eine andere Variante zurückkäme und wir hätten beispielsweise dann wieder hohe Belastungen und viel mehr Tote, dann würden natürlich andere Regeln greifen. Das ist auch im neu vorgelegten Infektionsschutzgesetz vorgesehen. Und dann würden wir wahrscheinlich auch sogar das Gesetz wieder ändern müssen.

Lauterbach: Ohne Impfpflicht kein Ende in Sicht

Heinemann: Herr Lauterbach, welches Signal senden Sie an Impfskeptiker, wenn viele Schutzmaßnahmen jetzt aufgehoben werden?
Lauterbach: Ich sende das Signal, dass wir, ohne dass wir die Impfpflicht durchsetzen können, aus dieser Endlosschleife nicht herauskommen. Wir werden immer die gleiche Diskussion haben: Müssen wir schließen, können wir schließen, dürfen wir schon schließen, gelten Basismaßnahmen für wen, müssen Kinder wieder leiden? Wir werden immer wieder diese Diskussionen haben. Wir werden ein neues Infektionsschutzgesetz möglicherweise im Herbst bekommen, wenn andere Varianten da sind, möglicherweise schon im Sommer, wenn andere Varianten kommen, immer wieder die gleiche Diskussion.

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Heinemann: Herr Lauterbach, Entschuldigung! Nun könnten doch viele Leute sagen, wenn jetzt ein Basisschutz reicht, dann brauche ich mich gar nicht mehr impfen zu lassen.
Lauterbach: Wenn jetzt die Lage die bliebe, dass es immer die Omikron-Variante wäre, die wir jetzt haben, selbst dann haben wir ja übrigens Einschränkungen, denn wir werden ja jetzt Hotspots bekommen. Ich danke übrigens all den Ländern, die nicht betonen, was alles nicht geht, sondern die die neuen Regeln nutzen werden.
Heinemann: Gab es denn welche?
Lauterbach: Zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern hat angekündigt, dass man darüber nachdenkt, das gesamte Land zum Hotspot zu erklären, weil dort ist die Situation hotspotähnlich. Ich bin auch sicher, dass das andere Länder für Regionen machen. Das neue Gesetz nutzen und nicht so beklagen, was alles nicht geht, wäre hier das Gebot der Stunde. Aber es ist halt so: Wenn wir die Impfpflicht nicht durchgesetzt bekommen, dann werden wir immer neue Infektionsgesetze benötigen. Wir werden dann immer auf die Varianten reagieren müssen. Die Grenzwerte müssen angepasst werden. Wir können die Pandemie selbst beenden, haben aber bisher nicht die Kraft dazu. Ich hoffe, dass wir im Bundestag jetzt eine allgemeine Impfpflicht beschließen werden.

Lauterbach: Harte Maßnahmen in Mecklenburg-Vorpommern sind richtig

Heinemann: Ist das nicht ein etwas merkwürdiges Gesetz, wenn Sie die Länder auffordern, im Bedarfsfall das ganze Land zum Hotspot zu erklären?
Lauterbach: Natürlich nur da, wo die Lage danach ist. Wenn man sich die Situation in Mecklenburg-Vorpommern anschaut, da müssen schon die Rehakliniken genutzt werden, um die Akutversorgung zu machen. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Und wenn dann die Landesregierung darauf reagiert, dann ist das genau, was das Gesetz vorsieht und ermöglicht.
Anderswo hat man viel niedrigere Fallzahlen. Wenn es jetzt ein deutschlandweites Gesetz wäre, die Regel gilt für ganz Deutschland, dann könnte Mecklenburg-Vorpommern noch nicht reagieren, weil die Situation beispielsweise in Nordrhein-Westfalen in vielen Teilen des Landes noch anders ist, und das ist der Grund, weshalb es lokal angepasst sein muss.
Heinemann: Was ist künftig ein Hotspot?
Lauterbach: Ein Hotspot ist eine Region, wo die Inzidenz steigt oder sehr hoch ist und gleichzeitig die Krankenhausversorgung gefährdet ist.
Heinemann: Wie stellen Sie sich das denn vor, wenn jetzt für jeden einzelnen Landkreis und jede Stadt künftig die Hotspot-Lage durch einen Landtagsbeschluss festgestellt werden muss?
Lauterbach: Dann wird es nicht so sein, wie es oft dargestellt wird, dass der Landtag für jeden Hotspot zusammenkommt, sondern man kennt ja die Hotspots und dann kommt der Landtag zusammen und beschließt in einer Sitzung die Regeln für alle Hotspots.
Heinemann: Urbi et orbi sozusagen?
Lauterbach: Es wird so gemacht, dass die Regeln dort gelten, wo Hotspots sind. Noch mal: Wo keine Hotspots sind, da kann man die Freiheitsbeschränkungen nicht begründen. Man kann jetzt nicht sagen – ich mache es mal simpel –, wenn jetzt in Köln die Lage prekär ist, sehr hohe Fallzahlen, die Krankenhausversorgung ist nicht mehr so gut, aber beispielsweise die Lage wäre im Rhein-Sieg-Kreis schon eine ganz andere, dann kann man im Rhein-Sieg-Kreis leider rechtlich nicht die Freiheitsbeschränkungen begründen, nur weil in Köln die Fallzahl so hoch ist.
Heinemann: Nun kritisieren die Länder, dass die Schwellenwerte fehlen, die als Kriterium für eine rasche Reaktion bei steigenden Inzidenz-Zahlen gelten können. Wieso sind diese Werte im Gesetz nicht festgelegt?
Lauterbach: Weil die Werte keinen Sinn machen würden. Die Werte machen ja nur Sinn pro Variante. Ich bräuchte schon einen anderen Schwellenwert für Omikron als für Delta. Um ein Beispiel zu nennen: Der Schwellenwert bei der Inzidenz wäre 200. Das ist ein Wert, der für die Delta-Variante viel zu hoch ist und der für die Omikron-Variante viel zu niedrig ist. Somit hätte ich dann ein Gesetz, wo für jede Variante oder sogar Subvariante ein neuer Schwellenwert gelten würde. Das geht natürlich nicht.
Daher muss man das den Gerichten gegenüber begründen. Die Gerichte ziehen aber dann mit. Wir haben nur ganz wenige Gerichte, die bei solchen Dingen Probleme machen. Die Gerichte kennen die Situation, dass man eine Gefahr konkret belegen muss, aber dass man damit nicht mit starren Schwellenwertet arbeitet, die schon im Gesetz stehen.
"Ich appelliere an die Länder, das Gesetz zu nutzen"
Heinemann: Und trotzdem, Herr Lauterbach, massive Kritik aus nahezu allen Bundesländern, unabhängig von der Farbe. Wir haben eben gehört, auch Frau Giffey, auch Frau Dreyer, auch Herr Weil. Warum hören Sie nicht auf die Regierungschefinnen und Chefs?
Lauterbach: Die Kritik muss ja berechtigt sein und es gibt Kritik, über die wir auch im Vorfeld nachgedacht haben. Ich schaue nach vorne. Wir hätten ja ab Montag gar keine Rechtsgrundlage für Einschränkungen mehr gehabt. Das heißt, hier hat die Ampel sich geeinigt auf ein Gesetz, das es zumindest möglich macht, dass in den Regionen, wo die Fallzahlen sehr hoch sind, sofort reagiert werden kann. Es gibt sogar eine Übergangsregel bis zum 2.4. Das haben wir geschafft. Somit ziehen wir uns nicht zurück, sondern ermöglichen das, und ich appelliere an die Länder, das Gesetz zu nutzen. Ich glaube, dass das Gesetz rechtssicher ist. Der Bundesjustizminister hat hier mit mir verhandelt und bürgt quasi für die Rechtssicherheit des Gesetzes. Daher glaube ich, das wird funktionieren.
Heinemann: Als die Maskenpflicht in Schulen vor einigen Monaten in einzelnen Landesteilen ausgesetzt wurde, da haben die jungen Menschen die Maske freiwillig getragen. Setzen Sie darauf, dass auch künftig Schülerinnen und Schüler verantwortungsbewusster handeln als Politikerinnen und Politiker?
Lauterbach: Das würde unterstellen, dass Politiker und Politikerinnen nicht verantwortungsbewusst handeln, und das streite ich einfach ab. Es gab im politischen Kanon hier unterschiedliche Meinungen, unterschiedliche Positionen. Dominierend war die Position, dass man die Masken in den Schulen nicht mehr benötigt. Auf der anderen Seite kann man das unterschiedlich sehen und wenn Kinder die Maske tragen oder Eltern ihre Kinder auffordern, die Maske zu tragen, begrüße ich das natürlich. Ich rate sowieso jedem zur Vorsicht. Das ist ganz klar. Wir haben derzeit fast 300 Tote pro Tag, das ist zu viel. Wir haben eine viel zu hohe Inzidenz. Viele, die erkranken, werden auch Long Covid bekommen. Somit appelliere ich an die Vorsicht eines jeden einzelnen.
Aber noch einmal: Härtere Regeln hätten zur Grundlage gehabt, dass wir deutschlandweit hätten belegen können, dass die Krankenhausversorgung überfordert ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.