Martin Schirdewan, Co-Vorsitzender der Linkspartei und Co-Vorsitzender der europäischen Linksfraktion im Europaparlament, fordert verstärkte diplomatische Anstrengungen, um den "fürchterlichen Angriffskrieg" in der Ukraine zu beenden. Die Linke lehnt Waffenlieferungen ab. Schirdewan räumte im Interview der Woche des Deutschlandfunks aber ein, dass die Waffenlieferungen bei der Selbstverteidigung der Ukraine erfolgreich seien. Dennoch gelte es, neben der Kriegslogik auch wieder eine Logik des Friedens zu etablieren.
Diplomatische Lösungen für Beendigung des Ukraine-Krieges ausloten
Auch wenn die Kriegsparteien derzeit nicht verhandlungsbereit seien, müsse in Deutschland und auf europäischer Ebene darüber nachgedacht werden, welche Spielräume es für Verhandlungen und Diplomatie gebe. Schirdewan verwies auf die Ankündigung des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva, eine diplomatische Initiative unter Einbeziehung Chinas zu starten. Dass Lulas Idee, den man kürzlich noch für seinen Wahlsieg über Bolsonaro gefeiert habe, nun „weggewischt“ und verunglimpft werde, verunmögliche den Weg zur Diplomatie ein Stück weit.
Automatischer Inflationsausgleich bei Sozialleistungen und Mindestlohn
Im Hinblick auf die wirtschaftlichen Probleme und Sorgen vieler Menschen in Deutschland forderte Schirdewan die Bundesregierung dazu auf, die Folgen der Inflation stärker zu bekämpfen. In der Bevölkerung herrsche eine enorme Unzufriedenheit über das sozialpolitische Profil der Ampel-Regierung, sagte der 47-Jährige.
Konkret schlägt Schirdewan vor, Sozialleistungen, den Bafög-Satz sowie den Mindestlohn automatisch an die Inflation anzupassen. Die steigenden Preise müssten sich wieder in geringen Einkommen und Sozialhilfe-Leistungen abbilden. Einen solchen automatischen Inflationsausgleich gebe es auch in anderen europäischen Ländern wie Belgien, merkte der EU-Parlamentarier an.
Unterstützung für Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung
Zudem betonte Schirdewan, dass er die Forderung der Berliner Tafel und seiner Partei-Genosssin und Berliner Sozialsenatorin Katja Kipping nach einem Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung unterstütze. Das Gesetz sähe vor, dass Supermarkt-Filialen ab eine Größe von 400 Quadratmetern Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können, an karitative Einrichtungen abgeben müssen. Ein solches Gesetz existiert unter anderem bereits in Frankreich.
Das Interview in voller Länge:
Johannes Kuhn: Herr Schirdewan, lassen Sie uns über die Politik Ihrer Partei reden. 2023 hat wieder krisenhafte Züge, ist anzunehmen. Wirtschaftlich zumindest eine Stagnation. Wahrscheinlich weiter hohe Inflation. Sie haben ja versucht, in diesem Zusammenhang zu Straßenprotesten im Herbst zu mobilisieren. Stichwort „heißer Herbst“. Die Beteiligung war dann eher lauwarm, würde ich sagen. Warum ist es nicht so gelungen, die Menschen zu mobilisieren, wie Sie sich erhofft hatten?
Martin Schirdewan: Also, wenn wir auf den „heißen Herbst“ zurückgucken und auch auf den Winter, in dem ja tatsächlich nicht nur eine soziale Kälte droht und für viele ja tatsächlich auch sich irgendwie abspielt, sondern auch eine enorme Problematik darin besteht, dass die Leute einfach nicht wissen – und das ist ja de facto so in diesem Land – dass sie einfach nicht wissen, wie sie ihre Rechnungen zahlen sollen, also, weite Teile der Gesellschaft, da war es natürlich völlig richtig, dass wir als Linke mobilisiert haben - auf die Straßen, politisch, aber auch in der Öffentlichkeit. Und ich komme da zu einer etwas differenzierteren Einschätzung der Erfolge, die wir im Herbst erzielt haben.
Also, es ist richtig, dass es weniger Massenproteste gab, als auch ich mir erhofft habe an dieser Stelle. Das hat was mit der allgemeinen Mobilisierungsfähigkeit der Gesellschaft zu tun. Das hat was damit zu tun, wie die Bundesregierung zusammengesetzt ist. Das hat was damit zu tun auch, wie die Gewerkschaften zum Beispiel agiert haben, die ja eher verhalten auch mobilisiert haben. Und die sind einfach ein wichtiger Mobilisationsfaktor. Aber auf der anderen Seite ist es uns gelungen, politischen Druck auszuüben auf die Bundesregierung. Das wird auch von der Bundesregierung selbst zugestanden.
Wir haben politische Entscheidungen mitbeeinflusst, wie die Gaspreisbremse, die Strompreisbremse, die dazu beitragen sollen, dass die Leute durch diese Krise kommen. Wir haben die Partei nach innen mobilisiert. Wir hatten unglaublich viele Veranstaltungen. Und gleichzeitig haben wir es auch geschafft, nicht der extremen Rechten die Straße zu überlassen. Und das war für die Demokratie in Deutschland enorm wichtig, dass die Linke diese Funktion ausgeführt hat.
Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung sei groß
Kuhn: Aber könnte es nicht einfach auch daran liegen, dass die Ampelregierung sozialer ist, als Sie das darstellen? Sie haben es gesagt: Strompreisbremse, Gaspreisbremse. Bei Unternehmen sogar mit einer Arbeitsplatzerhaltungspflicht verbunden, was ja sicherlich auch in Ihrem Sinne ist. Höherer Mindestlohn. Bürgergeld mit 50 Euro Erhöhung der Grundsicherung. Kindersofortzuschlag. Es gibt sogar eine Übergewinnsteuer, die Sie ja auch gefordert haben. Da sind ja einige Dinge davon dabei, die die Linke gefordert hat.
Schirdewan: Na ja, ich sage an der Stelle ja nicht, dass alles schlecht ist, was sie machen. Aber wenn man sich die Umfragen ansieht, dann ist doch die Unzufriedenheit in der Bevölkerung enorm, was gerade das sozialpolitische Profil dieser Regierung betrifft. Die SPD, so wird das eingeschätzt, also die Kanzlerpartei an dieser Stelle, von ihren eigenen Anhängerinnen und Anhängern sagt, dass die Politik, die jetzt umgesetzt wird, weniger sozial ist als die Politik, die dieselbe Partei, also die SPD vor ungefähr einem Jahr durchgesetzt hat. Und das, nachdem der heiße Herbst stattgefunden hat, nachdem diese Inflationskrise, Lebenshaltungskostenkrise, also vor allem im Bereich Energie und Nahrungsmittel, passiert ist. Und das hat natürlich was mit der Lebensrealität der Menschen zu tun.
Ich habe neulich eine Frau getroffen vom Jobcenter Neukölln, also eines wirklich der größten Jobcenter in ganz Deutschland, und habe mit der geredet. Hier im Berliner Wahlkampf war das. Und da meinte sie: Ja, wissen Sie, Herr Schirdewan, von den 53 Euro mehr Bürgergeld, also der Übergang von Hartz IV zum Bürgergeld, Erhöhung um 53 Euro, da kann ich gerade mal meine zusätzlichen Stromkosten zahlen, aber alles andere kann ich mir eben nicht leisten. Und die Frau war richtig wütend. Und natürlich sind die Entlastungsmaßnahmen, die Sie genannt haben, ein Schritt in die richtige Richtung - aber es reicht tatsächlich nicht aus. Die Inflation ist immer noch hoch und die Leute ächzen einfach unter der realen Situation.
Automatischer Inflationsausgleich statt Einmalzahlungen
Kuhn: Wo würden Sie nachsteuern bei der Inflation?
Schirdewan: Ich würde vor allem nachsteuern mit direkten Hilfen, und zwar für diejenigen, die es betrifft. Und nicht nur Einmalzahlung an dieser Stelle. Das erscheint mir ja tatsächlich viel zu wenig. 300 Euro für Rentnerinnen und Rentner, 200 Euro für Studierende. Die Wohngeldanträge überlasten die Ämter, wenn sie überhaupt schon gestellt sind. Aber ich würde da nachsteuern, dass wir denjenigen, die es wirklich brauchen, garantieren, dass die zusätzlichen Inflationskosten gedeckt werden, und zwar durch einen automatischen Inflationsausgleich. So, wie es ihn auch in anderen europäischen Ländern gibt, zum Beispiel in Belgien.
Und das heißt, dass mir vorschwebt, dass für Menschen, die Mindestlohn beziehen, also für Mindestlohn arbeiten, die BAföG empfangen und die vor allem aber auch Sozialleistungen empfangen, es einen automatischen Inflationsausgleich gibt, damit die steigenden Preise entsprechend sich auch in deren Einkommen und Sozialhilfezuwendungen wieder abbilden, damit die einfach ihren Lebensalltag wirklich gestalten können.
Kuhn: Damit würden Sie den Mindestlohn raus aus der Kommission, aber auch raus aus dem parlamentarischen Raum de facto nehmen, richtig?
Schirdewan: Na ja, der Mindestlohn wird ja tatsächlich gesetzlich festgelegt. Das ist so in Deutschland. Das ist auch in anderen Ländern so. Aber es sollte doch nicht unmöglich sein, auch an dieser Stelle anderen Ländern zu folgen, für einen automatischen Inflationsausgleich zu sorgen. Der kann ja weiterhin gesetzlich verhandelt werden, die generelle Höhe. Aber die Inflation trägt doch dazu bei, dass gerade diejenigen mit niedrigem Einkommen de facto nicht mehr wissen, wie sie wirklich ihre alltäglichen Dinge und Bedürfnisse decken sollen. Also, ich meine, wir reden einfach über Stromrechnungen. Wir reden über Gasrechnungen. Wir reden über Klamotten, die die Leute sich kaufen müssen. Wir reden über Lebensmittel an dieser Stelle.
Und das Phänomen, dass wir Ernährungsarmut in diesem Land haben, wo zwei Millionen Menschen im Monat an die Tafeln gehen müssen, um sich dort mit Lebensmitteln zu versorgen, das ist doch unerträglich. Und ich finde, genau an solchen Stellen muss man nachsteuern. Genau an solchen Stellen müssen diejenigen, die wirklich Probleme haben, durch den Alltag zu kommen, auch durch den Staat unterstützt werden. Und da finde ich an dieser Stelle eben wirklich, durch einen automatischen Inflationsausgleich, der eben die Menschen, die Sozialhilfezuwendungen bekommen und/oder BAföG und/oder dann entsprechend Mindestlohn, dass da nachgesteuert wird.
Große Ketten sollten Lebensmittel spenden statt wegwerfen
Kuhn: Sie haben die Tafeln erwähnt. Die kommen jetzt mit eigenen Vorschlägen. Die Berliner Tafel möchte, dass Supermärkte ab einer gewissen Größe Lebensmittel nicht mehr wegwerfen dürfen. Ihre Genossin, Ihre Kollegin Katja Kipping, die Sozialsenatorin ist, unterstützt das Ganze. Warum ist das nötig? Das System funktioniert doch eigentlich.
Schirdewan: Nein, das System funktioniert an dieser Stelle tatsächlich gar nicht. Und ich unterstütze den Vorschlag und den Vorstoß von Katja Kipping da sehr an dieser Stelle. Also, elf Millionen Tonnen - elf Millionen Tonnen Lebensmittel werden im Jahr in Deutschland weggeworfen, in der gesamten EU 20 Prozent aller Lebensmittel. Davon trägt natürlich der Handel, also der Großhandel, der ja in Deutschland oligopolorganisiert ist - viele große Lebensmittelhandelsketten kontrollieren den gesamten Markt - eine ziemlich große Verantwortung; 800.000 Tonnen allein an den großen Handelsketten.
Und wenn man sich in anderen Ländern umsieht, auch in Europa - Frankreich, Tschechien, Italien, um die drei Beispiele zu nennen - dann ist das so, dass es Lebensmittelverschwendungsgesetze gibt, und zwar gegen Lebensmittelverschwendung. Und die großen Konzerne, Lebensmittelketten, die dann Lebensmittel wegwerfen, weil die einfach nicht verkauft werden konnten in einem bestimmten Zeitraum und dann in Größenordnungen wegwerfen, die müssen entweder eine massive Strafe zahlen, aber durch diese Lebensmittel-, Antilebensmittelverschwendungsgesetze sind sie dazu aufgefordert, diese Lebensmittel real an Bedürftige zu spenden, also in der Regel an Tafeln, die es auch in diesen Ländern gibt, die da vielleicht dann anders heißen, aber so die Lebensmittel zu spenden, dass die Lebensmittel wirklich bei den Bedürftigen ankommen.
„Wir sind real mit Ernährungsarmut in diesem Land konfrontiert“
Kuhn: In Frankreich, muss man sagen, war die Wegwerfquote doppelt so hoch wie in Deutschland. Und ich würde noch mal ordnungspolitisch fragen. Es gibt ein System, das funktioniert. Die Supermärkte machen da mit. Die wollen das teilweise. Wieso muss jetzt der Staat sich schon wieder hinstellen und das gesetzlich regeln? Es gäbe ja auch andere Möglichkeiten, zum Beispiel das Mindesthaltbarkeitsdatum, das ja dafür sorgt, dass viele Lebensmittel weggeworfen werden, die eigentlich noch gut sind, nur, weil eben dieses Datum draufsteht. Da könnte man zum Beispiel anpacken und hätte nicht so eine Formalisierung eines Systems, wo ja alle bereit sind mitzumachen.
Schirdewan: Na ja, aber … also, Sie haben recht. Ich finde, das Mindesthaltbarkeitsdatum muss tatsächlich ersetzt und ergänzt werden durch ein Verbrauchsdatum, ein reales, dass nicht so viele Lebensmittel dann orientiert an dem Mindesthaltbarkeitsdatum weggeworfen werden, sondern dem realen Verbrauch dann auch noch zugeführt werden können. Natürlich kann man über andere Maßnahmen reden. Aber wir reden darüber, dass wir real mit Ernährungsarmut in diesem Land konfrontiert sind. Und ich möchte Ihnen ein Beispiel geben.
Ich war in meinem Wahlkreis - da hat eine Parteigliederung meiner Partei ein Restaurant der Herzen ins Leben gerufen. Und ich war da und habe da gekocht für Menschen aus der Stadt. Habe die auch bedient. Das war alles schön eingedeckt. Da saßen die Menschen dann also mit Servietten usw., usf. Menschen, die sich das sonst nicht leisten können. Wir haben 110 Essen in einer kleinen Stadt ausgegeben. 110 Menschen sind da hingekommen, damit sie endlich mal wieder ein warmes Essen kriegen und damit sie endlich mal wieder in einem sozialen Raum, wo ihnen Menschen zuhören, miteinander Zeit verbringen können. Wir haben ein massives Problem. Und ich finde schon, dass der Staat da nachsteuern muss. Wir können es nicht einfach dem Goodwill der großen Lebensmittelketten überlassen.
"Die Superreichen müssen ihre Verantwortung übernehmen"
Kuhn: Das bringt mich zu der Frage: Wie hält es die Linke mit dem Staat grundsätzlich? In Ihrem Wirtschaftspapier, das Sie mit Ihrer Co-Vorsitzenden Janine Wissler verfasst haben, heißt es, Sie wollen die „Systemfrage“ stellen. Sie sagen, auch: mehr Sozialismus wagen im Jahr 2023. Das klingt jetzt nicht so, als wäre da besonders viel Platz für Privatwirtschaft, Marktwirtschaft etc. Wo positioniert sich die Linke da?
Schirdewan: Na ja, ich denke schon, dass wir angesichts des massiven Marktversagens, das wir ja alle erleben, also im Bereich der Energiekrise, im Bereich der Nahrungsmittelkrise, im Bereich zum Beispiel aber auch des Klimawandels und des ausbleibenden Klimaschutzes, doch zur Kenntnis nehmen müssen, dass der Markt eben nicht alle Dinge regelt. Also, wir haben es im Grunde genommen mit einem ziemlich massiven Marktversagen zu tun. Und das hat Ursachen. Das hat meiner Ansicht nach vor allem damit zu tun, dass der Staat weite Bereiche seiner ursprünglichen Verantwortung liberalisiert hat, damit privaten Händen, also dem Markt überantwortet hat im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge. Und ich finde, wir müssen da nachsteuern.
Das heißt, wir müssen erst mal umverteilen. Die Ungleichheit in der Gesellschaft war seit Kaiser Wilhelms Zeit nicht mehr so groß. Die Zahlen sind abenteuerlich. Die fünf reichsten Familien in Deutschland verfügen über genauso viel Vermögen wie die gesamte untere Hälfte in Deutschland. Also, mehr als 40 Millionen Menschen haben so viel Vermögen wie fünf Familien. Da muss man ran. Die großen Konzerne, die Superreichen müssen ihre Verantwortung übernehmen. Wir müssen massiv zurückverteilen, um überhaupt erst mal wieder ein massives Investitionsprogramm in eine gelingende Zukunft zu ermöglichen.
Es geht darum, dass wir wieder anfangen können, die Gesellschaft zu befähigen, in Zukunft zu investieren und in öffentliche Daseinsvorsorge. Und da stellen sich natürlich schon Fragen, inwieweit der Staat auch in Privateigentum mit hineinregulieren muss. Ich finde, gerade im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge ist das ganz eindeutig. Das gehört in die öffentliche Hand, also, da muss einfach nachgesteuert werden.
Inflation Reduction Act in den USA – ein massiver staatlicher Eingriff
Kuhn: Aber ist der Staat wirklich … muss er wirklich jedes Glasfaserkabel verlegen? Muss er wirklich jedes Windrad bauen? Wenn wir es auf der praktischen Ebene angucken, Erneuerbare Energien Gesetz, in den Nullerjahren: das waren Rahmenbedingungen, die dazu geführt haben, dass die Privatwirtschaft ausgebaut haben. Es war nicht so, dass der Staat Bauarbeiter losgeschickt hat, um Windräder zu bauen oder Solarpanelen anzubringen. Also, es gibt auch andere Methoden, die sehr weit von dem entfernt sind, was Sie jetzt umschreiben.
Schirdewan: Finde ich tatsächlich nicht, denn wenn man sich ansieht, was einerseits in den Vereinigten Staaten passiert mit dem Inflation Reduction Act, den die Regierung Biden angekündigt hat, da geht es um massive staatliche Subventionen, Investitionen im Rahmen von 370 Milliarden Dollar in den Bereich Zukunftstechnologien, in den Bereich Erneuerbare Energien. Das ist ein massives Investitionsprogramm, weil Biden darauf setzt, dass die großen Konzerne über eine Konzernbesteuerung und durch das Schließen von Schlupflöchern dazu beitragen müssen, das Programm zu finanzieren. In Deutschland, in Europa wird es letztendlich wieder der einfache Mensch sein, also die einfachen Haushalte, weil die Steuerzahler*innen dafür aufkommen müssen. Und von daher sehe ich da überhaupt gar keinen Widerspruch, dass natürlich auch privates Engagement, auch privates wirtschaftliches Engagement staatlich flankiert wird.
Die Frage ist nur: Wie finanziert man es? Und da, muss ich sagen, fällt Europa sowohl hinter die Vereinigten Staaten als auch hinter natürlich andere Wettbewerber wie China zurück an dieser Stelle. Und wir wären wirklich gut daran beraten, den Gedanken der Umverteilung da wieder aufzugreifen. Denn, wenn sogar Joe Biden das macht, dann, finde ich, können wir das in Europa doch schon längst. Und das ist natürlich eine staatliche Intervention, die auf Umverteilung und Investition setzt, die ich für komplett richtig halte.
Weg hin zu einer Friedenslogik wieder öffnen
Kuhn: Herr Schirdewan, lassen Sie uns über den Ukraine-Krieg sprechen. Die Linke lehnt Waffenlieferungen ab und fordert eine Verhandlungslösung. Wie soll das funktionieren, wenn im Moment es von keiner Seite Signale gibt, überhaupt verhandeln zu wollen?
Schirdewan: Also, Verhandlungen sind in der Regel der Weg zur Beendigung eines Krieges in der jüngeren Vergangenheit. Und wenn wir das zum Maßstab nehmen, auch des Umganges mit diesem fürchterlichen Angriffskrieg, mit diesem elenden Gemetzel, was in der Ukraine stattfindet, was mich wirklich zutiefst erschüttert. Das Leiden der Zivilbevölkerung ist für mich völlig inakzeptabel. Was Russland da veranstaltet, halte ich wirklich für nahezu unerträglich an dieser Stelle. Wenn man sich das ansieht, vermisse ich in all dem in der politischen Debatte in Deutschland, aber auch auf europäischer Ebene, dass überhaupt darüber nachgedacht wird, und zwar wirklich darüber nachgedacht wird, welche Spielräume es für Verhandlungen und Diplomatie gibt.
Und wenn dann jemand wir Brasiliens Präsident Lula, der vor Kurzem noch gefeiert wurde, weltweit, für seinen Wahlsieg über Bolsonaro, mit einem entsprechenden Vorschlag auftritt und im Grunde genommen das fordert, was auch wir als Linke fordern, nämlich dass man eine internationale, gemeinsame diplomatische Offensive starten muss, die auch solche Länder wie China miteinbezieht, weil China eben der Player ist, der wirklich Druck auf Russland ausüben kann, politisch und wirtschaftlich, dann wird das sozusagen weggewischt. Dann wird das verunglimpft. Und damit wird der Weg zur Diplomatie natürlich auch zum Teil verunmöglicht.
Und, ja, Sie haben auch recht, wenn Sie sagen, dass es im Moment nicht so aussieht, als würde Russland verhandlungsbereit sein, als würde Putin verhandlungsbereit sein oder als wäre die Ukraine derzeit verhandlungsbereit, weil dort eine Logik des Krieges herrscht, wo beide versuchen, natürlich sich in eine Position zu bringen, die eben letztendlich am meisten ermöglicht. Aber ich finde, gerade dieser Krieg, gerade dieser Krieg und gerade das Leiden und Sterben in der Ukraine muss uns Auftrag sein, darüber nachzudenken, wie man da so schnell wie möglich rauskommt. Und das kann eben nicht durch die Verlängerung, Perpetuierung quasi dieses Krieges funktionieren, sondern das kann nur funktionieren, indem man jetzt anfängt auszuloten, welche Möglichkeiten es wirklich gibt für diplomatische Lösungen.
Kuhn: Jetzt ließe sich aber natürlich sagen: Die Linke wollte keine Waffen liefern, aber Waffenlieferungen sind überhaupt der Grund, warum die Ukraine die Option auf eine adäquate Verhandlungslösung hat, denn ohne Waffen aus dem Ausland wäre das Land womöglich jetzt schon an Russland gefallen.
Schirdewan: Das ist natürlich ein Dilemma, in dem wir uns alle bewegen, denke ich, im Umgang mit diesem Krieg. Putin hat der Weltöffentlichkeit ins Gesicht gelogen. Er hat gesagt, er wird die Ukraine nicht überfallen. Er hat sie überfallen. Und zu unser aller Überraschung war die russische Armee nicht so stark, wie von den Expertinnen und Experten eingeschätzt, und die ukrainische Armee nicht so schwach, wie von den Expertinnen und Experten eingeschätzt. Und die Ukraine hat die erste große Offensive auf Kiew zurückschlagen können mit den Mitteln, die ihr damals militärisch - also zu Beginn des Krieges heißt „damals“ an dieser Stelle - zur Verfügung gestanden haben. Und ich bin gern bereit, natürlich auch zuzugestehen, dass die Waffenlieferungen in der Logik des Krieges eine Rolle spielen bei der Verteidigung der Ukraine, selbstverständlich. Denn in einem Krieg sprechen Waffen, logischerweise.
Und trotzdem bin ich der Ansicht, dass es darum geht, neben dieser Logik des Krieges eine Logik des Friedens wieder zu etablieren. Und dafür muss die internationale Völkergemeinschaft sich endlich zusammenraufen und muss endlich diese Schritte gehen. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Emmanuel Macron hat angekündigt, nach China zu fahren, um sich dort mit dem Präsidenten Xi zu treffen, um eben über entsprechende gemeinsame Initiativen auch zu reden. So, ich weiß nicht genau, er hat ja eigentlich gesagt, er will im Januar fahren, wann jetzt das Treffen terminiert ist. Aber er wird eben dann demnächst da hin. Das hat er angekündigt. Und ich finde, das ist eine richtige Initiative. Und ich finde ehrlich gesagt, dass Olaf Scholz das unterstützen sollte. Und ich finde auch, dass Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin das unterstützen sollte.
Und dass António Guterres als der UN-Generalsekretär für Frieden wirbt, sollte uns doch Anreiz sein, auch die Vereinten Nationen mitzubedenken als einen Vermittler in diesem Krieg. Und ich verweise auf die Jugoslawienkriege. Sie sind alle durch Verhandlungen gelöst worden, obwohl dort eine Logik der Eskalation, der militärischen Eskalation und des Krieges geherrscht hat. Und wir müssen an den Punkt kommen, wo wir uns nicht mehr in der reinen Kriegslogik befinden, sondern wo wirklich der Weg zur Friedenslogik wieder geöffnet wird.
Naivität bei Linken Parteimitgliedern im Bezug auf Putin
Kuhn: Inwiefern war die Linke, also Ihre Partei, naiv, was die Haltung zu Russland betrifft, auch in Bezug auf den Autoritarismus der Putin-Regierung, der ja nicht erst seit 2022 bestand? Und daran anschließend gleich die Frage: Wie muss man sich in Zukunft positionieren? Wo muss man da justieren?
Schirdewan: Ich glaube, dass tatsächlich viele Menschen in Deutschland, darunter auch natürlich Mitglieder meiner Partei, was die Wandlung Russlands unter Putin betrifft, einige, ja, wie Sie sagen, Naivität, aber vielleicht auch Illusion sozusagen hatten, und zwar in dem Sinne, dass der autoritäre Schwenk dort unterschätzt worden ist. Also, die gezielte Verfolgung Oppositioneller, die gezielte Gleichschaltung der Medien, auch nach innen, schon durchaus eine erkennbare Militarisierung der Gesellschaft, das betrifft, ich glaube, wirklich viele Menschen in Deutschland, auch politische engagierte, politische kluge Menschen, auch journalistisch tätige Menschen, die da durchaus zu Fehlurteilen gekommen sind.
Und insgesamt war das wahrscheinlich ein Resultat und ich finde ein verständliches Resultat auch der deutschen Geschichte an dieser Stelle, die immer gesagt hat: Von deutschem Boden darf kein neuer Krieg ausgehen. Und natürlich auch insbesondere der deutschen Kriegsschuld gegenüber der Sowjetunion mit dem unglaublichen Blutzoll, den die Sowjetunion damals zu tragen hatte. Aber die Vergangenheit und die Geschichte ist das eine und die Verantwortung, die daraus resultiert. Und es ist richtig, dass wir jetzt unseren Blick neu justieren, unseren Blick schärfen, was die Beurteilung von Putins Russland heute betrifft. Und da will ich ganz eindeutig noch mal sagen, dieser fürchterliche Angriffskrieg ist Putins Verantwortung. Und darin gibt es ohne Wenn und Aber nichts zu deuten.
Wagenknechts Begriff vom „Wirtschaftskrieg“ gegen Russland benutzen viele
Kuhn: Es gibt aber Mitglieder Ihrer Partei, auch der Bundestagsfraktion, die vom Wirtschaftskrieg Deutschlands gegen Russland sprechen. Sahra Wagenknecht hat das im Herbst in einer Bundestagsrede so formuliert. Gehen Sie da mit?
Schirdewan: Der Begriff des Wirtschaftskrieges ist keiner, den ich mir zu eigen mache. Aber den benutzen tatsächlich viele, nicht nur Leute in meiner Partei, also, einige in meiner Partei, sondern auch Minister in Frankreich haben den benutzt. Auch deutsche Minister haben den benutzt. In den Medien taucht er oft auf. Von Expertinnen und Experten, auch internationalen Wirtschaftsexperten wird er benutzt usw. Also, das ist ja so ein Standing Term, würde ich sagen an dieser Stelle. Ich mache mir den im Zusammenhang mit den Sanktionen nicht zu eigen, weil ich finde, dass wir natürlich darüber nachdenken müssen, wie man Putin unter Druck setzt und dafür braucht es vor allem gezielte Sanktionen gegen seinen Machtapparat, gegen die Oligarchinnen und Oligarchen.
Dass wir in der Gesellschaft eine breite Debatte darüber führen, welche Wirkung diese Sanktionen vor allem im wirtschaftlichen Bereich auf die russische Wirtschaft, auf die russische Gesellschaft und auf die europäische Wirtschaft und europäische Gesellschaft oder hier auch in Deutschland insbesondere haben, das ist ja klar, weil natürlich einer der Faktoren der Inflationsentwicklung, einer der Faktoren der Energiepreiskrise durchaus in diesen Sanktionen zu suchen ist.
Gezielte Sanktionen gegen Russland statt Waffenlieferungen an die Ukraine
Kuhn: Es gibt in Ihrer Partei zu den Sanktionen verschiedene Stimmen. Es gibt diejenigen, die es ablehnen, die sich auf das Parteiprogramm, das Erfurter Parteiprogramm berufen. Dann gibt es Sie, die sagen: Sanktionen gegen Oligarchen, so hat es der Parteitag letztes Jahr beschlossen. Und dann gibt es diejenigen, so wie Bodo Ramelow unter anderem, die sagen, ja, Sanktionen, aber auch Waffenlieferungen müssen möglich sein. Was davon ist noch Binnenpluralität und was davon sorgt einfach für eine große Verwirrung in der Wählerschaft, für was die Linke steht?
Schirdewan: Nein, das ist alles Binnenpluralität, weil sich die Positionen so auch in der Gesellschaft wiederfinden und wir natürlich als demokratische Partei auch demokratische Willensbildungsprozesse, die sich in der Gesellschaft abspielen, im Inneren nachvollziehen. Und es ist so – und das stellen Sie ja auch richtig dar –, dass es durchaus auch Leute gibt, die in dem Selbstverteidigungsrecht eines souveränen Staates – und das Selbstverteidigungsrecht hat die Ukraine natürlich – auch dann die Lieferung von Waffen als ihre private Meinung gekennzeichnet in der Partei vertreten. Das ist aber keine offizielle Parteiposition, weil ich tatsächlich die Kritik an den Waffenlieferungen, an der darin bestehenden Eskalation, an dem Potenzial für sehr, sehr groß betrachte, also das Gefahrenpotenzial und wir meiner Ansicht nach eben viel zu wenig für eine friedliche Lösung dieses Konfliktes machen.
Aber, nein, das ist alles pluralistische Meinungsbildung, aber die Parteiposition an dieser Stelle ist klar. Gezielte Sanktionen gegen den Machtapparat, gezielte Sanktionen gegen den militärisch industriellen Komplex, um die Kriegsfähigkeit und die Angriffsfähigkeit Russlands Armee einzuschränken und gleichzeitig aber auch klar zu sagen: Waffenlieferungen sind für uns nicht der Weg. Wir müssen auf einen Verhandlungsfrieden hinarbeiten. Das heißt, wir brauchen Diplomatie. Wir brauchen den schnellstmöglichen Einstieg in Gespräche, in nachhaltige Friedensverhandlungen. Das ist das, was Politik jetzt eigentlich zu leisten hat.
„Es geht mir natürlich darum, die Linke zu stärken“
Kuhn: Das ist ja nicht das einzige Thema, bei dem die Linke vielstimmig auftritt, um es mal so zu formulieren. Diese Vielstimmigkeit ist so weit, dass es inzwischen Überlegungen zu einer Abspaltung gibt. Für wie groß halten Sie die Wahrscheinlichkeit, dass jetzt in einem Jahr Sahra Wagenknecht hier auf dem Platz sitzt, auf dem Sie sitzen als Vorsitzende einer linken Splitterpartei und für sich in Anspruch nimmt, die einzige wahre linke Kraft in Deutschland zu sein?
Schirdewan: Na, ich bin sowohl im Gespräch mit Sahra Wagenknecht als auch mit denjenigen, die - ich sage mal - einem Teil der Positionen auch, die aus dem Umfeld von Sahra Wagenknecht und anderen geäußert werden, in der Partei durchaus auch kritisch gegenüberstehen. Auch das, finde ich, gehört zu meinem Job dazu. Das ist richtig. Und ich höre mir genau an, was die Leute zu sagen haben, weil es mir natürlich darum geht, diese Linke zu stärken. Das ist unsere gemeinsame gesellschaftliche Verantwortung. Das ist auch das, was ich denjenigen sage, die in der jüngeren Vergangenheit hin und wieder in der Öffentlichkeit mit solchen Neugründungsgedanken in Erscheinung getreten sind. Das halte ich für falsch. Das halte ich tatsächlich auch für die Partei nicht für zielführend, für schädlich.
Wir haben die Verantwortung, die gemeinsame Verantwortung, trotz unterschiedlicher Positionen, wo wir gemeinsam natürlich eine Positionsklärung herbeiführen müssen, dafür zu sorgen, dass es in der stärksten europäischen Volkswirtschaft in Deutschland eine Partei gibt, die sich ein Programm auf die Fahnen schreibt, das für soziale Gerechtigkeit steht, das für Frieden steht, das auch für radikalen Klimaschutz steht. Und dafür stehen wir. Dafür werbe ich nachhaltig, dass dieser Weg gemeinsam beschritten wird. Und ehrlich gesagt glaube ich auch, dass dieses nicht nur Werben, sondern die Einsicht in unsere gesellschaftliche Verantwortung dazu führt, dass wir im nächsten Jahr – Sie und ich, Herr Kuhn – dieses Gespräch wieder führen werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.