Sicherheitslage in Europa
Russland, die NATO und die Kriegsgefahr

Die Beziehungen der NATO-Staaten zu Russland sind an einem Tiefpunkt, besonders die osteuropäischen Bündnismitglieder machen sich große Sorgen. Wie ernst ist die aktuelle Lage?

    Zwei polnische Soldaten in Tarnkleidung trainieren unter freiem Himmel auf einem Feld am 18.09.2025 bei einer Militärübung mit Panzerabwehrwaffen.
    Polnische Soldaten trainieren im September 2025 gemeinsam mit NATO-Verbündeten für den Ernstfall. (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Dominika Zarzycka)
    Das Verhältnis zwischen der NATO und Russland ist extrem angespannt. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine und Provokationen aus Moskau sind der Hintergrund dafür. Bomben auf Kiew, russische Kampfflugzeuge im estnischen Luftraum, russische Drohnen in Polen - Wladimir Putin scheint zu testen, wie weit er gehen kann. Wie kann - oder muss - die NATO reagieren? Ein Überblick.

    Inhalt

    Wie Putin den Westen provoziert

    19.09.2025: Drei russische Kampfjets halten sich zwölf Minuten lang im estnischen Luftraum auf und werden von der italienischen Luftwaffe zurück in den russischen Luftraum eskortiert. Moskau streitet die Vorwürfe ab. Zwei russische Kampfjets nähern sich einer polnischen Bohrinsel in der Ostsee und verletzen die Sicherheitszone über der Plattform.
    13.09.2025: Eine russische Drohne überfliegt auf dem Weg in die Ukraine Rumänien.
    12.09.2025: Das russisch-belarussische Militärmanöver "Sapad 2025" beginnt und löst vor allem bei den östlichen NATO-Staaten große Besorgnis aus. Wo der Feind steht, ist klar: "Sapad" heißt "Westen". Die beiden Länder beenden ihre Militärübung mit nuklearen Drohszenarien gegen die NATO.
    09.09.2025: Mehr als ein Dutzend russische Drohnen dringen in den Luftraum Polens ein. Einige davon werden von der polnischen Luftwaffe und NATO-Verbündeten abgeschossen.
    Russland steht seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine immer wieder im Verdacht, für die Sabotage und Zerstörung von Unterseekabeln in der Ostsee verantwortlich zu sein. Beweisen ließ sich das bislang nicht.
    Zudem sollen mehrere Cyberangriffe in Deutschland gegen die SPD und Unternehmen aus den Bereichen Logistik, Rüstung, Luft- und Raumfahrt und IT sowie der Versand von Sprengstoffpaketen in mehrere europäische Länder auf das Konto des russischen Militärgeheimdienstes GRU gehen.

    Warum löste das russische Militärmanöver "Sapad" große Sorgen aus?

    Militärmanöver sind an sich nichts Ungewöhnliches, so führt auch die NATO regelmäßige Übungsreihen durch, wie beispielsweise „Quadriga“, die überwiegend im Ostseeraum und Baltikum stattfindet.
    „Sapad 2025“ war allerdings die erste gemeinsame Militärübung von Russland und Belarus auf belarussischem Staatsgebiet seit 2021. Analysten sagen, dass das Manöver "Sapad 2021" den russischen Überfall auf die Ukraine vorbereitet hatte. Russland griff die Ukraine am 24. Februar 2022 auch von belarussischem Staatsgebiet aus an.
    Dass Russland noch einmal von Belarus aus einmarschieren könnte, hält die Staatsführung in Kiew für unwahrscheinlich. Das Manöver diene vor allem dazu, die westlichen Partner einzuschüchtern, hieß es in Kiew. Deshalb habe die belarussische Militärführung angekündigt, auch den Einsatz von Atomwaffen und neuen Mittelstreckenraketen zu üben.
    Belarus spielt eine entscheidende Rolle als quasi-militärisches Testgelände Russlands. Der Kreml kontrolliert auch die Atomwaffen auf belarussischem Gebiet.

    Wie bewerten Experten den Drohnenangriff in Polen?

    Experten und führende Politiker bewerteten den Drohnenangriff in Polen übereinstimmend als gezielte russische Provokation und einen Test der NATO-Reaktionsfähigkeit, nicht als Zufall oder Versehen. Russland wolle vor allem wissen, wie sich die USA gegenüber der NATO-Bündnisverpflichtung verhielten, sagt die Sicherheitsexpertin Claudia Major.
    Ein Teil der Drohnen zielte anscheinend auf den Flughafen Reschov - ein großer Umschlagpunkt für die Ukrainehilfe. Einige der Drohnen gelangten auch bis ins Landesinnere Polens.
    Manche Militärexperten sehen den Vorfall auch als Teil eines ohnehin schon laufenden „hybriden Krieges“ Russlands gegen den Westen insgesamt. Zu dieser Grauzone zwischen Krieg und Frieden gehört auch die Bedrohung kritischer Infrastruktur, Überflüge von Drohnen über Militäreinrichtungen oder aggressiveres Verhalten russischer Einheiten auf See.
    Polen beantragte aufgrund des Angriffs eine Sondersitzung nach Artikel 4 des NATO-Vertrags. Zuletzt wurde Artikel 4 nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ausgelöst, von Bulgarien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und der Slowakei.

    Was besagt Artikel 4 der NATO?

    Die NATO ist ein Militärbündnis, das aktiv wird, wenn ein Mitglied sie anruft. Artikel 4 des NATO-Vertrags erlaubt es, die Partner im Falle einer kritischen Lage zügig zusammenzurufen. Wörtlich heißt in Artikel 4:
    „Die Vertragsparteien konsultieren einander, wenn nach Auffassung einer von ihnen die territoriale Unversehrtheit, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Vertragsparteien bedroht ist.“
    Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius unterstützte das Auslösen von Artikel 4 durch Polen ausdrücklich. Die NATO werde sich „besonnen und nicht eskalierend“ verhalten, sagte er.
    Der deutlich schärfere Artikel 5, der nicht nur Konsultationen, sondern militärische Unterstützung vorsieht, wurde bisher nicht ausgelöst.

    Wie schätzen Experten die Bedrohungslage ein?

    Polens Ministerpräsident Donald Tusk warnte nach dem Drohnenangriff, sein Land stehe einem offenen Konflikt mit Russland näher als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg und sei in höchster Alarmbereitschaft. Polen hat - auch wegen des Militärmanövers „Sapad 2025“ - seine Grenze zu Belarus geschlossen und Tausende Soldaten dorthin geschickt.
    Die Sicherheitsexpertin Claudia Major betont, dass Russland eine Strategie der ständigen Provokation, des Testens von Grenzen und der hybriden Kriegsführung verfolgt. Russland beschädige die kritische Infrastruktur europäischer Staaten, etwa Seekabel in der Ostsee, erkunde mit Drohnenüberflügen die Einrichtungen kritischer und militärischer Infrastruktur und verbreite Desinformation, so Major.
    Moskaus Ziel sei es, die europäische Einheit zu schwächen, sagt Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
    Europäische Geheimdienste warnten im März diesen Jahres davor, Russland schaffe die Voraussetzungen, um einen „großmaßstäblichen konventionellen Krieg“ zu führen. „Das wollen wir verhindern, indem wir verteidigungsbereit und abschreckungsfähig sind", sagt Jan Christian Kaack, Inspekteur der Deutschen Marine. Nach Geheimdienstinformationen wäre Russland spätestens ab 2029 bereit, „Unfug zu machen“.

    Welchen Zweck verfolgt die NATO mit ihren Manövern?

    Bei Militärmanövern wird der Ernstfall der Landes- und Bündnisverteidigung geprobt. Die jährlich stattfindende Übung "Quadriga" wird von der Bundeswehr gemeinsam mit Streitkräften aus 13 weiteren Nationen in der Ostsee und im Baltikum durchgeführt.
    Die baltischen Staaten gelten als Achillesferse des Bündnisses. Durch ihre geografische Lage könnten sie leicht vom Rest des NATO-Territoriums abgeschnitten werden. Die NATO hat als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ihre Ostflanke im Baltikum mit Soldaten und Waffen verstärkt.
    Die NATO-Manöver dienten zum einen der Abschreckung, sagt Marine-Inspekteur Jan Christian Kaack. Zum anderen seien sie eine Versicherung, dass Deutschland für das Versprechen der NATO einstehe: „Einer für alle und alle für einen“.

    tha/rey