Donnerstag, 09. Mai 2024

Flucht und Migration
Es braucht Abkommen mit Herkunfts- und Transitländern

Die EU müsse die Herkunfts- und Transitländer dazu bewegen, Menschen von der gefährlichen Überfahrt nach Europa abzuhalten, kommentiert Peter Müller. Anders sei die Krise nicht in den Griff zu kriegen - und das könne für die EU fatal enden.

Kommentar von Peter Müller | 07.10.2023
Etwa 20 Menschen fahren in einem Motorboot.
Zahlreiche Migranten wagen trotz der regelmäßigen Todesfälle die Fahrt über das Mittelmeer nach Europa (picture alliance / dpa / Oliver Weiken)
Man kann es kaum anders sagen: Die europäische Migrationspolitik ist ein Desaster – und zwar unabhängig davon, welche Messlatte man anlegt. Die Zahl der Migranten, die nach Europa kommen? Steigt und steigt. Das Sterben im Mittelmeer? Geht unvermindert weiter. Und das Dublin-System, das regeln soll, welcher Staat für den Asylantrag zuständig ist? Existiert nur noch auf dem Papier. Mehr als 70 Prozent der Migranten, die in Deutschland ankommen, sind derzeit überhaupt nicht registriert, obwohl sie auf ihrer Reise hierher zumeist mehrere EU-Länder durchquert haben.
Die Einigung zur sogenannten Krisenverordnung, die die EU-Mitgliedstaaten vergangene Woche in Brüssel erzielt haben, ist vor diesem Hintergrund nur ein kleiner Fortschritt. Die Verständigung ermöglicht, dass Rat und Parlament nun überhaupt einmal über das große Paket zur europäischen Asylreform verhandeln können. Das ist nicht nichts. Jubelmeldungen aber, mit dem Kompromiss habe man nun das entscheidende Instrument in der Hand, um die Migrationskrise zu lösen, sind verfrüht.

Europa sucht das richtige Maß an Abschottung

Die Migration ist Europas Schicksalsfrage. Es geht darum, wie viel Abschottung wir uns leisten dürfen, ohne unsere Werte zu verraten. Und darum, wie viel Abschottung wir uns leisten müssen, um den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg rechts- und linksextremer Parteien in Europa zu bremsen. Denn eines zeigen Umfragen immer wieder: fehlende Lösungen bei der Migration und das Erstarken der politischen Ränder hängen unmittelbar zusammen.
Zuletzt gewann der Linkspopulist Robert Fico die Wahl in der Slowakei – sehr zur Freude von EU-Rechtsaußen Viktor Orban aus Ungarn. Und bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen dürfte die AfD am Sonntag zweimal hochprozentig punkten. All das vergiftet nicht nur das politische Klima in Deutschland und Europa. Der Aufstieg der Populisten und Extremisten macht auch die ohnehin komplizierte Entscheidungsfindung in der EU noch schwieriger, ausgerechnet jetzt, wo Europa sich gegen den Aggressor Putin behaupten muss. Es führt kein Weg daran vorbei: Europa muss die Frage der Migration endlich in den Griff kriegen.

Weniger Sozialleistungen lösen das Problem nicht

Entscheidend dafür ist allerdings weniger das Brüsseler Asylpaket, mit dem die Grenzen um unsere Union noch ein bisschen höher gezogen werden und die Rechte der Migranten noch weiter beschnitten. Wichtiger ist, zu verhindern, dass Menschen ohne Aussicht auf Asyl sich überhaupt auf den gefährlichen Weg nach Europa machen.
Der dumpfe Wahlkampf-Ruf, Sozialleistungen runterzuschrauben, hilft dabei kaum weiter. Denn egal, wie hartherzig die Politik gegenüber Migranten aufzutreten bereit ist – die Leistungen des deutschen Sozialstaats werden – glücklicherweise - immer höher sein als das, was viele Migranten in ihrer Heimat zum Leben haben.

Den Türkei-Deal als Blaupause nutzen

Stattdessen bietet es sich an, dort anzusetzen, wo den Europäern schon einmal ein seltener Erfolg vergönnt war. Die Rede ist vom Flüchtlingsabkommen mit der Türkei aus dem Jahre 2016. Es funktioniert recht simpel: Die Türkei verhindert, dass Migranten nach Griechenland aufbrechen, also in die EU kommen. Im Gegenzug finanziert die EU Unterkünfte, Schulen und Versorgung der Migranten in der Türkei.
Natürlich, auch dieses Abkommen hat seine Tücken, das beginnt schon mit dem Vertragspartner, Autokrat Erdogan. Auf der anderen Seite aber hat der Türkei-Deal das Geschäftsmodell der Schleuser in der Ägäis zerstört und die gefährlichen Überfahrten in kaum seetüchtigen Schlauchbooten für geraume Zeit verhindert.
Dieser Vertrag könnte die Blaupause für weitere Abkommen sein, auch wenn ein erster Versuch mit Tunesien bislang keine Früchte trägt. Denn die EU hat durchaus Möglichkeiten, Herkunfts- und Transitländer zur Kooperation zu bewegen. Die Drohung mit der Kürzung von Entwicklungshilfe gehört dabei genauso auf den Tisch, wie auf der anderen Seite Visa-Erleichterungen und ja, das Angebot von neuen, legalen Wegen der Migration.
All das kann und wird helfen. Wer aber die eine schnelle Lösung ankündigt, und dabei auch noch mit dem Schlagwort Europa wedelt, täuscht die Bürgerinnen und Bürger.