
Sicherheitspolitik galt jahrzehntelang in Deutschland als extrem unchic. An den Universitäten machten sich andere Sozial- und Politikwissenschaftler lustig: „Raketenzähler“ wurden die Experten für internationale Beziehungen mit dem Schwerpunkt auf militärische Grundsatzfragen genannt. Es gab nur wenige Lehrstühle, an denen man damit akademische Karriere machen konnte. Denn alles, was mit militärischen Fragen auch nur ansatzweise zu tun hatte, das hatte ein Geschmäckle: Militärische Gewalt überhaupt nur einzukalkulieren galt vielen als aus der Zeit gefallen, unnötig und als selbsterfüllende Eskalationsfalle.
Das prägte unsere politische Kultur über Jahrzehnte. Die Scheu, Gewalt in den internationalen Beziehungen als letzte Option überhaupt nur zu denken, findet sich in allen gesellschaftlichen Milieus. Konflikte wurden in dieser Vorstellungswelt in EU-Ministerräten in Nachtsitzungen mit umfangreichen Kompromissen ausgehandelt. Das ist in der Tat die Welt, in der man als Bürger leben möchte. Das ist aber nicht die Welt, in der wir tatsächlich leben. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist eine gänzlich neue Lage eingetreten. Und auf einmal tritt seit langer Zeit eine grundlegende sicherheitspolitische Debatte in die deutsche politische Kultur: Wie geht man um mit dem russischen Angriffskrieg?
Selbstbezogene und zynische Forderung nach Waffenstillstand
Einige deutsche Intellektuelle gaben eine Antwort darauf in der Wochenzeitung „Die Zeit“: "Waffenstillstand jetzt!" lautete der eingängige Titel. Ein militärischer Sieg der Ukraine sei eh nicht möglich, und deshalb möge der Westen doch die Waffenlieferungen an das Land überdenken oder einstellen. Dann könne man auf dem Boden dieses Waffenstillstandes eine Friedensregelung verhandeln.
Die russischen Kriegsverbrechen, der ausdrücklich formulierte Zerstörungswille Putins, die Vergewaltigungen und die Tötungsorgien kommen nicht vor im Text. Mit welchen effektiven Mitteln man Putin dazu bewegen will, zu verhandeln und sich auf Kompromisse einzulassen – Fehlanzeige. Die Autoren leben in einer unkonkreten Wunschwelt, die angesichts des realen Leides der Menschen in der Ukraine als selbstbezogen und zynisch erscheint.
Putin will nicht nur die Ukraine zerstören
Realitätsbewusstsein tut not. 22 namhafte deutsche Strategieexpertinnen und –experten haben sich jetzt zu Wort gemeldet. Sie eint die Erkenntnis, dass Putin nicht nur die Ukraine zerstören will. Vielmehr bedeute der durch Russland ausgelöste Krieg eine fundamentale Bedrohung der europäischen Sicherheit insgesamt. Und genau dies ist der Fall. Putin will die Institutionen zerstören, die die Sicherheit und die Prosperität des Westens garantieren: EU und NATO. Putin will seine neoimperialen Phantomschmerzen kurieren, indem er Kriege führt.
Um den Frieden in Europa dauerhaft zu sichern, bedarf zweierlei: Härte und Geduld. Sollte Putin sich als Sieger in diesem Krieg fühlen, wird ihn das zu weiteren militärischen Abenteuern ermutigen. Die Sicherheitsexpertinnen und –experten weisen ausdrücklich darauf hin, dass Putins Angriffskrieg zeigt, dass auch NATO-Staaten Opfer einer militärischen Aggression werden können.
Militärisch gestärkte Ukraine ist Voraussetzung für Waffenstillstand
Erfreulicherweise belassen es die Autoren nicht bei guten Wünschen. Sie formulieren einen sechs Punkte umfassenden Strategieplan mit konkreten Handlungsanweisungen: Von der Lieferung von wirksamen Waffen an die Ukraine über die soziale Abfederung der steigenden Energiepreise bis zur Dekarbonisierung der westlichen Wirtschaften, um die Abhängigkeit von russischen Rohstoffen zu verringern.
Vor allen Dingen stellen die Sicherheitsexperten einen Glaubensgrundsatz vom Kopf auf die Füße: Einen Waffenstillstand kann es erst geben, wenn die Ukraine militärisch in die Lage versetzt worden ist, Putin die Stirn zu bieten. Nur dann wird er sich überhaupt auf Verhandlungen einlassen. Nur dann können die Ukrainer eine für sie akzeptable Lösung ausverhandeln. Und nur dann wird das Signal an Putin gesandt, dass Angriffskriege, Gewaltorgien und die Auslöschung souveräner Staaten im Europa des 21. Jahrhunderts keine Aussicht auf Erfolg haben.