Der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, wird nicht müde, Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen zum Gassparen aufzufordern - obwohl die Versorgungslage in diesem Winter besser als erwartet ist. Dafür seien viele Faktoren verantwortlich, vor allem aber das milde Wetter, sagte Müller im Interview der Woche des Deutschlandfunks.
Für den kommenden Winter gibt er daher keine Entwarnung: Bei bestimmten Negativfaktoren könne es dann zu einer Gasmangellage kommen. Daher gelte: Umso weniger Gas in Deutschland und Europa verbraucht werde, umso einfacher und günstiger sei es, durch den nächsten Winter zu kommen.
LNG-Terminals werden gebraucht
Müller verteidigte die geplante Inbetriebnahme von sechs Flüssiggasterminals in diesem Jahr. Der Kritik, dass dabei teure Überkapazitäten geschaffen würden, widersprach der ehemalige Vorstand der Verbraucherzentrale Bundesverband. Sollte der nächste Winter sehr kalt ausfallen, werde man froh sein über ausreichende Versorgungsstrukturen, argumentierte er.
Atomkraft werde in Zukunft bei der Energieversorgung in Deutschland keine Rolle mehr spielen, betonte Müller. Gleichzeitig müsse jedoch die Energiewende deutlich schneller vorangehen. Dabei müsse sich die Europäische Union überlegen, ob sie bei der Photovoltaik-Technologie weiterhin so abhängig von China bleiben wolle. Letztlich sei dies aber auch eine Frage des Preises, denn mit den chinesischen Solarmodulen sei dieser Teil der Energiewende deutlich günstiger.
Das Interview im Wortlaut
Jörg Münchenberg: Er hat sicherlich einen der schwierigsten Jobs derzeit in einer Bundesbehörde, denn es geht um die Versorgungssicherheit im Land. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine vor fast genau einem Jahr eine Herkulesaufgabe. Und seine Behörde nimmt auch bei der Energiewende eine Schlüsselposition ein. Auch da spielen Versorgungssicherheit und die dafür notwendige Infrastruktur eine herausragende Rolle. Seit März 2022 ist Klaus Müller, vormals oberster Verbraucherschützer hierzulande, also Chef der Bundesnetzagentur.
Herr Müller, vor ein paar Monaten ging es noch darum, eine drohende Gasmangellage zu verwalten, jetzt doch merklich Entspannung bei der Gasversorgung. Die Speicher sind immer noch ganz gut gefüllt, der Winter fast vorbei. Kommt also auch ein Klaus Müller in diesen Tagen doch etwas entspannter ins Büro?
Klaus Müller: Ja, das ist auf jeden Fall so. Das liegt aber schlicht daran, dass in den letzten Monaten auch wirklich viel geschafft wurde. Die Bundesregierung hat Weichen gestellt. Die Menschen, die Industrie hat Gas gespart, im letzten Jahr um die 14 Prozent. Wir haben die Speicher tatsächlich gut gefüllt.
Das hat Preisdämpfungen ausgelöst, zumindest vom Endergebnis her. Und wir haben eben eine Situation, dass wir neben den Gaslieferungen aus unseren Nachbarländern, also Norwegen, Holland, Belgien, teilweise Frankreich, jetzt auch die ersten Flüssiggasterminals an Nord- und Ostsee am Start haben. Und all das bedeutet unterm Strich eigentlich eine deutlich bessere Versorgungslage als man das im letzten Jahr hätte auch absehen können.
„Jetzt müssen wir die Weichen stellen für den nächsten Winter“
Münchenberg: Die Gasmangellage, zumindest jetzt für diesen Winter, fällt erst einmal aus. Ist da eigentlich der tägliche Lagebericht der Bundesnetzagentur zur Gasversorgung überhaupt noch notwendig? Oder ich will die Frage mal ein bisschen anders drehen. Haben Sie sich zu sehr an diesen dauerhaften Alarmmodus gewöhnt?
Müller: Das ist tatsächlich etwas, was wir regelmäßig diskutieren, weil wir auch wissen, dass unser Bericht natürlich auch wahrgenommen wird. Wir haben im Januar schon einmal das Wording geändert. Wir gehen von einer weniger angespannten Lage aus. Aber unser Blick reicht eben jetzt schon auf den Winter 2023/2024.
Ich gebe zu, das ist noch eine Weile hin. Aber es gibt eine ganz simple Mathematik. Alles, was wir jetzt in den Gasspeichern behalten, hilft uns bei der Vorbereitung eben auf den nächsten, übernächsten Winter – je nachdem, wie Sie zählen wollen an der Stelle. Und darum gilt weiter unser Sparappell, auch wenn ich verstehe, dass manche Menschen sich jetzt im nahen Frühling was anderes wünschen als über Gaseinsparung nachzudenken.
Aber jetzt müssen wir die Weichen stellen, um bei den Heizungsanlagen zu Hause, bei Substitutionsprozessen, Transformationsprozessen in der Industrie, uns jetzt schon auf den nächsten Winter vorzubereiten. Wir müssen die Speicher jetzt ohne russisches Pipeline-Gas befüllen. Das kann man schaffen, aber man muss sich dafür eben mächtig anstrengen.
Münchenberg: Nun nützt sich so eine Rolle aber vielleicht auch ein bisschen ab. Sie gelten mittlerweile als der Warner der Nation. Kassandra wurde am Ende eben auch nicht gehört. Ist das nicht die große Gefahr?
Müller: Keine Frage. Wir haben uns intensiv mit dem Robert-Koch-Institut, also den Kollegen, die eine andere Krise managen mussten, ausgetauscht. Und wichtig ist eben auch, den Dank zu betonen. Ich hoffe, das tun wir in unseren Botschaften, um eben auch eine Anerkennung dafür auszusprechen für die Menschen, die weniger geheizt, anders geheizt haben, die ihre Heizung auf Vorderfrau/Vordermann gebracht haben, für die Unternehmen, die hier technisch innovativ waren oder sich auch eingeschränkt haben.
Wir betonen den Dank an der Stelle. Wir erklären, mit fünf Indikatoren, die wir täglich aktualisieren bei uns auch im Internetportal, in welcher Lage wir sind. Wir schaffen maximale Transparenz. Und da ist es ganz simpel: Je weniger Gas Deutschland, aber auch Europa verbraucht, desto günstiger und desto einfacher ist es, durch den nächsten Winter zu kommen.
„Der milde Winter war ein ganz, ganz wichtiger Effekt“
Münchenberg: Aber noch mal: Nutzt sich so eine Rolle nicht auch ein bisschen ab oder wird dann am Ende einfach auch nicht mehr gehört?
Müller: Das wird man wahrscheinlich erst im Rückblick sehen können. Für diesen Winter können wir feststellen - das hat jetzt sicherlich am wenigsten mit der Bundesnetzagentur zu tun, sondern natürlich auch mit Preiseffekten, die trotz der Preisbremsen bei den Menschen, bei der Wirtschaft angekommen sind.
Es gab viele Faktoren, die in den letzten Monaten dazu geführt haben, dass wir Gas gespart haben. Der milde Winter war ein ganz, ganz wichtiger Effekt. Aber all das sind Faktoren, auf die wir uns jetzt eben nicht verlassen können. Es ist auch immer eine Frage nach der Alternative. Würde die Bundesnetzagentur jetzt sagen, alles wird gut.
Das fällt gerade im Karneval im Rheinischen vielleicht sehr, sehr leicht. Ich glaube, dass das eine falsche Botschaft wäre, weil sie dann womöglich zur Sorglosigkeit beitragen würde. Und nach wie vor gilt ja auch: Gas ist deutlich teurer als früher. All das führt dazu, dass wir weiter damit sorgsam und achtsam umgehen sollten.
Münchenberg: Ihre Warnung zielt darauf ab, Ihre Appelle, dass Unternehmen und Bürger Gas sparen. Aber jetzt schon mal im Rückblick auf diesen ersten Krisenwinter, den vermeintlichen. Hat da am Ende nicht vor allem das Wetter geholfen? Sie haben vorhin die Einsparquoten angegeben. Die waren eigentlich mal ein bisschen höher. Die Ziele lagen bei 20 Prozent, sind aber nicht ganz erreicht worden. War am Ende nicht das Wetter ausschlaggebend?
Müller: Ich bin mir ganz sicher, dass wenn irgendwann Wirtschaftshistoriker, Analysten das noch mal ganz genau überprüfen und Korrelationen von verschiedenen Effekten vergleichen, dann wird das Wetter für die privaten Haushalte ein wichtiger Punkt gewesen sein. Wir haben auch gesehen, dass in Zeiten, wo es vergleichsweise mild war, die Menschen im Vergleich zu dem Vierjahres-Vordurchschnitt überproportional gespart haben.
In den Wochen, wo es in diesem Winter eher kalt war, waren wir weit entfernt von Sparquoten, die wir uns gewünscht haben. Bei der Industrie sehen wir ein anderes Verhalten. Da sehen wir durchaus strukturelle Anreize. Da wird wahrscheinlich der Preiseffekt, vor allem im Sommer und im Herbst, eine Rolle gespielt haben.
Da kommt es jetzt sehr darauf an: Wird die Industrie angesichts der niedrigeren Preise jetzt den Weg wieder zurückgehen? Wird jetzt wieder mehr verbraucht? Das kann natürlich schlicht dazu führen, dass über den Sommer, Herbst hinweg wir wieder eine etwas schwierigere Lage haben. Das weiß aber zurzeit keiner.
Und der letzte Punkt, den man noch erwähnen muss, wir haben zeitweise doch deutlich Gas verstromt. Das haben wir primär für unsere französischen Nachbarn getan, weil sie große Probleme mit ihren Atomkraftwerken hatten. Auch da kann man nicht ganz genau sagen, wie sich das in den nächsten Monaten weiterentwickelt. Dafür wollen wir alle Vorsorge treffen.
Gasmangellage im kommenden Winter möglich
Münchenberg: Noch mal im Klartext: Auch im nächsten Winter könnte, wenn es ganz blöd und schwierig läuft mit dem Wetter, eine Gasmangellage drohen?
Müller: Genau. Das können wir nicht ausschließen. Wir wissen inzwischen sehr genau, was hier die Negativfaktoren wären. Sehr kalte Temperaturen, weniger strukturelle Einsparung in Industrie, womöglich Probleme in den Nachbarländern, vielleicht auch zu geringe Speicherstände in Nachbarländern, wo man dann aushelfen müsste.
Aber man kann das auch alles positiv drehen: Jeder, der jetzt seine Heizung optimiert oder vielleicht sogar ersetzen kann, spart bares Geld. Das nützt unserer Gassituation, nützt übrigens auch dem Klima. Jedes Unternehmen, dassich jetzt strukturell unabhängig macht von fossilen Energien, tut was für die eigene Bilanz. Wenn die Gasspeicher wieder gut befüllt sind, haben wir einfach einen Puffer an der Stelle. Und mit den Gasdiversifizierungen in den Zuflüssen, die wir ja voranbringen, machen wir uns eben unabhängiger von den ehemals russischen Lieferungen.
Münchenberg: Sie haben vorhin die LNG-Terminals schon angesprochen. Bis Ende des Jahres jetzt sollen sechs zur Verfügung stehen. Das ist das neue Deutschlandtempo. Im letzten Jahr gab es noch überhaupt keine Anlage. Der Bund greift dafür tief in die Tasche. Bis zu zehn Milliarden Euro werden dafür bereitgestellt.
Man hat, wie auch bei der Gas- und Strompreisbremse, den Eindruck, wenn es um die Versorgungssicherheit hierzulande geht, dann heißt die Devise schon: Klotzen, statt kleckern und auf ein paar Steuermilliarden mehr oder weniger kommt es eigentlich gar nicht mehr an.
Müller: Ich bin sicher, es wird irgendwann mal die Kollegen vom Bundesrechnungshof geben, die das ganz scharf nachrechnen. Ich würde aber ökonomisch argumentieren. Ich glaube, dass der industrielle Kern Deutschlands eben eine stabile, aktuell noch fossile, künftig regenerative, aber eben aktuell eine stabile Gasversorgung braucht. Das ist eine Linie, die die Bundesregierung sehr geschlossen vorangetragen hat.
Das finde ich auch gut, weil es sowohl den Unternehmen wie aber auch den Menschen, die dort arbeiten und auch den Produkten, die wir herstellen, die nötige Planungssicherheit gibt. Das Zweite ist: Ich kenne niemanden, der wirklich frieren möchte. Das heißt, Deutschland ist ein Land, das in der Vergangenheit, aus bestimmten Gründen, in seinen Heizungssystemen bei praktisch jedem zweiten Haushalt auf Gas gesetzt hat.
Für diese Gasversorgung muss es eben auch in einem kalten Winter genug Gaszuflüsse geben. Ein Faktor sind die Anlagen, die Sie gerade erwähnt haben. Vor dem Hintergrund ist es richtig, jetzt auf Versorgungssicherheit zu setzen. Und das hat, aufgrund der Versäumnisse und der Fehler der Vergangenheit gerade seinen Preis.
Alles, was man schnell umbaut, ist eben immer teurer als das, was man langfristig umstellt. Ich will aber nie aus den Augen verlieren, dass das Ziel natürlich sein muss, letztendlich klimaneutral zu werden. Da sind wir bei einer ganzen Reihe von weiteren Baustellen. Auch da gehe ich davon aus, wird eher geklotzt, statt gekleckert.
Ausreichende LNG-Infrastruktur für die europäischen Nachbarn
Münchenberg: Diese neue LNG-Infrastruktur, damit könnten 100 Milliarden Kubikmeter Gas angelandet und weitertransportiert werden. Das ist die doppelte Menge, die bislang aus Russland kam. Man hat schon den Eindruck, das ist vollkommen überdimensioniert?
Müller: Das Gefühl habe ich nicht. Denn wir haben jetzt gemerkt, was passiert, wenn alles eng auf Kante genäht ist. Dann explodieren Preise, dann werden Menschen, Unternehmen nervös. Das halte ich alles nicht für gut. Darum baut und sorgt die Bundesregierung hier vor.
Natürlich mag es in milden Wintern so wirken, als ob man nicht alles bräuchte, aber in dem Moment, wo wir einen kalten Winter haben. Normalerweise haben wir nicht nur einen kalten Winter irgendwo in Deutschland, sondern eher in Mitteleuropa. Das heißt, wir müssen auch an unsere Nachbarländer denken.
Es gibt Länder, die rein geografisch keine Chance haben, Flüssiggasterminals an ihren Küsten zu bauen, weil sie, wie Österreich, wie Tschechien, wie Ungarn, wie die Slowakei diese schlicht nicht haben an der Stelle. Insofern ist es eine Lehre, dass wir zu wenig über Resilienz, Vorsorge, Redundanzen gesprochen haben.
Ich will jetzt nicht über die Erfahrung mit Nord Stream 1 und 2 reden, aber wir wissen, dass auch Sicherheit viel größer buchstabiert werden muss. Wir wissen zum Beispiel, dass man auch in anderen Ländern, die schon Erfahrung mit LNG-Terminals haben, eben nicht davon ausgehen kann, dass sie das ganze Jahr über komplett ausgelastet wären.
LNG-Infrastruktur ist eine Frage der Solidarität
Münchenberg: Aber ist nicht trotzdem die Gefahr groß, dass hier eine Parallelstruktur aufgebaut wird? Es gab auch Untersuchungen, die haben ergeben, selbst zum Höhepunkt der Krise waren die Terminals in den Nachbarländern, die jetzt auch Gas nach Deutschland geliefert haben, gar nicht komplett ausgelastet.
Müller: Ja, richtig, weil wir eben einen milden Winter hatten. Den hatten wir eben auch nicht nur in Deutschland, zum Glück für Frankreich, sonst hätten wir da viel größere Probleme gesehen. Es war insgesamt in Europa ein milder Winter. Und wir haben auch zu sehr hohen Preisen gekauft. Auch das darf man eben nicht vergessen an der Stelle.
Wir haben das alles geschafft, und das war auch gut so. Aber ich halte die Erfahrung aus dem letzten Jahr für keine, die ich gerne wiederholen möchte. Und dazu gehört eine ausreichende, eine auch redundante Struktur, die die Bedürfnisse in Deutschland eben auch in kalten Wintern, die die Bedürfnisse in unseren Nachbarländern mitbedient. Das ist auch eine Frage der Solidarität.
Umbruchphase bei der Wasserstofftechnologie
Münchenberg: Diese neue Infrastruktur LNG – also Flüssiggas – kann eigentlich nur bedingt für grünen Wasserstoff genutzt werden, weil Wasserstoff zum Transport in Ammoniak verwandelt werden muss. Dafür, sagen aber viele Experten, taugen die neuen LNG-Terminals nur bedingt. Wird da nicht etwas schöngeredet, um am Ende diese hohen Kosten zu rechtfertigen?
Müller: Es ist immer legitim, dass die Politik sagt, was ihr Ziel ist und wo wir eigentlich hinwollen. Dass dann die Opposition, Wissenschaftler und auch Medien kritisch nachfragen dürfen, ist alles vollkommen normal und in Ordnung. Wir sind dabei, in der Regulierung, die auch für die Bundesnetzagentur, für die wir verantwortlich zeichnen, von Anfang an den Wechsel in eine Wasserstoffwelt und eben auch perspektivisch in eine regenerative Wasserstoffwelt von Anfang an mitzudenken, mitzuberücksichtigen.
Für uns geht es nicht nur darum, das Gas an Nord- und Ostsee anzulanden, wir müssen es weiterverteilen. Das heißt, die Bundesnetzagentur konsultiert, und das läuft gerade, den Konsultationsprozess zum Nationalen Entwicklungsplan Gas. Auch da spielt jetzt Wasserstoff, eben auch gerade grüner Wasserstoff schon einen Moment.
Wir sind mitten in einer Umbruchsphase. Ich bin auch ein ungeduldiger Mensch und würde mir auch wünschen, dass das alles schneller und von heute auf morgen geht. So ist aber leider nicht die Realität und das muss eben auch bezahlt werden. Da wir eben aus einer sehr starken russischen Abhängigkeit, aus einer starken Abhängigkeit von fossilem Gas kommen, braucht es jetzt einen klaren Kompass, einen klaren Kurs, auch harte Entscheidungen, auch eben entsprechende Investitionen, den Weg dahin zu finden, dass wir letztendlich in einer regenerativen Wasserstoffwelt landen.
Münchenberg: Hätte man nicht trotzdem erst einmal einen Bedarfsplan für Gas erstellen müssen, bevor man jetzt so eine doch eben sehr teure Infrastruktur anschiebt und hochzieht?
Müller: Diesen Bedarfsplan Gas, der liegt dem Nationale Entwicklungsplan Gas letztendlich zugrunde. Wir brauchen dafür, je nachdem, wie man zählt, 15 Monate. Den hatten wir schon im letzten Jahr begonnen, unter anderen Bedingungen, den werden wir Ende des Jahres - Pi mal Daumen - abgeschlossen haben.
Wenn danach erst dann die Investitionsentscheidung getroffen worden wären, hätte ich die Diskussion in der Öffentlichkeit nicht erleben wollen, wenn der nächste Winter kälter wird, und wenn wir dann eben die Situation haben, dass wir zu wenig Gasinfrastruktur, zu wenig Flüssiggas gehabt hätten.
Münchenberg: Klingt aber jetzt wirklich nicht überzeugend: Man baut erstmal, ohne eigentlich zu wissen, wieviel Bedarf man hat?
Müller: So ist es nicht. Aber es gibt eben nicht den ausgeklügelten, ausdifferenzierten Bedarfsplan, den Sie gerade eingefordert haben – wie gesagt, der wird gerade geschaffen. Aber wenn man mit dem Einen auf das Andere wartet, kann es zu spät sein, der nächste Winter kann wieder mild sein und dann werden Sie mir im Frühjahr 2024 die gleichen Fragen stellen. Wahrscheinlich müsste ich dann einräumen, wir hatten redundante Strukturen.
Wenn der nächste Winter aber sehr kalt wird, dann werden alle plötzlich sehr froh sein, dass Deutschland dann diese Strukturen hat. Es wird keiner mehr danach fragen, dass es redundante Strukturen gab. Da niemand sagen kann, wie das Wetter aussehen wird, bin ich der Meinung, lassen Sie uns hier lieber vorsichtig sein, auch wenn das Geld kostet, auch wenn es erstmal eine fossile Struktur ist, die wir aufbauen, wenn wir gleichzeitig beim Ausbau der Erneuerbaren, beim Ausbau der Wärmepumpen, beim Ausbau der Netze, bei der Perspektive zu grünem Wasserstoff alles dafür tun, wieder zurück auf den Klimapfad zu kommen.
Absage an Fracking in Deutschland
Münchenberg: Die Bundesregierung setzt bekanntlich auf Wind, Sonne und grünen Wasserstoff, der aber größtenteils importiert werden muss. Warum nicht auf heimisches Fracking, also heimisches Erdgas und Atomkraft setzen?
Müller: Zum Thema Atomkraft hat der Bundeskanzler in seiner Richtlinienentscheidung alles gesagt. Wir sind eine Bundesbehörde, insofern ist das für uns die Richtschnur und damit wird es ab Mitte April in Deutschland keinen Atomstrom geben. Was wir überprüft haben, ist, unter welchen Annahmen Deutschland eben sowohl beim Atomausstieg wie auch beim Kohleausstieg darauf verzichten kann. Das haben wir alles transparent gemacht.
Das Thema Fracking ist insofern ein kompliziertes, weil es hier viele Erwartungen und andererseits viele Ängste gibt, und die sind geografisch nicht immer an der gleichen Stelle. Das heißt, ich lese von vielen wichtigen Politikerinnen und Politikern, die hier Erwartungen haben, aber meistens richten sie die Erwartungen dann auf eine andere geografische Region in Deutschland. Das finde ich grenzwertig.
Umgekehrt, in den Regionen, in denen es Fracking-Potenzial wohl gäbe, habe ich fast parteiübergreifende Ablehnung gesehen, weil es dann eben in der Region vorkäme. Ich glaube schon, dass die Diskussion sich im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt hat, auch technisch, aber es ist schlicht eine Frage der Abwägung, der Prioritätensetzung: Ist es sinnvoll, jetzt mit den Untersuchungen, den Vorbereitungen zu beginnen?
Ich lese - ich kann das nicht überprüfen, dass das fünf, sechs, sieben, acht Jahre dauert, und insofern ist es nicht die Zuständigkeit der Bundesnetzagentur, das letztendlich zu entscheiden oder zu beurteilen. Aber ich kann verstehen, sinnvoll, auf das zu setzen, was jetzt schnell geht. Das wird Fracking nicht sein, dafür braucht man Zeit. Und umgekehrt, alle Kraft in Wind, in Sonne, in Biomasse, in Off-Shore-Wind zusetzen, in den Netzausbau, das ist das, was gerade sinnvoll und angesagt ist.
Münchenberg: Sie haben die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers in Sachen Atomkraft angesprochen. Sie sollen aber angeblich in internen Sitzungen gejubelt haben, dass in Frankreich wieder mehr AKW ans Netz gehen?
Müller: In der Tat, interne Sitzungen kommentiere ich natürlich nicht, weil es eben vertrauliche Sitzungen sind. Ich halte mich an so etwas, andere tun das leider nicht. Was aber richtig ist, ist, dass wenn es bei unseren französischen Nachbarn insgesamt wieder stabiler läuft mit der Stromversorgung, dass man das nicht beklagen sollte.
Ausbau Erneuerbarer Energien statt Atomenergie
Münchenberg: Trotzdem wird jetzt klimaschädliche Kohle verbrannt, anstatt die AKWs länger laufen zu lassen. Das verstehen viele nicht, nicht mal die Klimaschützer von "Fridays for Future".
Müller: Ich höre von den jungen Kollegen bei "Fridays for Future" sehr unterschiedliche Stimmen. Die weltbekannte schwedische Protagonistin hat sich so geäußert, andere haben sich an der Stelle anders geäußert. Wir haben alle wenig Zeit und Ressourcen, und alle Diskussionen über die Nutzung der Atomkraft in Deutschland sind eine Diskussion, die zumindest in der Sache nichts mehr bringt.
Auch die relevanten Energiekonzerne sagen inzwischen in aller Deutlichkeit, die Entscheidungen sind getroffen. Atomkraftwerke schalten Sie nicht mal eben aus und wieder an. Dafür ist die Technik viel zu komplex und fordern. Diese Weichen sind gestellt.
Darum bin ich ein Mensch, der gerne nach vorne guckt. Ich möchte, dass Deutschland klimaneutral wird, ich möchte, dass wir eine Versorgungssicherheit haben und ich möchte, dass Energie bezahlbar ist. Und dafür sind die Wege klar vorgezeichnet, dafür brauchen wir eine Verdreifachung des Ausbaus der Erneuerbaren Energien.
Der Netzausbau wird beschleunigt
Münchenberg: Da sagt zum Beispiel die Energiebranche, das geht alles noch viel zu langsam.
Müller: Das teile ich. Und dafür schafft zum Teil die Bundesnetzagentur die Voraussetzungen. Wir haben jetzt zwischen den Feiertagen - Weihnachten/Silvester – in Rekordgeschwindigkeit die Ausschreibungsbedingungen verbessert und sammeln jetzt die neuen Gebote ein. Wir tun gerade alles dafür, dass der Netzausbau beschleunigt wird - ein ganz entscheidender Faktor.
Im Bundestag liegt das neue Gesetz zu Digitalisierung der Stromnetze - ebenfalls ein ganz wichtiger Voraussetzungsfaktor. Letztes Jahr hat der Deutsche Bundestag mit dem Osterpaket bereits die Beschleunigung beschlossen, jetzt gerade berät das Kabinett darüber, wie nochmal europäische Beschleunigung in deutsches Recht überführt werden können. Das heißt, es passiert gerade ganz, ganz viel. Und ich gebe zu, das voranzubringen, das finde ich momentan das Wichtigste, was wir als Behörde auch tun können.
Münchenberg: Ihre Behörde hat den Monitoringbericht vorgelegt, da heißt es sinngemäß: Versorgungssicherheit, auch bei einem vollständigen Kohleausstieg bis 2030 ist gewährleistet – unter bestimmten Prämissen, die brauchen Sie auch gar nicht mehr alle jetzt aufzählen. Da sagt aber selbst der Koalitionspartner FDP, das ist politisches Wunschkonzert und keine realistische Analyse.
Müller: Das überlasse ich den politischen Akteuren, das zu diskutieren. Die Fragestellung an die Bundesnetzagentur war: Kann eine Versorgungssicherheit auch nochmal mit gewissen Redundanzen, also gewissen Sicherheitspuffern gewährleistet sein in Deutschland, wenn man sowohl den beschlossenen Atomausstieg wie eben auch den idealerweise gewünschten – so heißt es im Koalitionsvertrag – Kohleausstieg haben möchte?
Wir haben dann sehr nüchtern, übrigens auch, nach einer europäischen Systematik – also, die haben wir uns nicht selber ausgedacht – dargelegt, welches die Voraussetzungen dafür sind. Jetzt ist es die Aufgabe der Politik zu entscheiden, will sie diese Voraussetzungen schaffen. Das wird gerade jetzt geraten. Der Netzausbau ist zum Beispiel ganz entscheidend dafür, dass das gelingt. Und wenn man uns eben eine Frage stellt, bekommt man dann auch eine korrekt ausgearbeitete, für jeden nachlesbare Antwort.
Eigenkapazitäten für die Energiewende aufbauen
Münchenberg: China denkt derzeit über Exportbeschränkungen für Photovoltaik Wafer-Technologie nach – man muss wissen, China ist da der absolute Marktführer. Wenn das so käme, also Exportbeschränkungen bei diesen Produkten, dann wären doch auch die schönen Photovoltaik-Ausbaupläne ganz schnell wieder Makulatur?
Müller: Es wäre zweifelsohne ein Rückschlag. Und es würde auch China ins eigene Fleisch schneiden, weil sie auch gerne exportieren wollen. Gleichwohl, die Berichte habe ich auch gelesen. Womöglich ist das auch ein Teil von politischem Säbelrasseln und Verhandlungsstrategien. Man merkt, dass insgesamt die internationale Stimmung gerade eher angespannt ist.
Für uns folgt natürlich daraus, Eigenkapazitäten aufzubauen. Minister Habeck hat darauf hingewiesen, die Energiewende hat auch eine industriepolitische Dimension. Europa – das ist keine reine deutsche Frage –, aber Europa muss sich überlegen, wie sie genau solche Kapazitäten zum Beispiel für die Produktion Wind, aber gerade auch im Solarbereich aufbauen kann, um hier auch unabhängiger zu werden, um die eigene Souveränität an der Stelle zu stärken.
Auch das haben wir bei Covid schon mal diskutiert: Sind manche Abhängigkeiten, auf die wir uns eingelassen haben, eigentlich kluge Abhängigkeiten? Insofern ist es letztlich auch eine Frage des Preises. Mit den chinesischen Solarmodulen ist dieser Teil der Energiewende deutlich günstiger als – zumindest Stand heute – mit dem, was wir womöglich selber aufbauen könnten. Darum ist die Konsequenz daraus, mit China im Gespräch zu bleiben, gar keine Frage. Aber sich auch selber zu überlegen, wie können solche Kapazitäten in Europa wieder aufgebaut werden.
Münchenberg: Laut Prognosen wird 2030 Deutschland, wegen Wärmepumpen zum Beispiel, Elektroautos, Wasserstofferzeugung, ein Drittel mehr Strom benötigen als heute. Sie haben selbst davor schon gewarnt, zu viele E-Autos und Elektropumpen könnten das Netz überlasten. Das klingt auch nach Zweifeln an den Ausbauplänen?
Müller: Nein, weil das Zitat, auf das Sie gerade anspielen, noch ein Komma am Ende hat und dann der Halbsatz weiterging, „wenn wir nichts dagegen tun“. Ich gebe zu, womöglich hätte man diesen Halbsatz stärker formulieren sollen. Wir tun gerade ganz viel dafür, dass wir eben die Ziele bei der Elektromobilität, bei den Wärmepumpen, ich ergänze noch, bei dezentralen Solaranlagen und anderen flexiblen Lasten, dass wir das eben an die örtlichen, sogenannten Verteilnetze anschließen können. Eben ohne, dass es hier zu Einschränkungen kommt, zumindest ohne unzumutbare Einschränkungen.
Dafür muss man nur etwas tun. Dafür muss man die Verteilnetze, die lokalen Netze ausbauen, dafür brauchen wir die Digitalisierung, über die wir gerade schon gesprochen haben. Dafür brauchen wir alle diese Maßnahmen, um das zu ermöglichen. Auch hier gilt, die Bundesnetzagentur ist in dem Sinne eine Ermöglichungsbehörde. Wir haben jetzt einen Vorschlag vorgelegt, der gerade auch da in der Konsultation ist, damit wir ihn dann Richtung Herbs finalisiert haben.
Münchenberg: Da ist sogar von temporären Stromrationierungen für Wärmepumpen und E-Autos, Ladestationen die Rede.
Müller: Ja, da müssen wir präzise sein. Weil die Netze eben noch nicht so ausgebaut sind und wir aber gleichzeitig eben eine Anschlussmöglichkeit schaffen. Heute ist das einfach noch nicht gegeben, heute kann es passieren, dass Sie gerne eine Wall-Box anschließen wollen, ihr örtlicher Verteilnetzbetreiber lässt das aber gar nicht zu.
Das wollen wir gerade ermöglichen, einräumen. Damit es aber dann, wenn das zu oft passieren sollte, dass es dann eben nicht zu einem Kollaps in einem örtlichen Netz kommt, weil es eben zu viel Nachfrage auf einmal geben könnte, dafür erlauben wir eine Drosselung, ein Dimmen, wenn Sie so wollen. Vor zwei Jahren gab es einen Vorschlag, das tatsächlich abzuschalten, abzuklemmen - das haben wir nicht mehr vorgesehen, da unterscheidet sich der heute Vorschlag der Bundesnetzagentur von dem von vor zwei Jahren. Er ist deutlich freundlicher für Elektromobilität und für Wärmepumpen.
Münchenberg: Also, kein Bammel vor dem eigenen Mut?
Müller: Richtig.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.