Bericht vom Rande Europas.
Eine Lange Nacht über Estland
Von Juli Schulz
Regie: die Autorin
Dänemark, der Deutsche Orden, Polen-Litauen, Schweden, Russland, Nazi-Deutschland und wieder Russland - viele Flaggen haben über dem kleinen Land Estland geweht. Erst seit 1991 ist es unabhängig. Seitdem beschäftigen sich die Estinnen und Esten mit den Fragen: Was ist eigentlich Estnisch? Und wie gelingt eine Identitätsbildung nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft? Noch bevor die Menschen hinreichende Antworten auf diese Fragen finden konnten, beginnt Putin 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Angst davor, dass sich die eigene Landesgeschichte wiederholt, ist jetzt wieder allgegenwärtig in Estland: Wird die kleine Nation das nächste Ziel eines russischen Angriffs sein? Rund ein Viertel der Menschen in Estland gehören der russischsprachigen Minderheit an, die sehr heterogen über den Angriffskrieg denkt. Die Minderheit führt ein Leben zwischen den Identitäten. Da ist Serafima, die in einer russischsprachigen Familie in Estland aufgewachsen ist und in Narva lebt, der Stadt, die tief im Osten Estlands unmittelbar an Russland grenzt. In Russland ist Serafima die Estin, in Estland die Russin. Zwischen den Nationalitäten, versucht sie eine eigene Zugehörigkeit zu finden. Auch Ilja ist in einer russischsprachigen Familie in Narva aufgewachsen und lebt inzwischen in der Hauptstadt Tallinn. Ilja wünscht sich, dass Narva nicht mehr nur auf das Narrativ der Grenzstadt reduziert wird. Auch er fühlt sich weder als Este noch als Russe. Was macht es mit Menschen, deren Identität und Biografie von der Sowjetunion geprägt wurden? Gibt es gar einen Homo Sovieticus? Eine Lange Nacht über ein Land, in dem Frieden immer nur Übergangszustand war, die Menschen um eine eigene Identität kämpfen mussten und Russland direkter Nachbar ist.