Zwar hat Russlands Präsident Wladimir Putin zuletzt zugesichert weiter Gas zu liefern, aber längst ist eine Debatte um die Abhängigkeit des Westens von den russischen Energieexporten entbrannt. Zuletzt hatte US-Präsident Joe Biden angekündigt kein russisches Öl mehr zu importieren. Der Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin hält für die Energieträger Öl und Kohle auch eine rasche Unabhängigkeit Deutschlands von russischen Lieferungen für möglich. Trittin sagte im Deutschlandfunk, die USA und Europa zahlten jeden Tag 640 Millionen Euro an Russland – allein 200 Millionen davon entfielen auf Deutschland. Dies könne man sehr schnell sehr drastisch reduzieren.
Insbesondere gelte dies für den Bezug von Öl. Allerdings hätte ein solcher Schritt auch Folgen für die Bürger, indem etwa die Benzinpreise weiter steigen würden. Zum Energieträger Kohle erklärte Trittin, Experten gingen davon aus, dass innerhalb von einem bis drei Monaten zusätzliche Kapazitäten auf den internationalen Märkten genutzt werden könnten. Im Gasmarkt allerdings sei es komplizierter, da Deutschland nicht nur Abnehmerland, sondern auch Transitland für andere Länder sei. Auf den Weltgasmärkten sei das meiste Flüssiggas, das dort gehandelt würde, durch Verträge gebunden. Da komme man „nicht einfach heran“.
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„Haltung der NATO gut begründet“
Darüber hinaus bekräftigte Trittin die Haltung der NATO, die sich nicht in diesen Konflikt verwickeln lassen wolle. Andernfalls würde sich die Zahl der Opfer vervielfachen. Diese Haltung sei auch moralisch gut begründet. Der russische Präsident Putin habe entschieden, erstmals seit 80 Jahren in Europa einen Eroberungskrieg zu führen mit dem Ziel, die dortige Regierung zu stürzen. Dies sei ein Zeitenbruch und mehr als eine Zeitenwende, meinte der ehemaliger Bundesumweltminister in der rot-grünen Koalition. Offensichtlich sei die russische Führung davon überzeugt gewesen, diesen Krieg in wenigen Tagen beenden zu können.
„Auch in Zukunft keine europäischen Atomwaffen“
Mit Blick auf die nukleare Abschreckung hob Trittin hervor, dass es auch in Zukunft keine europäischen Atomwaffen geben werde. Europa müsse sich vielmehr darauf konzentrieren, seine Hausaufgaben zu machen und werde sich um Konflikte wie in Libyen oder Syrien künftig selber kümmern müssen. Das würden „nicht mehr die Amerikaner für uns machen“, erklärte Trittin. Deshalb sei die gegenwärtige Diskussion über einen strategischen Kompass der EU und eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik ein sehr wichtiger Schritt.
Das Interview im Wortlaut:
Christoph Heinemann: Herr Trittin, Ironie der Geschichte. Immer, wenn Bündnis 90/Die Grünen, die ja zum Teil aus der Friedensbewegung kommen, im Bund regiert, dann herrscht Krieg in Europa. Worin unterscheidet sich die Lage heute von der Zeit der Jugoslawienkriege?
Jürgen Trittin: Die Zeit der Jugoslawienkriege hatte lange, bevor Bündnis 90/Die Grünen 1998 in die Regierung eintraten, begonnen. Es ging in dieser Situation darum, dass infolge dieses Konfliktes, so nach dem Muster dieser Konflikte, Serbien versucht hat, das Kosovo durch die Vertreibung der dort angestammten Bevölkerung für sich anzueignen. Dem hat dann eine Koalition der NATO militärisch aufgehalten, zunächst ist das angedroht worden.
Diese Mission ist dann kurz nach Abschluss überführt worden in eine UN-Mission und wird bis heute als EU-Mission geführt. Jetzt haben wir es mit was anderem zu tun. Ohne Zutun von Deutschland, sondern trotz aktivster Bemühungen des Bundeskanzlers und der Bundesaußenministerin, des französischen Präsidenten und vieler anderer, hat Wladimir Putin entschieden, zum ersten Mal seit 80 Jahren, in Europa einen Eroberungskrieg zu führen, ein anderes Land zu erobern. Und das mit dem Ziel, die dortige Regierung zu stürzen. Das ist schon ein Zeitenbruch. Das ist mehr als eine Zeitenwende.
„Putin stellt Erbe der Sowjetunion in Frage“
Heinemann: Ein anderes Land erobern wollte die damalige serbische Führung ja auch. Auf welche Erfahrungen von damals können Sie heute zurückgreifen?
Trittin: Ich glaube, dass die Konflikte sich überhaupt nicht vergleichen lassen. Russland ist ein, was das Bruttosozialprodukt angeht, Land, da spielt in der Liga von Spanien. Aber ist ein Land mit Atomwaffen und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat. Bei Serbien hatte man es mit einem autoritären Herrscher zu tun, der im Wesentlichen seine Macht nach innen – da ist Herr Putin übrigens sehr, sehr ähnlich – durch einen übersteigerten Nationalismus nach außen versucht hat zu Legitimieren. Das, was jetzt stattfindet, ist eigentlich die zweite Beerdigung der Sowjetunion.
Heinemann: Inwiefern?
Trittin: Putin hat immer beklagt, dass die Aufgabe, wie er das beschrieben hat, der Sowjetunion durch die damalige Führung der KPdSU ein großer historischer Fehler geworden sei und deswegen gäbe es die nicht mehr. Das wäre schlecht für Russland.
Die Wahrheit ist: Lange vor Gorbatschow und all den Perestroika-Politikern hatte ein Erster Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU namens Leonid Breschnew 1975 mit allen Staaten Europas einen Vertrag geschlossen auf der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, wo sich mitten im Kalten Krieg hochgerüstete NATO auf der einen, hochgerüsteter Warschauer Pakt auf der anderen Seite die Staaten Europas vertraglich zugesichert haben, dass es keine Gebietsansprüche mehr gibt, ohne dass dieses friedlich geregelt wird.
Dass es keine Androhung und keine Anwendung von Gewalt zwischen den Staaten gibt. Und genau dieses wird hier brutal mit Füßen getreten. Im Grunde genommen stellt Putin in seiner Politik dieses Erbe der Sowjetunion, nämlich eine relativ stabile Friedensordnung begründet zu haben, die 40 Jahre gehalten hat, in Frage.
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Heinemann: Apropos Stabilität. Putins Ukraine-Krieg liegt ja offenbar eine gewaltige politische und militärische auch Fehlplanung zugrunde. Was glauben Sie, wie fest sitzt Putin noch im Sattel?
Trittin: Ich bin da sehr zurückhaltend. Ich glaube, die Asymmetrie, jetzt im Kräfteverhältnis zwischen Russland und Ukraine bei aller Bewunderung auch für die Tapferkeit oder auch von mir aus für die Häme, für die Langsamkeit auf der russischen Seite, die Tapferkeit auf der ukrainischen Seite, darf man die nicht vergessen.
Offensichtlich war die russische Führung davon überzeugt, diesen Krieg in wenigen Tagen beenden zu können. Offensichtlich hatten sie sich darauf sowohl mit Treibstoff und Nahrungsmitteln eingestellt. Das ist nicht eingetreten, unter anderem, weil auch das nicht eingetreten ist, was nämlich viele, glaube ich, in Russland ernsthaft geglaubt haben – die sind auch Opfer ihrer eigenen Propaganda –, dass nämlich weite Teile der Bevölkerung der Ukraine, weil sie beispielsweise in der Erstsprache Russisch sprechen, ihnen zujubeln würden. Das fand nicht statt – im Gegenteil.
Und zum Zweiten haben sie sich wahrscheinlich auch geirrt, was die Fähigkeiten angeht, die die russische Armee hat, in die ja weite Teile der Rohstoffeinnahmen der letzten Jahre – die sind ja in Russland nicht der Bevölkerung zugutegekommen, sondern eben der Modernisierung und Aufrüstung der russischen Armee. Das scheint nicht so erfolgreich gewesen zu sein wie Putin sich das versprochen hat.
„NATO-Osterweiterung hat mit Zustimmung Russlands stattgefunden“
Heinemann: Herr Trittin, in Teilen der Ukraine werden die Toten inzwischen in Plastiksäcken in Massengräbern beigesetzt. Wird sich die NATO heraushalten können, sollte Putin Kiew in ein Aleppo verwandeln?
Trittin: Es gibt da eine ganz klare Haltung der NATO. Wir werden uns in diesen Konflikt nicht verwickeln lassen. Das ist auch richtig so, weil wenn sie das tun würde, würde die Zahl der Opfer sich vervierfachen. Das klingt jetzt hart, diese Entscheidung der NATO, aber sie ist auch moralisch gut begründet.
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Heinemann: Wird am Dnepr und am Don auch Deutschlands Freiheit verteidigt?
Trittin: Erst mal wird am Dnepr und am Don von den Ukrainern diese Friedensordnung verteidigt und es wird verteidigt, ihre Entscheidung Teil Europas zu sein. Es ist ja eine grandiose Lüge zu sagen, der arme Wladimir Putin hätte sich nicht anders zu helfen gewusst, weil die NATO ihm immer weiter auf den Pelz gerückt ist als hier zu intervenieren. Das ist nicht der Fall.
Heinemann: Die erste Hälfte des Satzes stimmt, dass ihm die NATO immer näher auf den Pelz gerückt sei.
Trittin: Nein. Die Osterweiterung der NATO hat mit Zustimmung Russlands stattgefunden. Da gibt es sogar eine Vereinbarung drüber. Nennt sich NATO-Russland-Akte. Und was die Ukraine angeht, so hat der deutsche Bundeskanzler noch 14 Tage vor dem Überfall von Putin auf die Ukraine klargestellt, dass das keine Perspektive für die Ukraine ist. Der Grund, warum Putin schon 2014 durch verdeckte Söldner, durch irreguläre Truppen und ganz offen mit militärischer Gewalt dann auf der Krim agiert hat, war nicht die Entscheidung für die NATO, sondern war die Entscheidung der ukrainischen Bevölkerung für eine Assoziierung mit der Europäischen Union. Es war sozusagen das Rechtsstaatsmodell Europa und nicht die Bedrohung durch die NATO, die ihn zu militärischen Mitteln hat greifen lassen.
Heinemann: Also, Sie sagen, die Ukrainer kämpfen auch für ihre Zugehörigkeit zu Europa, zur europäischen Union?
Trittin: So ist es.
Heinemann: Jetzt haben die Staats- und Regierungschefs dieser EU gerade in Versailles beschlossen, dass sie den EU-Beitritt der Ukraine auf die übliche lange Bank schieben wollen. Welches Signal geht davon aus Richtung Kiew, aber auch Richtung Moskau?
Trittin: Das ist richtig. Es ist ja nicht so, dass sie der Europäischen Union beitreten, wie sie beispielsweise dem SV Werder Bremen beitreten. Sondern das setzt natürlich einen umfassenden Prozess in den jeweiligen Ländern voraus, was ihre gesamte Gesetzlichkeit angeht, was ihre Strukturen angeht und insbesondere setzt das sehr viele Investitionen voraus, was ihre Wettbewerbsfähigkeit angeht.
Wenn man ein Land, zumal von einem Krieg gebeutelt, mal einfach dem Binnenmarkt der Europäischen Union von heute auf morgen aussetzen würde, wäre das ganz, ganz schlecht für das Land. Und deswegen gibt es diesen Beitrittsprozess. Und diese Tür ist aufgemacht worden und das ist die gute Botschaft.
Heinemann: Also, Bürokratie muss Bürokratie bleiben?
Trittin: Es geht nicht um Bürokratie. Es geht darum, dass zum Beispiel bestimmte Regeln angehen … wir haben gerade diese Diskussion mit unseren polnischen Freunden und mit den ungarischen Freunden, was beispielsweise die unabhängige Kontrolle der Verwendung von Europäischen Mitteln angeht. Es geht darum, dass es beispielsweise Freizügigkeit gibt für Unternehmen, sich hier anzusiedeln und für Arbeitnehmer und Unternehmen aus der Ukraine sich anderswo anzusiedeln. Das sind alles Fragen, die kann man natürlich mit dem Wort Bürokratie belegen, aber sie zu regeln, ist sinnvoll.
Öl als Einnahmequelle Putins trocken legen
Heinemann: Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Jürgen Trittin, dem außenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Herr Trittin, die Gretchenfrage: Wie halten wir es mit der Einfuhr von Gas und Öl aus Russland? Was spricht dagegen, die wichtigste Einnahmequelle dieser russischen Regierung jetzt sofort trockenzulegen?
Trittin: Es spricht überhaupt nichts dagegen, diese Einnahmequelle trockenzulegen. Die USA und Europa zahlen jeden Tag 640 Millionen Euro. Deutschland überweist wohl alleine jeden Tag 200 Millionen Euro an Russland. Das kann man sehr schnell, sehr drastisch reduzieren.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir im Bereich des Erhalts von Öl – 35 Prozent unseres Öls kommen aus Russland, die Ölmärkte sind völlig Liquide, dieses tun können. Das hätte, das muss man den Bürgerinnen und Bürgern auch sagen, Folgen. Die jetzt schon in die Nähe alter grüner Forderungen gehenden Benzinpreise werden noch weiter steigen. Wir sind auch in der Lage, sehr, sehr kurzfristig, da reden die Experten von ein, zwei, drei Monaten, zusätzliche Kapazitäten auf den Kohlemärkten der Welt … das ist allerdings auch eine Herausforderung.
Wenn sie in Kolumbien, in Indonesien oder in Australien Kohle kaufen, die sie bisher aus Russland bezogen haben, da … und ich glaube auch, dass man die Nachfrage nach Gas deutlich verringern kann. Also, von den 200 Millionen könnte man sehr schnell sehr, sehr viel reduzieren. Im Gasmarkt ist es etwas komplizierter. Da reden wir nicht nur über Deutschland. Deutschland ist da nicht nur Abnehmerland. Es ist auch Transitland, Hub für andere Länder. Und da haben wir zusätzlich das Problem, dass auf den Weltgasmärkten, was Flüssiggas angeht, das Meiste, was dort gehandelt ist, heute durch Verträge gebunden ist. Da kommt man nicht einfach ran.
Heinemann: Wer erklärt Ihre Position der Bundesregierung?
Trittin: Ich glaube, dass die Bundesregierung sehr nah an meiner Position ist, denn ich habe das, was ich eben vorgetragen habe, aus Papieren der Bundesregierung entnommen.
Heinemann: Die Bundesregierung hat doch bisher „njet“ gesagt.
Trittin: Nein, das haben sie nicht gesagt. Gerade der Bundeswirtschaftsminister hat gesagt, wir müssen da schnell raus. Aber wir können die Versäumnisse von 16 Jahren verfehlter Klimapolitik, das heißt, 16 Jahre hat man nichts dafür getan, beispielsweise Gebäude besser zu isolieren. Man hat zugeguckt, wie die Verkehrsemissionen immer weiter gestiegen sind. Das hat uns ja in diese miese Situation gebracht, dass wir heute so abhängig sind.
Jetzt reiben sich alle die Augen und sagen: Ach, das haben die Grünen ja immer gesagt, dass man da so abhängig ist. Und jetzt erfahren wir es. Ja, das ist so. Aber das muss man dann auch nachdrücklich abstellen. Nur, man muss sich immer über die Preise und über die Möglichkeit eines zu späten Handelns klarwerden. Und da sage ich, bei Öl und Kohle kann man eigentlich ziemlich schnell handeln. Und bei Gas werden wir zwei, drei Jahre brauchen, um die Strukturen aufzubauen, die wir haben auf den Weltgasmärkten, um das tatsächlich so in den Griff zu kriegen, dass wir uns nicht mehr schädigen als wir Russland schädigen.
"Wir können sehr schnell, aber eben nicht sofort, den Gasverbrauch reduzieren"
Heinemann: Friedrich Merz fordert: Nord Stream 1 dichtmachen, und zwar jetzt. Unterstützen Sie den CDU-Chef?
Trittin: Ach, ich verkneife es mir, Forderungen aus der Opposition, die da aus Ecken kommen, die noch vor einem halben Jahr der Auffassung waren, nicht nur Nord Stream 1 sei gut, sondern Nord Stream 2 sei noch besser und ein privatwirtschaftliches Projekt ... das muss halt Friedrich Merz mit sich selber ausmachen. Ich halte es für klug, den Menschen die Wahrheit zu sagen.
Und die Wahrheit ist: Wir können sehr schnell aus Kohle und Öl aus Russland aussteigen. Das hat einen Preis, und zwar einen richtig monetären Preis. Aber wir sollten bereit sein, ihn zu zahlen. Und wir können sehr schnell, aber eben nicht sofort, den Gasverbrauch reduzieren. Auch dies wird einen Preis haben. Aber das ist die Wahrheit. Und alles andere ist, glaube ich, schlankes Gerede.
Heinemann: Die deutsche Energiepolitik setzt ja auf Gas als grundlastfähiger Energiequelle und damit eben auch auf diese hohe Abhängigkeit von Russland. Wie rasch kann dieser Fehler korrigiert werden?
Trittin: Wir haben in den Beratungen zu Fit for 55, also dem Plan der Europäischen Kommission, Europa bis 2030 auf eine Reduktion von 55 Prozent runterzubringen, ja im Grunde genommen die Eckpunkte festgelegt. Das heißt, dass Gas nur noch im Übergang verwendet wird, dass neue Gaskraftwerke über ihre Lebenszeit nicht mehr als 200 g CO2 pro Kilowattstunde ausstoßen dürfen.
Das heißt mit anderen Worten, über ihren Lebenszyklus Dreiviertel der Zeit mit Wasserstoff oder anderen erneuerbar produzierten Gasen. Und es wird – und das ist inzwischen ja sogar geltendes Recht in der EU, siehe die Taxonomie-Verordnung ab 2035 – überhaupt keine Möglichkeit mehr geben, mit Naturgas betriebene Kraftwerke in der Verstromung einzusetzen.
Heinemann: Kurzfristig bleiben wir aber abhängig. Warum wird zum Beispiel nicht die Laufzeit von Atomkraftwerken verlängert?
Trittin: Weil ich dann mehr Kohle verbrennen muss und mir nicht geholfen ist, weil ich dann noch mehr Kohle aus Kolumbien kaufen müsste.
Heinemann: Atomkraftwerke mit Kohle?
Trittin: Nein, wenn ich die … das ist das Ergebnis der Prüfung. Muss man ja mal zur Kenntnis nehmen. Wenn ich die Laufzeit der drei bestehenden Kraftwerke – und nur um die geht es, also, um 3,8 Gigawatt Leistung, ist nicht besonders viel – wenn ich die verlängern will, muss ich erst mal den Betrieb runterfahren für die Frage von Brennelementen und ähnlichen. Ob ich dann neue Brennelemente kriege, das ist noch eine andere Frage.
Aber in der Zeit muss ich erst mal Kohlekraftwerke dann hochfahren, um die Leistung auszugleichen. Deswegen ist das Wirtschaftsministerium mit dem Umweltministerium zu der Auffassung gekommen: Es bringt unter keinem Aspekt, weder dem Aspekt der Versorgungssicherheit, noch unter dem Aspekt des Klimaschutzes irgendetwas.
Marode französische Atomkraftwerke
Heinemann: Nun hat Emmanuel Macron gerade 50 Milliarden Euro für neue Atomkraftwerke in Aussicht gestellt. Frankreich ist nur zu 17 Prozent von russischem Gas abhängig. Noch mal die Zahl: Deutschland 55 Prozent. Wer ist da der Verlierer? Frankreich oder Deutschland?
Trittin: Ja, Frankreich ist der Verlierer, weil ein Teil der Kohle aus Russland, die wir an Deutschland verbrennen, müssen wir hier verbrennen, weil wir damit den Franzosen aushelfen in diesem Winter und Strom bekommen. Die Franzosen haben das Problem, dass ihre Atomkraftwerke dermaßen marode sind. Und die werden in zehn Jahren noch viel maroder sein. Und da wird noch kein neues dazu gebaut sein.
Dass sie sehr, sehr viel Geld in die Hand nehmen müssen, sie instand zu setzen. Zurzeit steht ein Viertel der französischen Atomkraftwerksflotte still. Wir versorgen Frankreich mit Strom und verbrennen dafür Kohle aus Russland. Wer ist da schlauer?
Heinemann: Bei den Waffenlieferungen – das war ja unser großer Zusammenhang dieser Frage – musste die Bundesregierung ja zum Jagen getragen werden. Halten Sie es für ausgeschlossen, dass die Bundesregierung jetzt in den kommenden Wochen doch noch sagt, jetzt Schluss mit der Einfuhr russischer Energie?
Trittin: Ich glaube, dass wir daran sind, die Einfuhr russischer Energie deutlich zu reduzieren.
Heinemann: Na ja, Sie haben ja eben gesagt, das dauert und der Beschluss aus Versailles ist jetzt bis 2027 …
Trittin: Nein, ich habe nicht gesagt … ich war da sehr präzise. Ich habe gesagt: Kohle und Öl gehen sofort. Was nicht geht, ist im Bereich des Gases. Und das ist ein ernstes Problem, dem man sich stellen muss. Und das ist ein Erbe einer schlechten Politik. Wir haben heute eine Situation, die wir nicht hätten, wenn wir zum Beispiel in den letzten zehn Jahren drei Prozent unseres Gebäudebestandes ordentlich wärmegedämmt hätten.
Wir hätten das nicht, wenn wir nicht in der Situation gewesen wären, zum Beispiel weiterhin den Einbau von Gasheizung mit Steuermitteln zu finanzieren. Das schafft jetzt erst diese Koalition ab. Wenn schon damals die Regel gelten würde, wenn neu, dann nur Wärmepumpe und erneuerbarer Strom, dann wären wir schon sehr, sehr viel weiter, was den Verbrauch von Gas angeht.
Man muss nämlich auch wissen, gerade Gas wird in Deutschland neben der Industrie fast ausschließlich in der Wärmebereitstellung benutzt und nicht in der Verstromung. In der Verstromung zurzeit schon gar nicht, weil eben die Gaspreise weltweit so explodiert sind, noch stärker als die Kohlepreise.
Heinemann: Herr Trittin, wann und wie haben Sie von den geplanten 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr erfahren.
Trittin: Ich persönlich habe davon während der Rede des Bundeskanzlers erfahren, weil anders, als bei den üblichen Dingen diese Regierungserklärung nicht abgestimmt und vorher an die Fraktionsspitzen gegangen ist.
Heinemann: Warum nicht?
Trittin: Ich würde mal gutartig unterstellen, das hatte was mit dem Zeitdruck zu tun. Es handelte sich um eine Sondersitzung an einem Sonntag, an dem am Donnerstag zuvor ein Krieg begonnen hatte, der alle Kräfte und alles erst mal absorbiert hat, auch mit den ersten Maßnahmen.
Die Bundesregierung musste ein sehr, sehr umfassendes, das schärfste Sanktionspaket, das die Europäische Union je verabschiedet hat, auf den Weg bringen. Und dass in diesem Zusammenhang die Abstimmung über die Schlussfassung einer Regierungserklärung zwischen den Ressorts mal ausfallen kann, dafür habe ich Verständnis. Wir als Fraktion haben das erst während der Rede erfahren.
Heinemann: Sie sind der wichtigste Außenpolitiker der Grünen im Bundestag, das heißt einer Regierungsfraktion. Geht man so mit Regierungspartnern um?
Trittin: Es ist so, dass wir an dieser Stelle oder ich Verständnis dafür habe, dass man an der Stelle in der Eile das nicht so abstimmen konnte, wie man das im normalen Geschäftsgang machen würde.
Heinemann: Herr Trittin, stehen die Grünen ohne Wenn und Aber zur Ertüchtigung der Bundeswehr?
Trittin: Das, was der Bundeskanzler in seiner Rede erklärt hat, war teilweise wörtlich die Koalitionsvereinbarung der Ampel. Dass wir den Nachfolger für den Tornado sehr schnell entscheiden werden. Er hat jetzt sogar einen Typen genannt. Da hat es jetzt keine Verabredung drüber gegeben, aber so steht es in der Koalitionsvereinbarung.
Es steht in der Koalitionsvereinbarung und wird gerade durch die Erfahrung, die wir alle, Gott sei Dank nicht direkt, aber über die Medien machen, auf dem Schlachtfeld der Ukraine sehen, es soll die Bundeswehr ausgestattet werden, ihre Drohnen mit Waffen. Und es soll eine europäische Drohne entwickelt werden. Und es soll ein europäisches Mehrzweckkampfflugzeug gesichert werden.
Auch dieses ist schon beschlossen. Dass wir dies bisher nicht hinbekommen haben, hat unter anderem damit zu tun, dass es vorherige Regierungen fertiggebracht haben, fast so viel für Rüstung auszugeben wie Russland, aber dann nicht in der Lage sind, Soldatinnen und Soldaten, die wir nach Litauen schicken, mit anständiger Winterbekleidung auszustatten.
Trittin erwartet Diskussionen zur Einrichtung des Sondervermögens für die Bundeswehr
Heinemann: Ist die Frage, Herr Trittin, ob Sie das hinbekommen werden. Denn wenige Tage nach Olaf Scholz‘ Regierungserklärung haben Jessica Rosenthal von der SPD und Ihr Parteifreund Frank Bsirske die 100 Milliarden für die Bundeswehr schon infrage gestellt.
Trittin: Es wird ja noch sehr lange Diskussionen geben. Wie Sie wissen, ist die Einrichtung eines Sondervermögens, was ich persönlich nicht unbedingt für zwingend halte, aber vom Bundeskanzler vorgeschlagen worden über eine Veränderung des Grundgesetzes. Und bekanntermaßen gibt es die nur, wenn die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zustimmt und auch die christdemokratisch geführten oder beteiligten Länder im Bundesrat nicht die Koalitionskarte ziehen. Also, ich glaube, da wird es noch relativ viele Diskussionen geben.
Was den Betrag angeht, ist das eine realistische Größenordnung. Wenn ich die Beschaffungsvorhaben nehme, die da sind, dann reden wir über einen zeitlichen Horizont von mehr als einem Jahrzehnt. Dann sind das zwischen fünf und 10 Milliarden jedes Jahr mehr, die über Kredite finanziert werden sollen.
Wenn ich dann danebenlege, dass zur Sicherung der Energiesicherheit in Deutschland neben den jetzt schon vorhandenen 100 Milliarden im Energie- und Klimafonds noch mal gut 100 Milliarden obendrauf kommen, um uns schneller unabhängig unter anderem von russischem Gas, aber generell von fossilen Energien zu machen, dann ist das erst mal ein Paket. Das ist bitter für die Staatsfinanzen, aber es ist eine vernünftige Antwort auf das, was wir gerade in der Ukraine erfahren.
Heinemann: Sie sagten gerade, da gibt es noch viele Diskussionen. Meinen Sie damit in Ihrer Fraktion, in Ihrer Partei?
Trittin: Nein. Ich habe ja bewusst auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass die Union daran beteiligt werden muss.
Heinemann: Die hat doch längst ihre Unterstützung zugesagt.
Trittin: Ich höre anderes. Und ich mache gerade die Erfahrung, dass die Union in der Opposition offensichtlich dabei ist, sozusagen die Kaspereien anderer Oppositionsfraktionen zu imitieren. Ich kenne zum Beispiel keinen Ministerpräsidenten der Christdemokraten und auch keinen Vizeministerpräsidenten der Christdemokraten, der nicht für eine Impfpflicht wäre.
Trotzdem hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beschlossen, erst mal die Impfpflicht zu blockieren. Deswegen bin ich sehr vorsichtig, was das Verhalten der CDU/CSU zu einer vorgeschlagenen Verfassungsänderung angeht. Und Friedrich Merz hat ja im Plenum da auch schon entsprechende Vorbehalte angemeldet. Er will sich beispielsweise ein Mitspracherecht über bestimmte Regeln im Haushalt absichern und ähnliche Dinge.
„Es wird keine europäischen Atomwaffen geben“
Heinemann: Also, er hat gesagt, es gibt keinen Blanko-Scheck.
Trittin: Ja, deswegen sage ich ja. Da wird es noch viele Diskussionen geben.
Heinemann: Apropos Diskussionen. Als Joschka Fischer die Bundeswehr – und damit kehren wir zurück zum Beginn unseres Gespräches – in den Kosovo-Krieg führte, flog im Mai 1999 noch ein Farbbeutel. Heute stimmen die Grünen Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet und 100 Milliarden für die Bundeswehr zu. Was ist los mit den Grünen?
Trittin: Die Grünen haben sich entschieden, in einer Politik, die auf der einen Seite durch die Vorlage eines Rüstungsexportkontrollgesetzes die Lieferung von Waffen an Kriegsverbrecher, wie Saudi-Arabien, die bis in die jüngste Vergangenheit stattgefunden haben, zu beenden.
Und sie haben, nachdem es einen Überfall auf die Ukraine gegeben hat, entschieden, dass sie diese Ukraine, die das Recht auf Selbstverteidigung, festgelegt in der UN-Charta, hat, dann mit entsprechenden Waffen auch auszustatten. Das ist die Entscheidung, die wir getroffen haben. Und ich finde, das zeigt, dass die Grünen eine lange Tradition haben, nämlich als die Partei des Multilateralismus und der Vereinten Nationen.
Heinemann: Am Anfang standen ja 5.000 Helme. Und dann hat der polnische Ministerpräsident in Berlin gesagt, auf Deutsch, Mateusz Morawiecki: „Das ist ein Witz.“ Wann war Ihnen klar, dass der Mann recht hat?
Trittin: In dem Moment, als ich die Nachricht von den 5.000 Helmen gehört habe, weil ich wusste, wie es ausgeht. Die Ukraine hatte danach gefragt. Wir haben geguckt: Was können wir sofort liefern? Und da wusste ich, wenn wir das jetzt sagen, dann werden alle sagen, das ist ja wohl ein schlechter Witz. Das ist ein Witz gewesen.
Heinemann: Herr Trittin, stellen Sie sich vor, in zweieinhalb Jahren wird Donald Trump wieder zum Präsidenten gewählt, der die NATO und den Schutz durch US-Atomwaffen ja infrage gestellt hat. Was muss bis dahin passieren? Und was bedeutete das für den europäischen Teil der NATO?
Trittin: Man muss mal verstehen, dass wir abgestimmte Sanktionen haben zwischen den USA und Europa, und dass diese Form der Abstimmung mit einem Präsidenten Trump nicht möglich gewesen wäre. Und wenn es Deutschland, Europa, den USA, allen gemeinsam gelungen ist, in der UN-Generalversammlung 141 Staaten dahin zu kriegen, diesen Krieg zu verurteilen, übergeblieben sind fünf Unterstützer für Russland. So wenig hatte niemals die Sowjetunion. All dieses wäre mit einer trumpistischen Administration nicht möglich gewesen. Und das muss man sich jeden Tag klarmachen, wie gut es ist, dass wir jetzt mit dieser Administration zu tun haben.
Wir müssen – und das ist genau das, was wir jetzt in Europa diskutieren – uns aber auf eine Situation vorbereiten, wo das nicht mehr so ist. Und deswegen ist die Diskussion, die jetzt in Versailles ein vorläufiges Ende gefunden hat, über einen strategischen Kompass der Europäischen Union, über eine stärkere europäische Außen- und Sicherheitspolitik ein sehr wichtiger Schritt.
Heinemann: Heißt das auch europäische Atomwaffen?
Trittin: Es wird keine europäischen Atomwaffen geben, aber wir haben uns in erster Linie darauf zu konzentrieren, unsere Hausaufgaben zu machen. Und das heißt zum Beispiel, wir werden künftig für Konflikte, wie in Libyen und Syrien, die verschwinden ja nicht durch den Krieg in der Ukraine, selber kümmern müssen. Und das werden nicht mehr die Amerikaner für uns machen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.