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Schale Freiheit
Nachdenken über einen zerfledderten Sachverhalt

In der Pandemie ist „Freiheit“ vielerorts zu einem Schlachtruf herabgesunken. Vermeintliche Freiheitskämpfer unterliegen oft drei Missverständnissen: Sie meinen, wir seien von Natur aus frei, sie halten Freiheit für ein Eigentum und sie suchen keinen Ausgleich zwischen "positiver" und "negativer" Freiheit.

Von Jean-Pierre Wils | 13.02.2022
Bei einer angemeldeten Demo unter dem Motto Nein zum Impfzwang demonstrierten etwa 9.000 Gegner einer Impfpflicht mit einem Spaziergang gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung und für eine individuelle Impfentscheidung, Grundrechte und unversehrte Kinder - darunter auch viele Pflegekräfte, die wegen der Impfpflicht im Gesundheitsbereich ihren Job zu verlieren drohen. Düsseldorf, 22.01.2022
Freiheitsproteste haben Hochkonjunktur (imago images/Future Image)
„Nachdenken über einen zerfledderten Sachverhalt“ nennt Autor Jean-Pierre Wils seinen Essay zur Freiheit, die heute wie ein Fanal des Widerstands gegen staatliche Vorkehrungen herausgerufen wird, besonders von diktatur-erfahrenen Menschen. Auch im liberalen Milieu fällt es offenbar schwer, Substanzielles über Freiheit auszusagen: Diese hat dort lediglich einen starken Ich-Index, mit dem die Bedürfnisse der anderen, nicht zuletzt auch deren Leiden auf Abstand gehalten werden. Also ohne ein komplexes Fundament, das aus vielfältigen Begrenzungen und Verpflichtungen besteht? Wie konnte unsere Freiheit so schal werden, so selbst- und magersüchtig?
Jean-Pierre Wils studierte in Leuven und Tübingen und lehrt an der Universität Nijmegen Philosophie. Zuletzt erschien von ihm: “Sich den Tod geben: Suizid als letzte Emanzipation?” (S. Hirzel Verlag, 2021).

Freiheitsproteste haben Hochkonjunktur. ‚Freiheit‘ ist zum monotonen Thema unterschiedlichster Arten des Widerstands gegen Maßnahmen und Regelungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie geworden. Wie ein Gral wird nach ihr gefahndet, als sei die Freiheit uns gänzlich abhanden gekommen.
Es türmen sich die Fragen auf. Wieso ist unsere Auffassung, was Freiheit sei, so verworren und so schal geworden? Warum ist die Impfspritze zur "Giftspritze", zum Menetekel einer systemischen Invasion in die Integritätssphäre unseres Körpers geworden? Hat die Pandemiebekämpfung uns tatsächlich in die Fesseln eines erfindungsreichen neuen Totalitarismus gelegt?

Ein illustrer Kreis gibt sich als Freiheitskämpfer

Im Umkreis beunruhigter Bürger tummeln sich unterschiedlichste Auffassungen. Die einen vermuten, inmitten einer Demokratiedämmerung Zeuge einer sich einschleichenden Neuen Diktatur zu sein. Andere wiederum legen sich den Deckmantel der Demokratieverteidiger um, liebäugeln aber mit einem homogenen Nationalstaat, der völkisch und autoritär stabilisiert werden sollte. Und alle tun das im Namen ihres allergrößten Sorgenkindes, im Namen der "Freiheit".
Das Covid-Virus wurde zum willkommenen Anlass, der uns – sei es als Naturgegebenheit, sei es als Fake-News-Phänomen – mit dem korrupten Zustand unseres Gemeinwesens konfrontiert und auf die fragwürdigen Strippenzieher hinter dessen Kulissen aufmerksam werden lässt. Dabei scheint uns entgangen zu sein, dass die bösen Gesellen eines elitären, weltweit operierenden Netzwerks mit freiheitsdestruktiver Agenda dabei sind, ganze Staaten unter ihre Knute zu zwingen.

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Woher stammt diese Konfusion? Sind die Bewohnerinnen von Tälern, also die Bürger in Bergregionen, anfälliger für Verschwörungsmythen als Flachlandbewohner?
Läuten die Glocken am Halse Schweizer Kühe, angeführt von Bauern in ostentativer Tracht, die Stunde des Widerstands gegen die Unvernunft von Wissenschaft und bürgerferner Politik ein, gleichsam als tierische Reminiszenz an heile Natur und vormoderne Heimatseligkeit? Sind wir Augenzeugen einer neo-romantischen Naturverklärung, einer Art deutscher Antimoderne?
Eine Demonstrantin hält ein Schild mit der Aufschrift "Wie viele Impftote wollt ihr noch? (Impfschäden Offenlegen)!". Die Demonstration richtet sich gegen die staatlichen Corona-Regeln.
Corona-Proteste in Düsseldorf. (Federico Gambarini/dpa)
"Freiheit" ist mutiert zu einer Begriffsmaske höchst ungewissen Inhalts.
Uneinigkeit über Maßnahmen, die Grundrechte zeitweilig einschränken, gehört gewiss zu einer lebendigen Demokratie. Aber unter dem Leitstern der "Freiheit" kommen inzwischen äußerst befremdliche Koalitionen zustande. Querdenker und religiöse Fundamentalisten, Heilpraktiker und "Sieg-Heil-Praktiker", Esoteriker höchst unterschiedlichen Zuschnitts und Achtsamkeitsprediger diverser Spiritualität. Regenbogenfahnenträger und Reichskriegsflaggenverehrer, "Spaziergänger" und Verächter der liberalen Demokratie marschieren – angeblich freiheitsgesonnen – in ziemlicher Eintracht, solange das Feindbild mit seinem virologischen, pharmazeutischen und politischen Zuschnitt hält, lockt und provoziert. Was die eherne Vokabel "Freiheit" meint, bleibt jedoch im Ungewissen, um nicht zu sagen im Trüben.

Zahlreiche Missverständnisse zur Freiheit

Um dieser Entleerung des Freiheitsbegriffs auf die Spur zu kommen, gilt es, einige elementare Missverständnisse über Freiheit ins Visier zu nehmen. Diese sind miteinander verwoben, aber es lohnt sich, jedes für sich etwas genauer anzuschauen.
Missverständis eins: Wir seien von Natur aus frei
Das erste Missverständnis nennen wir den "Naturalismus‘ der Freiheit, es kann als das "naturalistische" bezeichnet werden.
Dem Philosophen Christoph Menke zufolge durchzieht die Moderne diese Annahme: „Der Mensch ist von Natur aus frei.“
Aus dieser Sicht werden wir gleichsam mit dem Merkmal der Freiheit geboren. Die Freiheit gehört zu unserer Ausstattung, gleichsam seit unserem Auf-die-Welt-Kommen. Wenn man in der Lage wäre, einen Neugeborenen zu fragen, was er für ein Wesen sei, würde er demzufolge sofort antworten: „Ich bin ein freies Wesen.“
Die Freiheit ist demnach keine Errungenschaft, sie muss nicht erst erkämpft und erstritten werden, sondern stellt so etwas wie eine substanzielle Vorgabe dar, ein primäres Datum unserer Existenz.
Diese Auffassung hat schwerwiegende Folgen: Wenn wir nämlich bereits frei sind, nämlich "von Natur aus", dann verbleiben wir in all unseren Freiheitsbestrebungen im eigenen Radius. Sobald wir das Wort "Freiheit" aussprechen, befinden wir uns in einem Raum ständiger Eigenresonanz. Es ist ein "stolzes Ich", das frei ist und dies bleiben möchte. Es schwillt nicht selten zu einem "adipösen Ich" an.

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Diese Sichtweise sei, so Philosoph Menke, „keine spekulative Extravaganz, auf die die Selbstauszeichnung moderner Gesellschaften als Gesellschaften der Freiheit auch verzichten könnte. Sie ist grundlegend für den modernen Freiheitsbegriff. Denn sie sagt aus, wie wir nach modernem Verständnis frei sind. Wir sind es von Natur aus.“
Im Sog dieser Überzeugung schrumpft die Bereitschaft, meine Freiheitsbestrebungen zu rechtfertigen, denn für das, was ich "von Natur aus" bin, nämlich frei, muss ich doch keine Gründe angeben? Wäre das so, wäre ich nicht "von Natur aus" frei. Und in diese Freiheit sollte möglichst wenig eingegriffen werden. Wenn ich mein eigener Resonanzkörper in Freiheitsangelegenheiten bin, gilt geradezu das Gegenteil. Diese Freiheit hat Reichweitenvergrößerung in ihrem Schlepptau. Sie will mehr, möchte sich entfalten können. Sie benutzt mit Vorliebe die Sprache subjektiver Rechte.
Meine Optionen sollten nicht eingeschränkt werden. Freiheit heißt für mich wollen können. Ich sollte das von mir Gewollte aber auch tun dürfen. Menke sagt, es ist „ein Subjekt des Eigenwillens“ entstanden, stolz auf seine „Privatautonomie".
Wir müssen davon ausgehen, dass diese Sicht bei nicht wenigen Zeitgenossen zu einem Bestandteil ihrer persönlichen DNA in gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten geworden ist. Und der Liberalismus arbeitet sich an dieser Philosophie ab. Für ihn befindet sich die Freiheit des Einzelnen unangefochten an der Spitze aller Werte und aller Rücksichten. Die Gesundheit der Bürger und Bürgerinnen, so ließ noch unlängst ein neuer liberaler Bundesminister verlauten, sei wichtig, aber wichtiger sei „die Freiheit“. Wie ein Fetisch wird dieser "Naturalismus" der Freiheit herumgereicht und in einer Art säkularer Verehrung zu einem Ersatzheiligtum umgeformt, dessen Hüter die höheren Weihen des Liberalismus erhalten haben.
Was ist mit uns geschehen, dass wir in eine so große Begriffsverwirrung – in eine "Freiheitsbegriffsverwirrung" – geraten sind?
Wie konnte die "Freiheit" einen solchen Fetischcharakter bekommen, der uns von jedem Nachdenken über sie scheinbar befreit?
Missverständnis zwei: Freiheit sei ein Eigentum
Das zweite Missverständnis heißt das "absolutistische" Missverständnis der Freiheit. Es besagt, dass die Freiheit mein Eigentum sei, demnach im Grunde unteilbar ist. Sie ist etwas, das ich besitze oder nicht besitze. Und das Eigentum hat bekanntlich den Nimbus des nahezu Unantastbaren. Es ist das isolierte Individuum, das sich hier zu Wort meldet und der Meinung ist, über eine solche Freiheit zu verfügen. Es wird über Freiheit geredet, indem der mühsame Weg der Emanzipation aus Abhängigkeit und Unterdrückung, aus sozialer Not und politischer Bevormundung gleichsam außer Sicht geraten ist.
Die Freiheit ist zum Gegenstück des Sozialen, zum Widerpart von Solidarpflichten, zu einem Fluchtreflex angesichts der sich manifestierenden Ansprüche anderer geworden. Es ist diesen Einzelnen offenbar fremd geworden, dass unsere Handlungsfreiheit, unsere Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit sich allesamt einem komplexen Netzwerk von Erlaubnissen und Verboten, von Lizenzen und Limitierungen verdanken, ohne welches alle diese Freiheitsäußerungen zugrunde gingen.
Der Jurist und Rechtsphilosoph Christoph Möllers spricht in diesem Zusammenhang von „Freiheitsgraden“. Freiheit ist demzufolge nicht in die dichotome Logik eines Entweder-Oder übersetzbar. Ich bin nicht entweder im Besitz schrankenloser Freiheit oder gänzlich unfrei. Ich bin nicht das alleinige Subjekt meiner Freiheit, das unbehelligt durch andere seine Freiheitsrechte bis zur Neige auskosten kann und diese als seinen kostbaren Alleinbesitz frönen darf.
Möllers sagt: „Es gibt keinen Primat der individuellen vor der gemeinschaftlichen Freiheit, schon weil sich auch Individualität nur als soziales Phänomen beschreiben lässt, noch dazu als eines, das sich nicht alle wünschen. Beide Arten von Freiheit sind deswegen politische Freiheiten.“
Das "absolutistische" Missverständnis leidet demnach an einer tiefen Politik- und Sozialvergessenheit, an einem gravierenden Gedächtnisverlust hinsichtlich der Vorleistungen, die andere erbringen müssen, also gezwungen sind zu erbringen, damit wir – jeder Einzelne von uns – frei sein kann.
Die Verwechslung von Freiheit mit Eigensinn übersieht – mutwillig oder nicht –, dass nur ein Freiheits-Gradualismus, also eine Abstufung freiheitlicher Praktiken, dieses hohe Gut in unserem persönlichen Leben garantieren kann. Das Maß an Einschränkungen muss dabei jederzeit politisch, zumindest in Demokratien, verhandelbar sein. Und genau dieses Aushandeln erleben wir seit nahezu zwei Pandemiejahren.
Gewiss, Freiheit ist ein hohes persönliches Gut. Darüber hinaus ist sie ein starker Grund und ein kräftiges Motiv für Bewegung und Veränderung, aber sie ist ebenso auf Strukturen aufgebaut und von diesen getragen.
Philosoph Möllers: „Freiheit ist immer auf institutionelle Verfestigung angewiesen. Freiräume müssen konstituiert werden, und das, was sie konstituiert, konstituiert Bindungen.“
Und Rechte korrespondieren mit Pflichten, nicht immer und in jedem Fall, aber ohne das Austarieren dieser beiden normativen Aspekte unseres Handelns geraten wir in eine Freiheitsschieflage, die dazu angetan ist, die Freiheit entgleisen zu lassen. Die "Freiheit" ist eingebettet in ein Gravitationsfeld der Gegenseitigkeit und der Ausbalancierung unserer Ansprüche.
Könnte es sein, dass wir uns entscheiden müssen, ob die Republik sich „in einen Archipel postmoderner Befindlichkeiten“ auflöst, wie der Journalist Nils Minkmar sich fragt, oder diese Republik ihre Bürger und Bürgerinnen darüber aufklären sollte, dass die Polis, der Staat, keinen Bedienungsladen darstellt, sondern substanzielle Engagements von uns verlangt?
Missverständnis drei: Ignoranz zum Ausgleich von "positiver" und "negativer" Freiheit
Für das dritte und letzte Missverständnis steht der Begriff des "Negativismus". Mit dem Namen des in Riga geborenen Philosophen Isaiah Berlin, der in Oxford lehrte, ist die berühmte Unterscheidung zwischen "negativer" und "positiver" Freiheit verbunden. Was ist mit dieser Gegenüberstellung gemeint? Die sogenannte "negative" Freiheit ist mit der folgenden Frage verknüpft:
„In welchem Bereich muss (oder soll) man das Subjekt – einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen – sein und tun lassen, wozu es imstande ist, ohne dass sich andere Menschen einmischen?“
Die "positive" Freiheit ist ganz und gar mit einer anderen Frage assoziiert, die da lautet:
„Von was oder von wem geht die Kontrolle oder Einmischung aus, die jemanden dazu bringen kann, dieses zu tun oder zu sein und nicht jenes andere?“
Isaiah Berlin schlägt sich eindeutig auf die Seite der "negativen" Freiheit, denn mit dem Gedanken einer "positiven" Freiheit, also einer solchen, die Menschen in die Richtung eines bestimmten Ziels zur Verwirklichung ihrer Anlagen oder Projekte lenkt, verbindet dieser Philosoph eine der Tendenz nach totalitäre Konsequenz. Wo unsere Bestrebungen auf das Gleis eines Gemeinschaftsunterfangens umgeleitet werden, sieht Berlin eine Freiheitssackgasse auftauchen. Ihm zufolge müssen deshalb zwei Grenzziehungen vorgenommen werden.

Mehr Gedanken zur Freiheit:

Es sei erforderlich, „dass es einen bestimmten persönlichen Freiraum geben müsse, der unter keinen Umständen verletzt werden dürfe“. Und daraus folge, „dass eine Grenze zwischen den Bereich des Privatlebens und dem der öffentlichen Gewalt gezogen werden muss.“
Vor allem radikal-liberale Strömungen – die sogenannten "Libertäre", die für ein Maximum an persönlicher Freiheit und für ein Minimum an öffentlichen Interventionen in allen Lebensbereichen plädieren – haben sich oft auf Isaiah Berlin berufen. Diese Radikal-Liberalen huldigen einem "Negativismus" der Freiheit, der es erlaubt, die eigenen Freiheitsräume maximal auszudehnen, sich am Ende aber kaum noch von dem Recht des Stärkeren unterscheidet.
Anders als diese Libertären war Isaiah Berlin jedoch nicht der Meinung, dass die "negative" Freiheit gleichsam schrankenlos sei. Auch wenn er manchmal und nicht ohne rhetorisches Geschick behauptete, diese beiden Freiheitsauffassungen seien „grundverschiedene, unvereinbare Einstellungen zu den Zielen des Lebens“.
Berlin war sich sehr wohl bewusst, dass in den konkreten Umständen persönlicher, aber auch ökonomischer und politischer Entscheidungsfindungen Wasser in den Freiheitswein geschüttet werden müsse. Es bleibe wahr, „dass bisweilen die Freiheit einiger beschränkt werden muss, um die Freiheit anderer zu sichern. Nach welchem Prinzip kann das geschehen? Wenn die Freiheit ein heiliger, unantastbarer Wert ist, kann es ein solches Prinzip nicht geben. Eines der widerstreitenden Prinzipien muss – jedenfalls in der Praxis – nachgeben. […] Ein praktischer Kompromiss muss gefunden werden.“
Dieses Gespür für Kompromisse und schwierige Abwägungen scheint in unserer Gegenwart zunehmend zu schwinden.
Um im Bilde zu bleiben: Es wird keinerlei Wasser in den Wein gegossen. Im Gegenteil. Aus dem Freiheitswein droht ein Freiheitswahn zu werden, der mit sinnentleerten Sprüchen geschmückt wird und sich in ein gefährliches "Fantasialand zivilen Ungehorsams" verirrt. Aber was ist mit uns geschehen? Wieso sind wir so schlecht disponiert, um in Krisenzeiten ein Mindestmaß an Redlichkeit und Besonnenheit walten zu lassen?

Was sind die Ursachen der "schalen Freiheit"?

Woher stammt diese offenkundige „Armut unserer Freiheit“, wie Axel Honneth sie so trefflich gekennzeichnet hat?
Die Ursachen dieser "schalen Freiheit" sind vielfältig. Es wären ökonomische, politische und soziale Gründe zu nennen. Wir konzentrieren uns auf einige wenige Aspekte psycho-sozialen Zuschnitts.
Die von Honneth apostrophierte „Armut unserer Freiheit“ ist vermutlich das Resultat einer langanhaltenden gesellschaftlichen Entwurzelung. Sie stellt das Ergebnis einer Loslösung aus sozialen Bindungen und Rücksichten dar.
Die Soziologin Eva Illouz spricht in diesem Zusammenhang von der „Auflösung der sozialen Form“. Dieser Erosion von Lebensweisen der Zugehörigkeit und der Solidarität kommen wir nicht näher, wenn wir sie ausschließlich in negativen Kategorien wie "Entfremdung" oder "Ausbeutung" interpretieren. Es sind ihr zufolge nicht zuletzt positive Kategorien, „die den imaginären Kern der kapitalistischen Subjektivität ausmachen, wie die Gebote, autonom und frei zu sein, seine verborgenen Potenziale auszuschöpfen, die eigene Lust, Gesundheit und Produktivität zu optimieren.“
Und es wäre nicht verkehrt, in diesem Zusammenhang von einer Großen Transformation zu sprechen.
Zu den Faktoren dieses Vorgangs zählt Verschiedenes, nicht zuletzt wären die Idealbilder zu nennen, die uns zur Orientierung dienen. Zu diesen Idealbildern zählt die Aufforderung, "starke Subjekte" zu werden, die ihrem eigenen Willen vertrauen und ihm zur Durchsetzung verhelfen. Freiheit wird dann zu einer Weise der Expansion, also der Ausbreitung und Ausdehnung des eigenen Wollens und Wünschens.
„Als unfrei“, schreibt Marianne Gronemeyer, „gilt doch derjenige, dem es verwehrt ist, seinen eigenen Willen zur Geltung zu bringen. Und frei ist, wer die Verhältnisse – die Dinge, Ereignisse und Menschen – so umdirigieren kann, dass sie sich seinem Willen fügen, seinen Vorstellungen entsprechen, seiner Einsicht und Vernunft genügen und seinem Verständnis zugänglich sind. […] Frei bin ich, wenn ich […] dem eigenen Wollen so viel Gewicht verleihe, dass es sich gegen anderes Wollen behaupten kann.“
Wenn wir diesem Ideal anhängen, um nicht zu sagen nachjagen, scheint es eine ausgemachte Sache zu sein, dass wir dazu maximale Freiheit benötigen, die ungebändigte Freiheit, die uns eigen ist, „von Natur aus“ eigen, wie wir mittlerweile wissen. Im Wettkampf um das Optimum des Selbst sollten uns andere keine Hindernisse in den Weg legen. Als Solitär in Freiheitsangelegenheiten sind wir ständig unterwegs. Es liegt an uns, wie wir uns in den privaten, beruflichen und sozialen Lebenssphären erfolgreich schlagen und behaupten. Aus diesen wettbewerblichen Kontexten werden wir nicht so schnell entlassen. Der Kampf hört erst nach unserem Ableben auf, "post mortem".
Vor diesem Hintergrund tut sich ein gewaltiges Paradox auf: Wir sind – freiheitsbeschwingt – stolz, dass es uns gelungen ist, individueller, liberaler und vielfältiger, also mit einem weiten Spektrum von Möglichkeiten leben zu dürfen. Aber bereits gegen Ende des letzten Jahrhunderts war deutlich geworden, dass das Leben in einer „Multioptionsgesellschaft“, wie Peter Gross sie damals charakterisierte, zwar mit einem Freiheitsversprechen operiert, aber mit wachsenden Zwängen einhergeht – mit Konsumzwängen.

Kultur des Ungesättigt-Seins

Das Prinzip dieser Kultur ist das der Sättigung. Diese beruht auf dem Empfinden, dass Genug nie genügt. Es gibt immer ein Zuwenig – auch an Freiheit.
Die genannte Optionsvielfalt lässt im Grunde das Gefühl des Ungesättigt-Seins entstehen. Womöglich hat man eine Option ausgelassen, ein Konsumgut verpasst, eine Chance verstreichen lassen, eine Gelegenheit nicht wahrgenommen. Die Berieselung durch die Botschaft, das Optimum sei noch längst nicht erreicht und es lockten weitere – optionsbedingte und noch intensivere – Erlebnisse, hat zwei schwerwiegende psycho-soziale Folgen. Erstens: Uns beschleicht das Gefühl, hinter unseren Möglichkeiten zurückzubleiben, nicht alles in die Waagschale zu werfen, den Standards nicht zu entsprechen.
Bereits vor mehr als drei Jahrzehnten hatte der US-amerikanische Soziologe Kenneth Gergen auf den Umstand hingewiesen, dass auf der Rückseite der fröhlichen Optimierungsrhetorik sich eine dunkle Atmosphäre ausbreite, nämlich das Gefühl im Defizit-Modus zu leben.
Es sei auffällig, in welchem Maße wir uns selbst mittlerweile mit Kategorien wie „unzulänglich“, „problematisch“ oder „unfähig“ beschreiben. Und dies sei gerade die Folge eines Gefühls der Übersättigung, eines überfüllten Gefäßes an Wahlmöglichkeiten und Handlungsoptionen.
Aber die obere Seite der Medaille – die helle Seite – hält uns auf Trab und die Ökonomie am Laufen, indem gewissermaßen ein künstliches Hungergefühl erzeugt wird. Auf der hellen Seite wird uns vorgespiegelt, wir seien geradezu „exzessiv frei“ und unser Hunger sei hier noch längst nicht gestillt. Auf der dunklen Seite beschleicht uns das zunehmend bange Gefühl, wir würden nicht mehr "können können". Wäre es denkbar, dass viele von uns jenes Hungergefühl mit "Freiheit" verwechseln? Wäre der Gedanke zu gewagt, dass wir zwischen Erlebnisvermehrung und Freiheitsvermehrung nicht mehr unterscheiden können?
Hat Byung-Chul Han nicht recht, wenn er beklagt, dass die Freiheit der Handlung herabgesunken sei zu einer bloßen Wahl- und Konsumfreiheit?
Gehen wir der Vorstellung aus dem Wege, die Strapazierung unserer Multioptionsmentalität, die umfassend mit Konsumversprechen gefüttert wird, sei der Grund eines bedrückenden Gefühls, ständig zu müssen? Und führt dieses Gefühl nicht zu dem Kurzschluss, es sei an Freiheit nicht genug vorhanden? Wird die Freiheitsvermehrung solchermaßen nicht ihrerseits zu einem Muss? Müssen wir immer mehr von dieser schalen Freiheit haben müssen?

Über die Freiheit wurden die Institutionen vergessen

Die Tiefenstruktur unserer Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten schwerwiegend verändert. Sie wurde von enormen Dynamiken erfasst – von Globalisierungsprozessen, von Medienrevolutionen, von einem neo-liberal motivierten Rückbau sozialstaatlicher Versorgungssysteme, aber auch vom Wegschmelzen einst dominanter religiöser und weltanschaulicher Lebensdeutungen. Mit dem Begriff der "Individualisierung" wird diese große Transformation häufig charakterisiert. In diesem Zusammenhang wurde kein Begriff so häufig zur Qualifizierung dieser Individualisierung bemüht wie – wir wissen es bereits – der Begriff der "Freiheit".
Es nimmt deshalb nicht wunder, dass es gerade die "individuelle Freiheit" ist, die in nahezu allen Auffassungen, was Freiheit sei, eine unangefochtene Spitzenposition eingenommen hat. Aber diese Auszeichnung ging mit einem Prozess wachsender Institutionenvergessenheit einher. Es sah so aus, als sei die Gesellschaft lediglich ein abstrakter Behälter, ein eher formaler Raum, in dem wir als Einzelne auf freiheitsverliebten Pfaden rast- und pausenlos unterwegs seien.
Dem präzisen systemanalytischen Blick des Historikers Rolf Peter Sieferle war dieses Vergessen des Institutionengeflechts bereits vor einem Vierteljahrhundert nicht entgangen.
Es werde „gerne übersehen“, so Sieferle, „dass diese spektakuläre Verselbstständigung der Individuen auf einer ganzen Reihe von Vorleistungen beruht, welche von Institutionen und Versorgungssystemen erbracht werden müssen. Die freie Beweglichkeit der Individuen setzt voraus, dass sie Verpflichtungen und Ansprüche aller Art delegieren und jederzeit damit rechnen können, dass diese Leistungen auch wieder abzurufen sind.“
Die Individuen in ihrem Freiheitsfrohlocken operieren mit dem Rücken zu jenen Institutionen, die ihre Beweglichkeit sowohl ermöglichen als auch im Notfall bereit stehen, die Reparaturen an möglichen Unglücken zu gewährleisten.

„Freie Fahrt für freie Bürger“ wäre mit "Querlenkern" nicht möglich

Man kommt nicht umhin, an dieser Stelle auf ein überaus triviales, aber illustrationsmächtiges Beispiel zurückzugreifen, das in seiner Konkretion eine erheblich aufklärerische Funktion haben dürfte. Wie in keinem anderen Land der Welt wird die individuelle Freiheit hierzulande mit dem Besitz eines Autos verbunden, mit der Devise „freie Fahrt für freie Bürger“. Diese „freie Fahrt“ mutet wie die Inkarnation von Freiheit schlechthin an. Diese individuelle Bewegungsfreiheit beruht aber auf einem gigantischen Regelwerk unterschiedlichster institutioneller Vorkehrungen, auf Verboten, Verpflichtungen und Einschränkungen. Die sogenannte „freie Fahrt“ ist demnach bloß ein Überbau-Phänomen, nichts weniger als das Resultat eines mobilitätsbezogenen Unterbaus, der aus Restriktionen und Grenzziehungen, also aus Mobilitätsfaktoren unfreien Zuschnitts besteht.
Auf den Punkt gebracht: Freiheitslizenzen sind immer auch – und zwar gleichzeitig – die Folge von Freiheitslimitationen. Sowie das sogenannte "Querdenken" mit seiner abstrusen Weigerung, sich an elementare Regeln des Denkens zu halten, in die Irre führt, so würde auch unsere Mobilität schnurstracks in die Katastrophe führen, wenn wir uns auf das "Querlenken" kaprizierten. Wir tun gut daran, die Richtung des Autoverkehrs auf den Schnellwegen dieser Republik nicht jeweils selbst bestimmen zu dürfen.
Der Sog einer falschen Freiheitssemantik, das Versprechen, freie Individuen sein zu können, wenn wir dies nur wollen und solange wir bereit sind, diese Freiheit zu verteidigen, verführt zu einer gefährlichen Institutionenvergessenheit. Die Freiheitsfurien, die uns zurzeit vielerorts begegnen, illustrieren diese Abkehr von dem komplexen Gefüge, das freiheitliches Handeln erst ermöglicht. Es sind darüber hinaus die zahllosen Anderen außer Sicht geraten, die erhebliche Vorleistungen erbringen, damit wir "frei" sein können. Wir sind in Unkenntnis des Sachverhalts geraten, dass unsere Freiheit auf Verbindlichkeiten und Rücksichten beruht, auf Kompromissen und Zusammenarbeit, also letztlich auf der Zivilisierung unserer Ansprüche. Es triumphiert das Prinzip des Isolationismus, es schwindet das der Kooperation. Schlimmer noch: Uns scheinen diese anderen gleichgültig geworden zu sein. Die Erschöpfung und Demoralisierung der Pflegekräfte und des medizinischen Personals lassen uns kalt. Deren Leiden sind schließlich nicht unsere Leiden, deren Klagen dürfen getrost und ungehört, also trostlos verhallen. In unseren Ohren klingen sie wie Schall und Rauch. Wo kämen wir hin, wenn wir auf die Idee verfielen, die anderen in unser Tun und Lassen, in unsere Freiheitsambitionen einzubeziehen?
Auf genau diese Idee sollten wir jedoch verfallen. Wir sollten uns daran erinnern, dass Freiheit ein Beziehungswort ist, eine Vokabel, die auf Einbindung, auf Rücksichtnahme, auf Zusammenarbeit hinweist. Sie liegt unseren Beziehungen nicht bereits zugrunde, sondern stellt deren Resultat dar, das Ergebnis von Kommunikation und Kooperation. Unsere Freiheit wird auch in Zukunft kommunikativ und kooperativ sein oder sie wird nicht sein. Und auch unsere Grundrechte, die durch die Verfassung verbrieft sind, müssen jeweils abgewogen werden und –umständehalber – in ein rechtes Verhältnis gerückt werden. Da gibt es keine Hierarchie, an deren Spitze unangefochten die individuelle Freiheit stünde. Am wichtigsten wäre vermutlich unsere Bereitschaft, unser Handeln und damit unsere Freiheitsansprüche immer wieder auf die Leiden der anderen zu beziehen, denn kein geringer Teil davon hat mit uns zu tun, mit unseren Freiheitsverlangen. Es wird auf die Kunst der Temperierung dieser Ansprüche, auf deren Zivilisierung in zukunftsdienlicher Absicht ankommen. Wir können nur gemeinsam frei sein.