Thomas Bissinger liest „Nilpferd“
Eine Lesung von den 49. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt
Nach Ralf Bönt, der 2009 den Kelag-Preis gewann, trat mit Thomas Bissiger ein weiterer promovierter Physiker beim Bachmann-Bewerb an (auf Einladung von Mara Delius). „Literarisches Erzählen und physikalisches Forschen beginnt oft im selben Keim: mit Neugier, Faszination, Es ist immer ein Versuch, möglichst lang im Unbekannten zu bleiben“, sagt Bissinger im Porträtvideo. Er las aus seinem großen „Ehrenfest“-Roman, der 2026 bei dtv erscheinen wird. Jacob Kloot und Galinka (Galja) Ehrenfest waren ein Paar, das während der deutschen Besatzung der Niederlande Kinderbücher und -spiele unter dem Namen „‚El Pintor'“ veröffentlichte. Kloot wurde 1943 verhaftet und im Vernichtungslager Sobibór ermordet. Ehrenfest aber, die zu diesem Zeitpunkt schwanger war, haben die Nazis freigelassen, nachdem sie ihren Peinigern eine erfundene Geschichte erzählt hatte: Fiktion als Lebensrettung. Eine Geschichte, die erneut mit Rissen spielt. „Die Wand hat Risse und Löcher. Galja zieht die Decke dicht. Die Zelle ist eng, ein Meter und das Stahlbett darin. Über ihr gehen die Moffen. Moffenschritte schneiden den Atem kurz. Soldaten an Schreibmaschinen, und immerzu Polter. Denkhitze in ihrem Schädel, Galja denkt: Jaap, Mama, alle. Hilft nicht, hilft nicht. Sie starrt auf die Risse. Namen wettern in ihrem Kopf. Nein. Nein. Sie legt sich die Hand auf den Bauch. Unter ihren Lungen ist’s ruhig.“ Bissinger zeigte hier in Klagenfurt einen Ausschnitt, einige Episoden, eröffnend 1938 am höchsten Berg der Niederlande (niedliche 332,4 Meter über NN), weiterführend in die Katastrophe: ins KZ Hertogenbosch 1943, nach Amsterdam 1943, da hat sich Ehrenfest bereits gerettet. Eine wissenschaftlich-akribische Annäherung an die Shoa, eine deutsche Erinnerung an die Besatzung der Niederlande (wie es in diesem Frühjahr auch Ralf Rothmann versucht hat - und daran gescheitert ist). „In diesem Text ist kein Wort am falschen Platz“, urteilt Tingler, Mara Delius pflichtet bei, Thomas Strässle lobt die engagierte Lesung, Laura de Weck die sehr eigene Sprache des Autors („Bissingerisch“). Zwei Bachmann-Favoriten gibt es zur Halbzeit: Natascha Gangl und Thomas Bissinger mit seinem „Nilpferd“-Text.
Thomas Bissinger, geboren 1989 in Leonberg (Baden-Württemberg), ist promovierter Physiker und lebt in Konstanz, wo er ein wenig Lyrik unterrichtet. Für sein Romanprojekt „Ehrenfest“ erhielt er den Retzhof-Preis für junge Literatur und war Stipendiat der Bayerischen Akademie des Schreibens und des lcb. Das Buch wird 2026 bei dtv erscheinen.