Der Stoff des Anstoßes: Homer, Gott, das Kopftuch und ich!
Von Dalila Zouaoui-Becker
An kaum einem Gegenstand entzünden sich bis heute Debatten um Migration und Integration, feministische Befreiung oder religiöse Unterwerfung stärker als am Kopftuch muslimischer Frauen. Darin zeigt sich - wie so oft - eine große Geschichtsvergessenheit.
In fast allen Ländern Europas beschäftigt heute das Kopftuch Regierungen und Parlamente, Medien und Gerichte. Verbote und Einschränkungen werden ernsthaft diskutiert oder verhängt. Im Namen westlicher Werte. Die derzeitige Fehde lässt fast vergessen, wie raum- und zeitübergreifend sich der Gegenstand des Streits in seiner Geschichte erwiesen hat. Fast vergessen, dass er bereits en vogue war im antiken Nahen Osten. Ob Polytheismus oder Monotheismus, alle „anständigen“ Frauen in diesen Breiten verließen ihre Häuser nicht ohne Kopfbedeckung. Und die künftige „Mutter Gottes“ bildete da keine Ausnahme. Aber schon in der Ilias und der Odyssee zierte ein Kopftuch sowohl Achäerinnen als auch Trojanerinnen, und auch die ewigen Göttinnen. Ja, Aphrodite, Athene, Kirke und Kalypso und auch Hera, Chefin der Göttinnen und Gattin des höchsten Gottes - alles Kopftuchträgerinnen.
Die Geschichte des Kopftuchs, seine Traditionen sind so vielfältig wie sein Design. Fest steht: Heute tragen in Frankreich, wie auch anderswo in Europa, die meisten Frauen das Kopftuch freiwillig. Ihre Kopfverhüllung beanspruchen sie als einen Akt der Freiheit. Sie tun es in einem mehrheitlich demokratischen Raum, wo Freiheiten und Menschenrechte garantiert sind. Und stellen damit Gesellschaften wie Institutionen vor eine große Herausforderung.
Dalila Zouaoui-Becker ist Übersetzerin und freie Autorin. Sie lebt in Köln und schreibt über Sprachen, Literatur und Religion(en),u.a.: „Homère l'Oriental“ im französischen Onlinemagazin „Orient XXI“ (2017). Außerdem Vorträge über Sprache, Literatur und Religion am romanischen Seminar der Universität Köln.